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Kapitel 3 1862–1864
ОглавлениеAm 23. September 1862 wurden im Schloss Babelsberg die Weichen für Preußens und Deutschlands Zukunft gestellt, an diesem Tage berief König Wilhelm I. Fürst Otto von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Mit schneidigen Kommentaren wie »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut« setzte Bismarck die Rechte des Parlaments außer Kraft und schaffte mit einer umfassenden Heeresreform die Voraussetzungen für die siegreichen Kriege gegen Dänemark (1863/64) und Österreich (1866). Damit war die Vorherrschaft Preußens in Deutschland gesichert, und es lief auf ein Kaiserreich mit Berlin als Hauptstadt hinaus. Alles deutete darauf hin, dass alsbald eine neue Zeit anbrechen würde. Bis hin nach Schlesien und Posen wurden die Menschen von innerer Unruhe erfasst.
Im Dorf mit dem schönen Namen Honig, nordwestlich von Medzibor an der Straße von Ostrowo nach Oels und Breslau gelegen, saß Luise Liebenthal aus Raschkow in der Küche des Bauern Gurkow und entsteinte Sauerkirschen. Zu diesem Zwecke hatte sie eine Haarnadel mit dünnem Draht an einem hölzernen Stiel befestigt und fuhr mit der stählernen Schlaufe ins Fruchtfleisch, um den Stein einzuklemmen und in eine bereitstehende Schüssel zu befördern. Die so von ihrem unnütz gewordenen Ballast befreite Kirsche kam in einen Kochtopf. Es spritzte gewaltig.
Heinrich, der älteste Sohn des Bauern, stand in der Tür und musterte sie mit einem Blick, den man nicht anders als begehrlich nennen konnte. Er lachte. »Du siehst ja aus, als hätte einer auf dich eingestochen.«
»Hör auf damit!« Sie versuchte, sich den blutroten Kirschsaft aus dem Gesicht zu wischen, aus der Schürze würde er wohl nie mehr herausgehen.
»Heute Abend ist Tanz im Krug.«
Luise machte eine abwehrende Bewegung. »Mir ist nicht so.«
»Du hast immer noch diesen Berthold Kempinski im Kopf.« Sie ging nicht darauf ein. »Mein Bruder kommt heute.«
»Dein Bruder?«
»Er will Abschied nehmen. Er geht nach Posen in die Kaserne, und es wird bald Krieg geben, das sagen ja alle.«
Im April 1862 hatte Moritz Kempinski in Breslau eine Großhandlung für ungarische Weine eröffnet, und im Mai besuchte Berthold zum ersten Mal seinen älteren Bruder. Die Idee dazu war ihm ganz spontan gekommen, als Professor Lagow erklärt hatte, seine morgige Stunde müsse wegen einer dringenden Reise nach Breslau leider ausfallen.
»Würden Sie mir wohl gestatten, mich Ihnen anzuschließen?«, hatte er gefragt.
Lagow hatte ihn etwas verwundert angesehen. »Kennen Sie denn meinen Vetter Friedrich, den wir zu Grabe tragen wollen?«
»Oh, mein herzliches Beileid. Nein, ich will nur sehen, ob und wie mein Bruder in Breslau Fuß gefasst hat.« Er erklärte dem Lehrer die Zusammenhänge.
»Nun denn, Kempinski, ich freue mich auf Ihre Gesellschaft. Wenn Sie Ihre nicht eben hervorragenden Lateinkenntnisse während der Reise ein wenig verbessern wollen, leiste ich Ihnen gern Hilfestellung.«
Da sich die Bahnstrecken Ostrowo–Kreuzburg und Kreuzburg–Breslau noch im Stadium der Planung befanden, mussten sie mit der Postkutsche vorliebnehmen. Das dauerte, denn betrug die Entfernung zwischen Ostrowo und Breslau in der Luftlinie schon an die achtzig Kilometer, so hatte man auf den vorhandenen Straßen eine wesentlich längere Strecke zurückzulegen. Es gab zwei mögliche Routen, die etwas kürzere über Medzibor und Oels und die andere über Krotoschin, Zduny, Freyhan, Militsch und Trebnitz, die etwas länger war, weil ein Bogen um die Bartsch und das Polnische Wasser und die sich südlich anschließenden Teiche und Sümpfe, aber auch die Trebnitzer Höhen und die Ausläufer des Katzengebirges zu machen war. Die aber mussten sie nehmen, weil Lagow in Krotoschin bei einem Kollegen etwas abzugeben hatte.
Die Fahrt ging über sandige Chausseen, die voller Schlaglöcher waren, und über holprige Kopfsteinstraßen und war mehr als mühselig. Schon nach einer Stunde fragte ihn der Lehrer, ob er wüsste, woher der Ausdruck »wie gerädert« käme.
»Ja«, antwortete Kempinski. »Im Mittelalter wurden die Verbrecher auf ein Wagenrad gebunden, damit man ihnen in dieser Lage besser die Knochen brechen konnte.«
»Richtig, und weil wir diesen Brauch nicht mehr haben, die Leute aber wissen sollen, wie man sich fühlt, wenn man auf ein Rad geflochten ist, lässt man sie in Postkutschen über Land reisen.«
Hinter Krotoschin überquerten sie die Grenze zwischen den Provinzen Posen und Schlesien, und Professor Lagow sagte, dass er erst jetzt das Gefühl habe, richtig in Deutschland zu sein.
»Zwar noch nicht in einem Reich aller deutschen Stämme mit einem Kaiser als Oberhaupt, aber wenigstens im Königreich Preußen. Posen ist mir zu polnisch.« Er hielt Kempinski nun einen längeren Vortrag über die Spannungen im Deutschen Bund und darüber, dass es in absehbarer Zeit zum entscheidenden Kampf zwischen Preußen und Österreich kommen würde. »Unser König wird sehr bald auch Deutscher Kaiser sein.« Wilhelm I. hatte am 2. Januar 1861 die Nachfolge seines geisteskranken Bruders Friedrich Wilhelm IV. angetreten.
Berthold Kempinski schwieg, denn er wusste nicht so recht, was er zu den Ausführungen seines Lehrers sagen sollte. Einerseits fühlte er sich voll und ganz als Deutscher, andererseits gehörte er aufgrund seiner Abstammung zum Volke Israel. Konnte man das unter einen Hut bringen? Im Alltag sicher, nicht aber, wenn man in letzter Konsequenz darüber nachdachte, dann zerriss es einen irgendwie. Also war es gescheiter, nicht darüber nachzudenken und einfach zu leben.
Als sie rechts die Höhen des Katzengebirges erblickten, fragte Lagow ihn, ob er wisse, was an Trebnitz Besonderes sei.
