Читать книгу Das Duell des Herrn Silberstein - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеIM JAHRE 1857 zeigte der Grundriss von Berlin mit nächster Umgebung – Entworfen und gezeichnet von Leopold Kraatz einen farbenfrohen Flickenteppich, der die Form einer Schildkröte hatte. Das Hinterteil bildete das orange schraffierte Stralauer Viertel, mit dem Stralauer Thor und der Oberbaumbrücke als Schwanz. Rücken und Oberteil setzten sich, von Ost nach West gesehen, aus der im Lavendelton schraffierten Königs- und dem mit schrägen hellblauen Linien durchzogenen Spandauer Viertel zusammen. Dahinter kam, sozusagen als Aufwölbung des Panzers, die weinrote Friedrich-Wilhelmstadt mit der Charité und dem erfolgreichen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater. Aus dem Panzer ragte, westwärts gerichtet, ein großer Kopf heraus: der Thiergarten. Der Leib des Tieres bestand aus der blassgelben Dorotheenstadt mit dem Brandenburger Thor, dem Pariser Platz und der Straße Unter den Linden, aus Alt-Cölln, in dunklem Lila gehalten und recht eigentlich die Spreeinsel mit dem Schloss im Herzen, dann dem grünlich schraffierten Berlin mit der Königstraße und dem Rathaus, einem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden braunen Keil zwischen dem Werderschen und dem Spittelmarkt sowie dem Hausvogteiplatz, dem schmalen gelben Streifen mit dem Friedrichswerder links und rechts der Wallstraße, der dunkelblauen Friedrichstadt zwischen Behrenstraße und Belle-Alliance-Platz sowie der größten aller Flächen, der rot schraffierten Louisenstadt südlich der Spree. Die Beine des Tieres waren die Ausfallstraßen nach Schöneberg, zum Kreuzberg, in die Hasenheide und nach Rixdorf.
Der Hackesche Markt war am südlichen Ende des Spandauer Viertels gelegen und sozusagen der See, in den Rosenthaler, Oranienburger, Große Präsidenten und Spandauer Straße sowie die Neue Promenade mündeten. Es war keine schlechte Wohngegend, doch Sarah Silberstein hätte es gern noch ein wenig nobler gehabt. Auch war ihr Haus nicht eben zentral gelegen, mussten doch die meisten ihrer Gäste erst die Spree überqueren, ehe sie zu ihr gelangten. Ihre berühmte Vorgängerin Henriette Herz, die 1847 verstorben war, hatte es da mit ihrem schöngeistigen Salon in der Neuen Friedrichstraße 22, fast an der Ecke Königstraße gelegen, leichter gehabt. Auch mit der Qualität der dort verkehrenden Gäste, Berühmtheiten wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, Johann Gottfried Schadow, Jean Paul und Friedrich Schleiermacher, konnte Sarah Silberstein nicht konkurrieren, und doch war es ihr auch heute wieder gelungen, durchaus illustre Persönlichkeiten zu sich zu locken.
Da war zuerst Samuel Holdheim, der Rabbiner des »Tempels der Jüdischen Reformgemeinde« in der Johannisstraße, auf dessen Einladung ihr Sohn großen Wert gelegt hatte.
Aus der jüdischen Gemeinde kam auch Gerson, der Sohn des Banquiers Samuel Bleichröder. Er war 1822 in Berlin geboren worden und mit siebzehn Jahren in das väterliche Bankhaus in der Behrenstraße 62/63 eingetreten. Man sagte ihm exzellente Kontakte zu Otto von Bismarck und Kronprinz Wilhelm nach.
Eine Einladung war auch an den berühmten Komponisten Giacomo Meyerbeer, eigentlich Jakob Liebmann Meyer Beer, gegangen, doch der weilte gerade wieder in Paris.
Seine Stelle nahm nun ein anderer Künstler ein, der zwar in einem ganz anderen Genre zu Ruhm gekommen, aber ebenfalls als Berliner Berühmtheit anzusehen war: der Schau- und Puppenspieler Julius Linde.