Kempinski überlegte einen Augenblick, er war ja im Fach Geographie kein schlechter Schüler. »Nein. Höchstens die Klosterkirche.«
»Ja, und wer ist dort zum Gottesdienst gegangen?«
»Sie?«
»Nein, Friedrich Wilhelm von Seydlitz, geboren 1721 in Kalkar, gestorben 1773 in Ohlau, neben Zieten der berühmteste Reitergeneral Friedrichs des Großen. Hat die Schlachten bei Roßbach und bei Zorndorf entschieden. Bei Zorndorf hat er den Befehl des Königs zum sofortigen Angriff nicht ausgeführt, obwohl der ihm angedroht hatte, bei einer Niederlage mit seinem Kopf dafür zu haften. Aber Seydlitz hielt den Befehl für falsch und griff erst an, nachdem er den Russen in die Flanke fallen konnte. Nur so war der Sieg möglich. 1743 kommt er als Rittmeister zu den Natzmer-Husaren hierher nach Trebnitz, zu den ›Lämmern‹, wie sie wegen ihrer weißen Pelze genannt werden. Ein Jahr später beginnt der Zweite Schlesische Krieg.« Er sah seinen Schüler an. »Interessiert dich das eigentlich?«
»Ja, schon«, antwortete Kempinski, wenn auch etwas gedehnt.
»Was möchten Sie denn einmal werden, wenn Sie die Schule abgeschlossen haben?«
»Was können Juden in Posen schon werden?«, lautete die Gegenfrage.
Lagow kam wieder auf seine Vorahnung zu sprechen, dass die Völker sich bald im Kampf um die Vorherrschaft in Europa auf den Schlachtfeldern zerfleischen würden. »Wie gesagt, es wird bald große Kriege geben, gegen Österreich, gegen Frankreich, und da wird man nicht mehr fragen, ob jemand Christ ist oder Jude, da wird jeder Deutsche gebraucht. Und Sie, Kempinski, könnten ein guter Arzt werden.«
»Mein Bruder sagt, dass manche Deutsche eher krepierten, als einen jüdischen Arzt zu rufen.«
Endlich erreichten sie die Vorstädte Breslaus. Berthold Kempinski hatte sich schon immer für die schlesische Metropole interessiert und sich einiges über Breslau angelesen. Dass hier im 4. und frühen 5. Jahrhundert nach Christus die Silinger gesiedelt hatten, ein Stamm der Vandalen. 990 war die Gegend um Breslau vom polnischen Piasten-Herzog Mieszko I. erobert worden. 1526 kamen dann die Habsburger nach Schlesien und blieben dort so lange, bis sie von den Preußen vertrieben wurden. Das war 1742. Ein Jahrhundert später hatte Breslau die Zahl von hunderttausend Einwohnern erreicht und blühte dank seiner Industriebetriebe immer stärker auf.
Die Postkutsche hielt auf dem Neumarkt, und ihre Wege trennten sich. Lagow eilte zur Beerdigung, Kempinski machte sich auf die Suche nach dem Geschäft seines Bruders, das sich in der Albrechtstraße 13 befand. Die begann am Ring, endete nach einem halben Kilometer an der Hauptpost und war eine Adresse, mit der man sich sehen lassen konnte. Er fragte nach dem Weg und erfuhr, dass er nur am Neptunbrunnen vorbeigehen musste. »Und dann geradeaus, eine der drei Straßen entlang, die nach Süden gehen, Richtung Stadtgraben.«
Das war nicht zu verfehlen, und fünf Minuten später war er dort. Ein wenig beklommen blieb er vor dem Schaufenster stehen und blickte zum stolzen Firmenschild empor. M. Kempinski & Co. – Gold auf Schwarz, und alles sehr schwungvoll, was gar nicht recht zum Naturell seines Bruders zu passen schien.
Dass beide Brüder waren, hätte niemand vermutet, der sie nebeneinanderstehen sah. Moritz war nicht nur acht Jahre älter als er, er war auch ein ganz anderer Typ Mensch. Später sollte einmal jemand sagen, Moritz Kempinski erinnere ihn irgendwie an Hindenburg, während Berthold eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Peter Lorre habe. Jedenfalls war das eine Gesicht streng und kantig, das andere rund und gemütlich. Seine braunen Knopfaugen machten ihn außerordentlich liebenswert, und manche bedauerten, dass er nicht als Komiker auf der Bühne stand.
Berthold Kempinski zögerte ein wenig, die Ladentür aufzuziehen und einzutreten. Er fühlte sich wie im Gymnasium, wenn er etwas ausgefressen hatte und zum Rektor musste, um seine Strafe in Empfang zu nehmen. Was würde Moritz heute an ihm auszusetzen haben? Dass seine Schuhe staubig waren, dass sein Haar nicht glatt genug gekämmt war? Der Bruder schien nur das eine Ziel zu haben: ihn zu seinem Ebenbild zu machen. Alle fragten, was er denn dagegen hätte, es könne ihm doch nur zum Vorteil gereichen, doch tief im Innern fühlte er, dass er in allem viel begabter war als Moritz und im großen Spiel des Lebens nur verlieren würde, wenn er sich dem anderen anpasste.
Schon verfluchte er sich, die Reise nach Breslau gemacht zu haben, und überlegte, ob er sich die Zeit bis zu ihrer Rückfahrt nach Ostrowo nicht lieber mit einem Rundgang durch die Breslauer Museen vertreiben sollte, als sein Bruder ihn entdeckte und zur Tür ging, um sie aufzuziehen.
»Na, traust du dich nicht rein?«
Berthold wollte die ernsthafte Antwort geben, die von ihm erwartet wurde, sah sich aber dazu, blockiert wie er war, auch nach einigen Sekunden des Nachdenkens völlig außerstande. »Doch, aber der Verkauf von alkoholischen Getränken an Jungen, die noch nicht majorenn sind, ist schließlich verboten, und ich möchte nicht von einem Schutzmann abgeführt werden.«
»Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht behelligst wirst«, erklärte ihm der Bruder.
Der Ernst, mit dem er dies tat, schien Berthold völlig überzogen, nicht einmal die Staatsmänner beim Wiener Kongress hatten eine solche Ernsthaftigkeit an den Tag gelegt. Moritz war nicht einmal dreißig Jahre alt, wie wichtigtuerisch würde er sich erst geben, wie griesgrämig würde er sein, wenn er seinen fünfzigsten Geburtstag feierte? Berthold dankte seinem Gott, dass er nicht so war wie Moritz. Aber Moritz war sein Bruder, und wie sagte Raphael Kempinski immer? »Man muss die Menschen so verbrauchen, wie sie sind.«
Moritz ließ ihn eintreten, begrüßte ihn mit einem geschäftsmäßigen Händedruck und führte ihn durch die Räume. Sein Stolz, es so weit gebracht zu haben, war ihm deutlich anzusehen.
Berthold gönnte ihm den Erfolg. Das fiel ihm umso leichter, als er von der Gewissheit erfüllt war, den Bruder in zwanzig Jahren gehörig übertrumpft zu haben. »Abgerechnet wird zum Schluss«, war eine der Lieblingswendungen ihres Vaters.
»Der Ungarwein ist eine Wissenschaft«, erklärte Moritz Kempinski und setzte, während sich sein Gehilfe um die Kunden kümmerte, zu einem längeren Vortrag an. »Ungarn hat eine sehr alte Weinbaukultur. Die Griechen brachten die Rebstöcke von Südosten her ins Land, die Donau und die Theiß aufwärts, die Römer kamen von Westen und bauten Wein in der Pannonischen Ebene an, bis hin zum Plattensee. Und obwohl Vandalen, Goten, Tartaren und Türken das Land besetzten und verwüsteten, wurde weiterhin Wein angebaut. Karl der Große war vom ›Awarenwein‹ hellauf begeistert. Die Türken verboten zwar das Weintrinken, ließen aber den Anbau weiterhin zu und nahmen Steuern dafür ein. Die Kirche des Mittelalters spielt die wichtigste Rolle bei der Verbreitung des Weines.«
»Nun …« Berthold lachte, erinnerte an die Mizwa des Weintrinkens im jüdischen Glauben und tat dann so, als würde er Hawdala über einen Becher Wein sprechen: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstocks.«
Moritz ging nicht auf den Einwurf seines Bruders ein. »Die geographische Breite Ungarns entspricht in etwa dem französischen Burgund, was aromatische Weißweine ergibt. Der viele Sonnenschein begünstigt aber auch die Herstellung von Rotwein.« Damit öffnete er die Tür zu den ausgedehnten Kellerräumen und stieg die Stufen hinunter. »Die Flaschen sind nach Anbaugebieten geordnet. Hier haben wir Àszàr-Neszmély, dahinter Balatonfüred-Csopak, gegenüber Mecsekalja und Szekszàrd.«
»Und Essbesteck?«, murmelte Berthold nach einer Weile.
»Nie gehört.« Moritz Kempinski stutzte und schien über seine Wissenslücke erschüttert zu sein. »Wo soll denn das liegen?«
»Na, auf dem Tisch.« Das Lachen verging ihm, als er den bösen Blick seines Bruders bemerkte, und er wollte einlenken. »Entschuldige, aber Essbesteck ist das einzige ungarische Wort, das ich behalten habe, als Vater neulich Besuch aus Eger hatte.«
Dieser kleine Scherz machte die Sache noch schlimmer, und wortlos stieg sein Bruder die Treppen hinauf. Oben im Laden gab es aber nur weiteren Ärger für ihn, denn dort stand der Notar Louis Leichholz und beschwerte sich, dass man ihm die längst bezahlten sechs Flaschen Tokajer noch immer nicht geliefert habe.
Moritz Kempinski entschuldigte sich mit einer knappen, aber zackigen Verbeugung. »Ich bitte vielmals um Pardon und werde auf der Stelle meinen Bruder losschicken.«
Berthold zuckte zusammen. Es war eine Gemeinheit, ihn hier als Diener zu missbrauchen. Andererseits konnte er sich diesem Befehl nicht widersetzen, ohne den Bruder noch weiter zu erzürnen. So nickte er, ließ sich vom Gehilfen den Korb mit den Flaschen in die Hand drücken und setzte sich in Marsch.
»Du weißt ja gar nicht, wo Herr Leichholz wohnt«, rief ihm Moritz hinterher.
Berthold blieb kurz stehen. »Nu, wo soll er wohnen bei seinem Namen: am Friedhof natürlich.«
»Weidenstraße 11!«, kam es donnernd.
Berthold erkundigte sich bei einem Schutzmann nach dem Weg und trabte los. Ring, Ohlauer Straße, Christophorusplatz … Weit war es nicht, aber sechs Flaschen Wein wogen eine ganze Menge. So erreichte er sein Ziel ziemlich echauffiert und fluchte leise vor sich hin, weil niemand öffnete, so heftig er auch am Klingelzug riss. In der Anwaltskanzlei schienen alle schwerhörig zu sein. Oder aber sie waren allesamt aus dem Haus, um ihr Mittagessen einzunehmen. Berthold hatte keine Lust, seine Last wieder zurück zu seinem Bruder zu schleppen, aber wo sollte er sie deponieren? Stellte er den Korb in den Hauseingang, hatten sich bald Liebhaber edlen Rotweins gefunden, die einen kleinen Diebstahl für durchaus legitim hielten. Also wartete er. Vielleicht kam irgendwann ein Mitbewohner nach Hause, der so vertrauensvoll aussah, dass man den Wein bei ihm deponieren konnte. Es kam aber niemand, und Berthold Kempinski verfluchte langsam seine Idee, mit Professor Lagow für einen Tag nach Breslau zu fahren.
Nach etwa zehn Minuten drängte sich ein junger Mann an ihm vorbei, vielleicht fünf Jahre älter als er, ein Student ganz offensichtlich, und zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche.
»Entschuldigung, wohnen Sie hier?«, fragte Berthold Kempinski.
»Nein.«
»Dann …« Berthold Kempinski warf einen Blick auf das Schlüsselbund.
»Nein, ich bin kein Einbrecher.« Er schloss die Augen, und es dauerte einen Augenblick, bis er seinen Text vollkommen zusammen hatte. »Das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben, ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden.«
»Ist das von Ihnen?«
»Nein, von Kant. Ich studiere nämlich Philosophie.«
Berthold Kempinski konnte beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen Kant und dem Öffnen der Haustür in der Weidenstraße 11 erkennen. Also schlug er den spöttischen Ton an, den er so sehr mochte. »Ah, und das hier sind die Schlüssel zum Verständnis von Kant, Hegel und Nietzsche?«
»Ja, ohne sie wäre ich verloren, denn nur ihr Gebrauch sichert mir die Alimentierung durch meinen Vater. Er ist nämlich Anwalt und Notar, und ich muss für ihn vieles in der Juristischen Fakultät nachschauen. Wenn ich ihm die Ergebnisse meiner Recherchen abliefere, gibt es immer wieder einen neuen Scheck.«
Berthold lächelte. »Dann sind Sie also der Herr Leichholz junior.«
»Und Sie der Bote des Weinhändlers Kempinski.«
»Ja und nein.«
Leichholz lachte. »Das ist ja wie eine Kasche. Lassen Sie mich überlegen. Das Ja heißt, dass der Rotwein hier tatsächlich von M. Kempinski geliefert wird, das Nein aber beinhaltet die Aussage, dass Sie kein Bote sind. Was dann? Weniger als ein Laufbursche? Nein, so sehen Sie nicht aus. Also muss es mehr sein. Sollten Sie Kempinskis Sohn sein? Nein, dann müsste er schon im Alter von weniger als zehn Jahren Vater geworden sein. Also ein Neffe? Möglich, aber wegen des geringen Altersunterschiedes eher unwahrscheinlich. Also ein Bruder. Aber wo ist da die Ähnlichkeit?«
»Die gibt es nicht, da muss ich Ihnen beipflichten. Aber es gibt ja auch Brüderpaare, die keine Zwillinge sind.«
»Damit gestehen Sie also, Moritz Kempinskis jüngerer Bruder zu sein?«
»Ja, gestatten: Berthold Kempinski, Gymnasiast aus Raschkow beziehungsweise Ostrowo.«
»Angenehm. Leopold Leichholz, Student der Philosophie aus Breslau.«
Damit begann eine Freundschaft, die erst enden sollte, als ihr gemeinsamer Gott einen von ihnen heimgeholt hatte in die Ewigkeit.