Eine gewisse Prominenz konnte aber auch Wilhelm Raabe zugesprochen werden, der in der Spreestraße hinterm Schloss zu Hause war und mit seinem Roman Die Chronik der Sperlingsgasse gerade einiges Aufsehen erregt hatte.
Nahm man die Nähe zum König als Maßstab für die Bedeutung eines Mannes, so war der Leutnant Friedrich v. Treppeln als Flügeladjutant Friedrich Wilhelms IV. allen anderen voraus. Er kam aus der Neumark und war dem Hause verbunden, seitdem Friedrich Silberstein ihm ein wunderschönes Herrenhaus errichtet hatte. Am meisten fiel er durch seine Körpergröße auf, denn mit der hätte er jeden der Langen Kerls des ersten Friedrich Wilhelm glatt in den Schatten gestellt.
Von ganz anderer Herkunft und Statur waren die nächsten Gäste, die Sarah Silberstein begrüßen durfte: Monsieur Chaumont und seine Charlotte. Die Chaumonts waren unter Friedrich I. zwar nicht von der Insel Korsika nach Berlin gekommen, sondern aus der Gegend von LaRochelle, und doch hatte Maurice Chaumont, was die Physiognomie betraf, eine erhebliche Ähnlichkeit mit Napoleon Bonaparte. Ihm war es recht, denn schließlich war auch er ein Herrscher, wenn auch nicht über das halbe Europa, sondern nur über ein Handelshaus, dessen Angebot von Rotwein, mediterranen Leckerbissen aller Art und indischen Gewürzen über Tuche und Tapeten bis hin zu antiken Kunstwerken und Marmor aus Carrara reichte. Durch letztere Spezialität hatte er dann auch die Bekanntschaft von Friedrich Silberstein machen dürfen. Aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen erwog er immer wieder einmal, seinen Namen einzudeutschen, aber »Schauberg«, wie ihm vorgeschlagen worden war, gefiel ihm nicht, und so hatte er es dabei belassen, aus dem Maurice ein Moritz zu machen.
Die Frau an seiner Seite hielten viele, da er sie sichtlich anhimmelte, für eine neue Eroberung, wenn nicht gar – typisch Franzose! – für seine Maitresse, doch sie war seine Tochter Charlotte, eine beauté, wie sie im Buche stand. Sie trug ein Kleid aus taubenblauer Seide, das ihr langes schwarzes Haar besonders wirkungsvoll zur Geltung brachte. Sie war schlank und hielt sich stets kerzengerade, was sie ein wenig hochmütig erscheinen ließ. Zu diesem Eindruck trug auch bei, dass sie, wo sie auch war, gelangweilt wirkte – unter dem Leben, das sie führen musste. Sie hatte sich den schönen Künsten verschrieben und wäre am liebsten Malerin oder Schauspielerin geworden, war aber am Widerstand ihres Vater wie dem Zeitgeist gescheitert.