Überall in Europa rumorte es. Im Juni 1862 ernannte Zar Alexander II. seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zum Statthalter in Kongresspolen, das formal noch immer als Königreich bestand. Als er befahl, polnische Männer für die russische Armee zu rekrutieren, brach im Januar 1863 der Aufstand los. Nicht nur Adlige stellten die Führer, auch Bürgerliche mischten kräftig mit. Eine »Provisorische Nationalregierung« rief das ganze Volk, »das gestern Büßer und Rächer war und morgen Held und Riese sein wird«, zum Widerstand auf. In den Wäldern versammelten sich kleine Trupps, und unter der Führung von Langiewicz begann ein Guerillakrieg gegen die Russen. Etliche ihrer Garnisonen wurden im Handstreich genommen.
Dies war der Stand der Dinge, als Witold Klodzinski zu Berthold Kempinski in die Stube stürmte, die er von der Witwe Jastrau gemietet hatte.
»Du, ich habe gehört, dass Ludwik Mierosławski nach Polen kommen wird und sie ihn zum Anführer ausrufen wollen!«
Berthold Kempinski sah den Freund verständnislos an. »Wer ist Ludwik Mierosławski?«
»Was, du kennst ihn nicht!« Vorwurfsvoll, fast böse hatte Klodzinski das ausgerufen. »Wo Mierosławski sogar 1848 bei der Märzrevolution dabei gewesen ist.«
»Entschuldige, da war ich gerade fünf Jahre alt.«
Witold klärte ihn auf. Geboren worden war Ludwik Mierosławski 1814 in Frankreich als Sohn einer Französin und eines emigrierten polnischen Offiziers. Seit 1820 lebte er in Kongresspolen und war schon 1830, gerade sechzehn Jahre alt geworden, als Fähnrich am Novemberaufstand gegen Russland beteiligt. Nach dessen Niederwerfung flüchtete er nach Paris, um dort später ins Zentralkomitee der polnischen Emigranten gewählt zu werden. 1846 und erst recht im April und Mai 1848 kämpfte er in der Stadt Posen und an verschiedenen anderen Orten, so vor allem in Baden als General und Oberbefehlshaber der dortigen Revolutionsarmee gegen die preußischen Truppen. Nach dem Fall der Festung Rastatt im Juli 1849 ging er in die Schweiz und von dort weiter nach Paris, wo er als Privatlehrer arbeitete. Bis ihn 1861 Giuseppe Garibaldi rief und im Unabhängigkeitskampf der Italiener den Oberbefehl über eine internationale Legion anvertraute. Danach war er Kommandeur der polnischen Militärschule in Genua geworden.
Mit dem Satz »Man nennt ihn den polnischen Napoleon« schloss Witold Klodzinski seine Ausführungen. »Und nun ist er zurück, um sein Vaterland von den Russen zu befreien, und ich werde morgen früh losziehen und mich seinen Truppen anschließen.«
Berthold Kempinski schwieg. Er war zutiefst beeindruckt vom Feuer, das in Witold loderte. Dagegen war geradezu läppisch, was ihn bisher bewegt hatte: Luise Liebenthal zu besitzen oder genügend Geld zu haben, um die Weinhandlung seines Bruders aufzukaufen und sich an dessen Stelle zu setzen.
Witold Klodzinski begann die polnische Nationalhymne zu singen. »Jeszcze Polska nie zginela … Noch ist Polen nicht verloren,/In uns lebt sein Glück./Was an Obmacht ging verloren,/bringt das Schwert zurück.«
Berthold Kempinski war an sich jedes Pathos zuwider, und normalerweise hätte er das Gesicht verzogen, aber bei dem Freund war das alles derart echt, dass er es nicht wagte. Außerdem war er in hohem Maße ergriffen. Er begann, Witold um dessen Patriotismus zu beneiden. Das war etwas, an dem man sich festhalten konnte. Einen solchen Anker für seine Seele hatte er nicht. Als echter Deutscher konnte er sich nicht fühlen, zu diskriminiert waren die Juden in Preußen noch immer, und seine Distanz zum Judentum war zu groß, da kam wenig von innen. Wie glücklich musste einer wie Witold sein, der keine Sekunde zögerte, sein Leben für das Glück seines Volkes herzugeben.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragte der Freund und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Warum eigentlich nicht? Was hab ich groß zu verlieren …«
Raphael Kempinski kam aus dem Krankenzimmer, nachdem er seiner Frau eine Hühnersuppe gebracht hatte, der man nachsagte, dass sie Kraft gab. Sie siechte immer schneller dahin. Dr. Dramburger wusste keinen Namen für ihre Krankheit. Bis jetzt hatte Raphael Kempinski das Leben gemeistert, indem er immer und überall seinen Humor einsetzte. Starb aber das Liebste, was er hatte, unter so entsetzlichen Leiden, dann half ihm auch der nicht mehr. Blieb ihm nur, sich in die Arbeit zu flüchten. So stieg er in sein Kontor hinab und machte sich daran, seine Geschäftsbücher durchzugehen und nachzutragen, was noch auf dem Schreibpult lag.
Er hatte gerade eine halbe Stunde über allem gebrütet, da wurde kräftig gegen die Haustür geklopft. So früh schon der erste Kunde? Das konnte nicht sein. Er stand auf und trat in die Diele. Seit in Posen und im angrenzenden Schlesien immer wieder Menschen spurlos verschwanden, war er vorsichtig geworden und fragte erst, wer da wohl sei.
»Ein Bote aus Ostrowo, von Professor Lagow.«
Raphael Kempinski fühlte, wie sein Herz aussetzte. »Ist was mit Berthold?«
»Ja, er ist weg, nach Kongresspolen rüber, und will zu den Aufständischen.«
»Mein Gott!« Raphael Kempinski musste sich festhalten, sonst wäre er nach vorn gestürzt. Es dauerte Sekunden, bis der Schwindel vorüber war und er dem Jungen aus Ostrowo öffnen konnte. »Komm rein und erzähl mal, was passiert ist.«
Der Junge trat ein, nahm die Mütze ab und erstattete Bericht. »Die Witwe Jastrau wacht auf und macht Frühstück. Sie ruft nach Berthold. Keine Antwort. Sie sieht in seiner Stube nach – das Bett ist leer. Da erinnert sie sich, dass der Pole, der am Abend da war, sein Freund Witold Klod … Klod …«
»Lass, nur weiter!«
»Der wollte also zu den Soldaten rüber, zu den Polen, und gegen die Russen kämpfen, und da ist der Berthold nun mit.«
»Man muss ihn aufhalten!«, schrie Raphael Kempinski.
»Ja, das sagt der Professor Lagow auch, und er ist mit dem Herrn Rabbiner Ungar zusammen hinterher … Sie haben sich eine Kutsche gemietet und sind ab nach Kalisch.«
»Ich muss ihnen nach!«
Raphael Kempinski entlohnte den Boten, informierte dann den inzwischen eingetroffenen Kommis und lief zur Apotheke. Sein Freund Eduard Schlüsselfeld verfügte über Pferd und Wagen. Als er hörte, was vorgefallen war, ließ er hurtig anspannen.
»Du hast recht, Raphael, wenn wir ihn nicht abfangen, kriegst du ihn nur im Sarg zurück. Die Russen sind auf Dauer derart in der Übermacht, dass die Polen keine Chance haben und die Aufständischen allesamt massakriert werden. Der Bär zerfleischt die Schafe, wie immer.«
»Wie konnte das nur angehen?«, rief Raphael Kempinski, während er sich auf den Kutschbock schwang. »Berthold ist doch ein viel zu heiterer Mensch, als dass er auf andere schießt.«
»Der Freund ist ein Eiferer, ein Feuerkopf, ein kleiner Savonarola, der wird ihn mitgerissen haben.«
»Mitgegangen, mitgehangen.« Raphael Kempinski hatte das Erschießungskommando vor Augen. Wie man die Gewehre auf seinen Sohn anlegte. Feuer!
»Wenn die beiden zu Fuß sind, werden wir auf alle Fälle vor ihnen an der Grenze sein«, sagte Schlüsselfeld. Nach Kalisch waren es auf direktem Wege knapp dreißig Kilometer.
Raphael Kempinski überlegte trotz aller Hetze und Panik einen Augenblick lang, wie wohl optimal vorzugehen war. »Wir sollten bei Droszew abbiegen und nach Skalmierzyce fahren, das liegt auf ihrem Weg von Ostrow nach Kalisch, und da stoßen wir schon auf sie, bevor sie in der Nähe der Grenze angekommen sind.«
Der Apotheker nickte. »Gut. Also über Drosenau und Skalmierschütz Richtung Russisch-Polen.« Mit Absicht wählte er die deutschen Namen der genannten Orte.
Raphael Kempinski konnte es nicht schnell genug gehen, und er verfluchte die Behörden, die es noch immer nicht geschafft hatten, die Städte im Dreieck Posen–Breslau–Kalisch mit Eisenbahnen zu verbinden.
Schlüsselfeld nickte. »Recht hast du! Hüh! Mach hinne, du dösiger Krippensetzer!« Sein Brauner lief ihm nicht schnell genug. »Wenn man Posen germanisieren will, muss bei uns alles besser sein als anderswo. Und wehe uns, wenn die Polen den Zaren besiegen und einen der Ihren zum König machen, dann wird man in Warschau nichts weiter im Kopf haben, als Preußen Posen wieder zu entreißen – und womöglich Schlesien dazu.«
»Mir kann es egal sein, was in zwanzig Jahren sein wird, da deckt mich schon längst der kühle Rasen.«
»Da freust du dich wohl drauf?«, fragte Schlüsselfeld.
»Du hast mehr vom Leben, wenn du dich darauf freust, von Gott heimgeholt zu werden in die Ewigkeit.«
»Wenn schon, dann möchte ich als Deutscher sterben und in deutscher Erde begraben werden.«
»Ist das hier deutsche Erde?«, fragte Raphael Kempinski, während sie, wenn die Chausseebäume einmal etwas lichter standen, in der Ferne schon den Kirchturm von Szczuny sahen.
»Ja, das hier ist deutsche Erde, und ich fürchte ein wenig um unsere Freundschaft, wenn sich dein Berthold wirklich den polnischen Banden anschließt. Erst werden sie gegen Russland kämpfen, dann gegen die Preußen – bis sie endlich ihr Großpolen wiederhaben.«
»Das ist nun mal so«, sagte Raphael Kempinski. »Nur schade, dass sie bei ihrer Siegesfeier Wodka trinken werden und keinen Wein. Man müsste sich rechtzeitig umstellen.«
So stritten sie munter weiter, bis sie nach anderthalb Stunden Skalmierschütz erreichten. Es war ziemlich heiß, das Pferd musste unbedingt getränkt werden, und auch sie lechzten nach einem kühlen Trunk.
Dennoch war Raphael Kempinski von dieser Rast nicht eben begeistert. »Was wir dadurch an Zeit verlieren! Ist Berthold erst einmal über die Grenze, dann kann ich ihn abschreiben.«
»Hör auf zu jammern!«
Raphael Kempinski besann sich. »Du hast recht: Ich habe ja noch immer Moritz, von den anderen Kindern ganz zu schweigen.«
»Deinen Humor möchte ich haben.«
Nach kurzer Suche fanden sie einen Gasthof, in dem ein Knecht bereitstand, um sich um das Pferd zu kümmern. Sie überließen es ihm und traten in die Gaststube, die niedrig war und dunkel dazu. So kam es, dass Raphael Kempinski den jungen Mann hinten in der Ecke erst entdeckte, als sie sich niedersetzen wollten.
»Berthold!«, schrie er.
»Vater! Was machst du denn hier?«
»Ich will dich daran hindern, dich den Polen anzuschließen.«
Der Sohn lachte. »Da kämest du zu spät, das hätte ich schon längst tun können. Ich wollte aber Witold nur bis zur Grenze begleiten und dort Abschied von ihm nehmen. Das habe ich auch – und nun bin ich wieder auf dem Rückweg nach Ostrowo.«
Raphael Kempinski umarmte ihn.
»Du solltest den Jungen was Vernünftiges machen lassen«, sagte Schlüsselfeld. »Seit er nicht mehr in die Schule gehen will, lungert er nur noch herum und kommt auf dumme Gedanken. Bei seinen guten Noten hätte er doch überall studieren können, jeder Professor wäre froh über ihn gewesen.«
Berthold Kempinski starrte auf seine Fingernägel. »Ich weiß aber partout nicht, was ich machen möchte.«
»Warum gehst du nicht nach Breslau zu deinem Bruder ins Geschäft? Breslau ist ein gutes Sprungbrett nach Berlin.« Schlüsselfeld wusste, dass er seinem Freund Raphael ab und an auf die Sprünge helfen musste, denn der hätte den Jungen nie aus eigenem Antrieb an die Kandare genommen, weil er meinte, alles müsse von innen heraus kommen und zwang man einem anderen seinen Willen auf, dann ging das immer schief.
»Ich will nicht zu Moritz!« Fast hätte Berthold Kempinski mit dem Fuß auf den Boden gestampft.
»Du gehst!«, beschied der Vater, der sich genötigt sah, angesichts des kritischen Freundes einmal Härte zu zeigen. »Auch wenn es nur für kurze Zeit ist, um einmal hineinzuschnuppern.«
»Nein.«
Schlüsselfeld wollte vermitteln. »Dann schick ihn in die Lehre, Raphael, ich habe da einen Vetter in Kreuzburg, bei dem kann er den Beruf des Kaufmanns erlernen, und dann erst tritt er bei Moritz ins Geschäft ein.«
Leopold Leichholz ließ es sich nicht nehmen, Berthold Kempinski sein Breslau zu zeigen, und er wurde richtig poetisch dabei. »Breslau ist die größte und kostbarste Perle am schimmernden Bande der Oder«, rief er aus, als sie über die Universitätsbrücke schritten, die Insel Bürgerwerder, die geformt war wie ein menschlicher Magen, mit ihren Kasernen zur Linken und der Vorderbleiche zur Rechten. »Wie eine Geliebte umschlingt sie der Strom. Breslau, alte Patrizierstadt und Zentrum von Wissenschaft und humanistischer Bildung. Ich sage nur Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag und allein die Philosophen: Christian von Wolff, ein Vorläufer Kants, Christian Garve, ein Kämpfer gegen den Kant’schen Kritizismus, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher … Darum blieb mir nichts anderes übrig, als Philosophie zu studieren.«
Berthold Kempinski schaute ihn an. »Die Wahrheit findest du allerdings nicht im Hörsaal, sondern nur bei uns.«
»Wie das?«
»Nun: Im Wein liegt Wahrheit, und der Wein ist ein Spiegel der Menschen.«
Leichholz lachte. »Ja, die schläs’sche G’mittlichkeit. Mein Vater hat jeden Sonntag im Dorfkretscham gesessen und seinen Grünberger getrunken, so sauer der auch gewesen sein mag. Und wie hat unser großer schlesischer Dichter gereimt …«
»Der Angelus Silesius?«
»Nein, der August Kopisch.« Er musste einen Augenblick nachdenken, bis er darauf kam. »Auf Schlesiens Bergen, da wächst ein Wein,/der braucht nicht Hitze, nicht Sonnenschein./Ob’s Jahr schlecht, ob’s Jahr gut,/da trinkt man fröhlich der Trauben Blut.«
Berthold Kempinski erinnerte sich wieder. »Der Dichter trifft nun den Teufel und wettet mit ihm, dass er ihn unter den Tisch trinken kann.«
»Ja, und schließlich lallt der Teufel: Hör’, Kamerad,/beim Fegefeuer! Jetzt hab ich’s satt/Ich trank wohl vor hundert Jahren in Prag/mit den Studenten Nacht und Tag,/doch mehr zu trinken solch sauern Wein,/müsst’ ich ein geborener Schlesier sein!«
»Was wir nicht sind«, sagte Berthold Kempinski, »sondern geborene Posener, und darum hat M. Kempinski auch das Recht, seine Weine aus Ungarn zu beziehen.«
Leopold Leichholz schlug ihm auf die Schulter. »Es sei euch gedankt!«
Sie durchschritten die engen Straßen der Oder- und der Sandvorstadt und kamen über den Gneisenauplatz zur Kreuzkirche, deren spitzer Turm Leichholz spotten ließ, hier habe sich der Baumeister in der Religion geirrt und aus Versehen ein Minarett errichtet. Nicht weit entfernt lag der Dom mit seinen beiden Renaissance-Türmen und der dreischiffigen Basilika, an die mehrere Kapellen angebaut waren.
»Willst du in den Chor rein?«, fragte Leichholz.
»Nein, dazu singe ich zu schlecht.«
»Mensch, ins Kirchenschiff, den Hohen Chor zu St. Johannes.«
Berthold zeigte sich vom Breslauer Dom durchaus beeindruckt, obwohl er nicht so recht verstand, was der Freund damit meinte, wenn er sagte, der Fürstbischof Friedrich von Hessen habe im 17. Jahrhundert die gotische Ausstattung systematisch barockisieren lassen. Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los, seit er neulich geträumt hatte, Habel in Berlin hätte ihn adoptiert. »Was könnte man hier für ein herrliches Restaurant eröffnen!«, rief er.
Leichholz lachte. »Keine schlechte Idee. Der Wein ist ja schon hier – der Messwein fürs Abendmahl. Aber ob sie ihn dir als Juden so ohne weiteres überlassen würden?«
Berthold Kempinski winkte ab. »Du weißt, ich hab mich nie so recht als Jude gefühlt.«
»Dessen ungeachtet bist du einer. Und wenn es mal Ausschreitungen gegen Juden gibt …«
»In Preußen gibt es keine«, beschied ihn Berthold Kempinski. »Und wenn ich einmal ein Restaurant aufmache, dann nenne ich es bestimmt nicht Beth ha-Mikdasch.«
»Immerhin kennst du den Tempel in Jerusalem.«
»Manchmal kann es ja auch ganz nützlich sein, einen Glauben zu haben«, sagte Berthold Kempinski und dachte an seinen Freund Witold, der nun schon die ersten Gefechte hinter sich hatte. »An irgendetwas muss sich der Mensch schließlich festhalten. Und man lernt am Schabbat Leute kennen, die einem später etwas abkaufen.«
»Sehr gläubig bist du wirklich nicht.«
»Wenn alle Völker auf der Welt einen Gott hätten und anbeten würden, wäre ich ja noch zu überzeugen, dass es ihn wirklich gibt, aber so … Alle haben einen anderen und behaupten, er wäre der einzig wahre. Da kann doch etwas nicht stimmen!«
»Das erinnert mich an mein zweites Semester.« Leopold Leichholz kratzte sich den Hinterkopf. »Da gibt es einen Philosophen aus Landshut, den Ludwig Feuerbach, der behauptet, dass nicht Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe, sondern vielmehr umgekehrt der Mensch die Götter nach seinem eigenen Ebenbilde schaffe.«
Berthold Kempinski schloss ihren Dialog mit dem Satz, dass er nur an eines hundertprozentig glaube. »Dass nämlich ein Kilo Rindfleisch eine wunderschöne Brühe ergibt.«
Dennoch ging er mit Leichholz am Freitagabend in die Storch-Synagoge in der Wallstraße 7/9, die von keinem Geringerem als Carl Ferdinand Langhans erbaut worden war. Hier trafen sich die liberalen Breslauer Juden. Es wurde aber darüber geredet, eine neue und viel größere Synagoge zu bauen und diese hier den Orthodoxen zu überlassen.
»Mir ist das alles egal«, sagte Berthold Kempinski.
Leichholz sah ihn prüfend an. »Sag bloß, du willst konvertieren?«
»Paris ist eine Messe wert, heißt es ja, aber ich bin zu bequem dazu. Außerdem scheinen mir die Grabreden bei den Juden besser zu sein als bei den Christen.«
»Daran zu denken ist doch ein bisschen früh, oder?«
Berthold Kempinski lachte. »Recht hast du. Und vielleicht werde ich einmal unsterblich, dann ist das Ganze sowie kein Problem mehr.«
Krojanke hatte zu Hause in Obersitzko eine Liste mit über zwanzig potentiellen Opfern versteckt, darunter auch Berthold Kempinski. Die wollte er sich noch holen, bevor er zu alt dafür war, mit Pferd und Wagen durch die Lande zu ziehen und im Zelt zu schlafen. Da er alles tat, um als gutmütiger und hilfsbereiter Mensch zu erscheinen, und zusätzlich das hatte, was seine Mitmenschen als »ein liebes Gesicht« bezeichneten, war er noch immer unentdeckt geblieben. Dass er keine Frau hatte, erregte keinen Verdacht. Alle wussten, dass ihm seine heißgeliebte Johanna schon in jungen Jahren weggestorben war und er damals geschworen hatte, nie wieder eine andere anzurühren. Die Leute also ließen ihn in Ruhe, und die Mittel der Polizei waren in jenen Jahren so beschränkt, dass er auch von dieser Seite nichts zu befürchten hatte. Wer nicht in flagranti ertappt wurde, der konnte über Jahrzehnte hinweg andere abschlachten, ohne dass man seiner habhaft wurde.
Nach Breslau kam Krojanke nur selten, denn hier war nicht allzu viel zu verdienen, weil es zu viele Geschäfte gab, die wie er Scheren, Messer, Sägen, Feilen, Äxte und Beile an den Mann bringen wollten. So stand er auch heute wieder ziemlich gelangweilt an seinem Stand, als es ihn traf wie ein Stich in die Brust: Lief doch da Berthold Kempinski aus Raschkow über den Platz. »Den muss ich mir noch holen«, flüsterte er. »Diesmal wirst du mir nicht entgehen.«
Einmal hatte er ihn schon in der Falle gehabt. Damals auf der Chaussee zwischen Ostrowo und Raschkow, als er ihn aufgelesen und neben sich auf dem Kutschbock platziert hatte. Bei der ersten Rast hätte er ihn erschlagen und unter einer Plane verborgen nach Obersitzko gebracht. Da war ihm ein Rad gebrochen, und Kempinski hatte es vorgezogen, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.
So arm die Menschen in den preußischen Provinzen auch waren, überall gab es Honoratioren und Genießer, die gute Weine zu schätzen wussten und froh waren, dass sie nicht meilenweit reisen mussten, um diese käuflich zu erwerben, sondern sie ohne großen Aufpreis ins Haus geliefert bekamen. Gutsbesitzer und Landpfarrer vor allem. Moritz Kempinski hatte das schnell begriffen und seinen Radius ganz erheblich erweitert, seit er seinen Bruder ausschicken konnte.
Berthold Kempinski fand es nicht gerade berauschend, als fliegender Weinhändler zweispännig durchs Land zu zuckeln, aber da er die Kunst beherrschte, das Beste aus allem zu machen, litt er auch nicht übermäßig. Es gab Schlimmeres auf der Welt, und »Hoch auf dem gelben Wagen« zu singen, während es durch wogende Kornfelder ging, war ja auch nicht ohne. Er liebte die Kornblumen am Wege und mehr noch den roten Mohn, und ab und an fand sich in den Dörfern auch ein Mädchen, das auf einen Prinzen wartete. Sah er zu den weißen Wolken hinauf, dann fand er, dass er dahintrieb wie sie. Irgendwie wusste er, dass das eigentliche Leben noch kam und diese Zeit nur so leer war, damit er sich nicht zu früh verbrauchte. Wer warten konnte, zu dem kam alles. Wenn es irgendwie ging, nahm er den Weg nach Nordosten, nach Ostrowo und Raschkow, um zugleich die Eltern und die Geschwister, aber auch die alten Freunde zu besuchen.
In Medzibor traf er Ludwig Liebenthal, der dort im ersten Hotel am Platze als Hausknecht arbeitete. Die Wiedersehensfreude war groß.
»Wie geht’s denn Luise?« Das war eine der ersten Fragen, die Berthold Kempinski stellte.
»Du wirst lachen, sie lebt gar nicht weit von hier als Magd in Honig. Gleich hier hinter Medzibor Richtung Krotoschin.«
»Na, da muss ich morgen mal hin.«
»Mach das. Ich glaube, sie liebt dich noch immer.«
Berthold Kempinski fühlte, dass er rot wurde. In einsamen Nächten hatte er sich oft genug vorgestellt, mit Luise ins Heu zu gehen. Und nun stellte sich heraus, dass auch sie ihn nicht vergessen hatte. Geh hin und frage sie, ob sie deine Frau werden will. Was ihn antrieb, war die Natur. Die wollte, dass er sich mit Luise vereinigte und Kinder in die Welt setzte. Alles kam, wie es kommen musste.
Ludwig Liebenthal umarmte ihn. »Es wäre schön, wenn du mein Schwager wirst.«
Berthold Kempinski. »Und du meiner! Was stellt sich denn Luise so vor, ich meine …« Er konnte nicht recht in Worte fassen, was er im Sinn hatte.
»Sie will unbedingt auswandern. Nach Amerika.«
»Nach Amerika.« Berthold Kempinski brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. »Das will ja mancher.« Bis 1848, das wusste er, waren viele Juden nach Übersee ausgewandert, inzwischen aber wollten sie nicht mehr ganz so weit und begnügten sich mit Schlesien, von wo es des Öfteren auch weiterging bis nach Berlin. »Wenn schon Amerika, dann aber bitte Lateinamerika, schließlich habe ich in der Schule Latein gelernt.«
»Wie?« Der Freund verstand den kleinen Scherz nicht und blieb ernsthaft. »Nein, in die Vereinigten Staaten möchte sie, das ist ihr großer Traum.«
Als Berthold Kempinski wieder auf dem Kutschbock saß, hatte er Zeit genug, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Der schmerzte zwar ein wenig, weil er den ganzen Abend über mit Ludwig gezecht hatte, aber dennoch. War es also sein Schicksal, Amerikaner zu werden? New York, New York. Alle Liberalen sprachen davon. Keine Fürsten mehr, keine Unterdrücker. Freiheit und viele Dollars. Konnte man drüben als Weinhändler seinen Weg machen? Vielleicht hatten sie sich ein bisschen an europäischer Kultur bewahrt und soffen nicht nur Bier and Brandy.
Je mehr er sich dem Dorfe Honig näherte, desto unruhiger wurde er. Wie hielt man um die Hand einer Vollwaise an? Luises Vater war ja auf ewig verschollen und ihre Mutter schon lange gestorben. Fragte man da den Bruder? Möglicherweise, aber Ludwig hatte ja schon sein Plazet gegeben. Also standen alle Türen offen. Oder waren die eigenen Eltern vorher zu fragen? Da geriet er ins Wanken. Aber was sollte sein Vater gegen Luise haben? Dass sie arm war und ihm eine gute Partie den Start ins Leben sehr erleichtert hätte. Schon richtig, aber bislang hatte keine der höheren Töchter zwischen Posen und Breslau Anstalten gemacht, ihn zu erwählen. Außerdem liebte er Luise, wenn Liebe hieß, dass er sie besitzen wollte.
Als er Akazien am Wegesrand sah, stieg er ab und pflückte ihr einen wunderschönen Strauß aus Feldblumen.
Eine Stunde später hielt er vor dem Gehöft des Bauern Gurkow. Es war nicht schwer zu finden gewesen, Ludwig hatte ihm alles genau beschrieben. Irgendwie hatte Berthold gehofft, dass hier tausend bunte Bänder wehten. Aber Luise hatte ja von seiner Ankunft nichts wissen können.
Er zog die Bremse seines Wagens an und stellte den Pferden Wasser und Hafer hin, um Zeit zu gewinnen und alles zu mustern. Vorn am Wohnhaus klebte viel Schinkel, was hieß, dass der Bauer recht wohlhabend war. Da hatte es Luise ja gut getroffen.
Er nahm seinen Blumenstrauß und trat durch das offene Tor in den Hof. »Hallo, ist da wer?«
Ein Hüne mit Haaren wie Haferstroh kam mit der Forke vom Misthaufen herab. Offenbar der Knecht. »Was ist?«
»Pardon, ich suche die Luise.«
»Hier ist keine Luise.«
»Ich bin doch aber richtig bei Gurkow?«
»Was wollen Sie hier?«
»Na, die Luise sprechen.«
Da erschien Luise Liebenthal auf der kleinen Terrasse, die man vor die Küche gesetzt hatte, um vom Hochparterre über eine Treppe in den Hof und zu den Ställen zu gelangen.
Ein Hahn krähte, ein Kater schmiegte sich an ihre Beine, aber die Szene war dennoch alles andere als idyllisch, denn Berthold Kempinski hatte schnell begriffen, dass auch der andere ein Auge auf Luise geworfen hatte und sie nicht kampflos hergeben würde.
»Berthold!«, rief Luise von oben. »Du hier?«
»Ja, um dich zu holen!« So schoss es aus ihm heraus, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, es zu verhindern.
»Luise gehört mir!«, schrie da der Mann auf dem Misthaufen und kam mit seiner Forke drohend auf Berthold zu. Der wich einen Schritt zurück und fragte Luise, wer das denn sei.
»Heinrich, der Sohn vom Bauern. Er will mich auch.«
»Und wen willst du?«
»Lass mir einen Augenblick Zeit.«
Luise Liebenthal schloss die Augen, und Berthold Kempinski hatte das Gefühl, sie warte auf eine Eingebung des Himmels.
Als sie sich dann sicher war, kam sie die Treppen herunter und in seine Richtung gelaufen. Er breitete schon die Arme aus, um sie aufzufangen.
Da machte sie einen kleinen Schlenker und warf sich Heinrich Gurkow an die Brust.
In Kongresspolen waren die Aufständischen 1864 endgültig gescheitert. Sie hatten es nicht verstanden, ein tragfähiges Programm für die Bauernbefreiung zu entwickeln, und so war die Unterstützung aus dem Lande weithin ausgeblieben, erst recht, als der Zar mit einem Ukas die Leibeigenschaft aufgehoben hatte. Unter Romuald Traugutt hatte man schließlich den Partisanenkrieg gegen die Russen verloren. Die überzogen das Land mit Terror und henkten Traugutt und andere Rädelsführer. Hunderte Rebellen waren es, die öffentlich hingerichtet wurden, und es hieß, zwanzigtausend Polen seien nach Sibirien in die Verbannung geschickt worden.
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Friedrich Wilhelm von Kraschnitz. »Tausende von polnischen Adelsfamilien sind enteignet worden, die katholische Kirche wird unterdrückt, Russisch ist Amts- und Schulsprache geworden. Kongresspolen existiert nicht mehr und ist russische Provinz geworden. ›Weichselland‹ nennen sie es oder ›Gouvernement Warschau‹.«
»Mich interessiert Witolds Schicksal. Und Sie mit Ihren vielen Verbindungen nach Russland können doch da sicher etwas ausrichten.« Vor allem deswegen Berthold war Kempinski aufs Gut gekommen, nicht wegen des Weines, den Kraschnitz bestellt hat. »Ich flehe Sie geradezu an!«
»Ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht, aber wenn er schon auf dem Weg nach Sibirien ist, dann …« Er brach ab, denn sein Leibdiener war in den Raum getreten und kam zu ihm hin, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Kraschnitz nickte und blickte dann zu Berthold Kempinski hinüber. »Ihr Vater weiß, dass sie hier sind, und hat jemanden geschickt. Ihre Mutter liegt im Sterben, und Sie sollen so schnell wie möglich nach Raschkow kommen.«
Mit Rosalie Kempinski ging es zu Ende, und alle ihre Kinder und näheren Verwandten hatten sich an ihrem Bett versammelt. Sie sah so elend aus, dass Berthold es kaum schaffte, in ihre Richtung zu blicken.
Obwohl es ihr furchtbar schwerfiel und sie immer von Hustenkrämpfen erschüttert wurde, wollte sie ihrem Mann und ihren Kindern noch ein letztes Wort mit auf den Weg geben. »Moritz, du kümmerst dich um Berthold und machst ihn zum Kompagnon. Und du, Berthold, bist Moritz ein ehrlicher Partner und fügst dich in alles ein.«