Nach ihr war Isaak Hirsch in die Diele getreten, Friedrich Silbersteins bester Freund und fast auf den Tag genauso alt wie er, Inhaber einer Nähmanufaktur in Moabit am Rande der Stadt und einer, von dem sich sagen ließ, dass er für seine Firma lebte. Die beiden verstanden sich auch deswegen so gut, weil sie eines gemeinsam hatten: Bei aller nach außen hin gezeigten Festigkeit waren doch beide von einer geheimen Angst zerfressen – der nämlich, keine Aufträge mehr zu bekommen und zu Bettlern zu werden. Und seit der Zeit der Schutzjuden glaubten sie zu wissen, dass sie sich um so sicherer fühlen konnten, je reicher sie waren: »Hast du Geld, kannst du ihnen immer noch entkommen, wenn sie Jagd auf dich machen, entweder durch ein besseres Pferd oder dadurch, dass du sie bestichst.«
In Begleitung von Hirsch war Katharina Rosentreter gekommen. Sie sah sich weiterhin als heimliche Verlobte von Aaron, obwohl die Dinge formal nicht vorangekommen waren, seit sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sarah Silberstein hatte ihr zugesagt, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass die Ehe mit Katharina das Beste für ihn sei. »Jetzt, da wir sie als Vollwaise sehen müssen, gebieten es Mitgefühl und Anstand.«
Als nächster Gast wurde Sigismund Stern begrüßt, der zusammen mit Aaron Bernstein die »Genossenschaft für Reform im Judenthume« gegründet hatte, die spätere Jüdische Reform Gemeinde. Man orientierte sich im Gottesdienst stark an der protestantischen Liturgie und Praxis. Die meisten Gebete, die Lieder und die Predigt waren deutschsprachig, und aus der Liturgie waren alle Passagen entfernt worden, die eine Rückkehr nach Palästina zum Inhalt hatten. Da die Gebete nicht mehr gesungen wurden, brauchte man keinen Kantor. Kopfbedeckung und Gebetsriemen waren abgeschafft, und Männer und Frauen saßen und beteten gemeinsam. Begonnen hatte man in einem provisorischen Betsaal in der Georgenstraße, 1854 war man in den sogenannten Tempel in der Johannisstraße 16 gezogen.
Als Letzter erschien Jason Silberstein, der Schwager der Gastgeberin. Er war so ziemlich das genaue Gegenteil seines Bruders. Konnte man Friedrich Silberstein Eigenschaften wie pragmatisch, zuverlässig und zielstrebig zuschreiben, so war Jason verträumt und chaotisch, konnte ganze Tage vertrödeln und wusste auch mit seinen fast fünfzig Jahren nicht so recht, was er einmal werden wollte. Hielt man ihm vor, Müßiggang sei aller Laster Anfang, dann lachte er nur und sagte, die ja gerade reizten ihn. Er trank, er trieb sich in Spielsalons herum, er ließ sich von reichen Witwen aushalten. Alle liebten ihn, bei allen galt er als äußerst unterhaltsam. Er konnte recht geistreich sein und war dabei ein Spötter sondergleichen, einer, der vor nichts zurückschreckte. Eine umfassende Bildung konnte ihm niemand absprechen. Einen Brotberuf hatte er nicht, er lebte von dem, was das Erbe seines Vaters abwarf. Das hatte er gut angelegt, und die Zinsen gab er Meir Rosentreter. »Da jungen die Silbergroschen dann wie die Karnickel.«
Nicht angetreten war der jüdische Musiker Louis Lewandowski, Leiter des Chores in der Synagoge Heidereutergasse und Komponist moderner Synagogalmusik. Er hatte kein Billett geschickt, um sein Fernbleiben bei Sarah Silberstein zu entschuldigen, sodass sich einige schon Sorgen um ihn machten. Seit Meir Rosentreter verschwunden war, musste man mit allem rechnen.
Sogleich wurde dessen Tochter nach dem neuesten Stand der Dinge befragt.
»Ich weiß leider nichts Neues«, antwortete Katharina Rosentreter. »Von Kommissarius Schlötel habe ich schon lange nichts mehr gehört. Der Tischlermeister aus Cöpenick, den er verdächtigt hatte, meinen Vater …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen, das sie eigentlich hatte sagen wollen. »… also, den hat er wieder laufen lassen müssen, weil sich dessen Frau und mehrere Nachbarn dafür verbürgten, ihn zur Tatzeit bei sich im Haus gesehen zu haben.«
»Ohne Leiche kein Mord«, sagte Leutnant v. Treppeln, der das Direkte liebte.
Rabbiner Holdheim war da einfühlsamer. »Ich gehe ja noch immer davon aus, dass Ihr Vater aus Gründen, die uns bisher verschlossen geblieben sind, das Land verlassen hat und irgendwo, vermutlich in den Staaten jenseits des Atlantiks, als ein anderer lebt und Ihnen, ist die Zeit dazu gekommen, Nachricht geben wird.«
»Das wäre meines Herzens Freude und Wonne«, kam prompt der Einwurf von Jason Silberstein. »Das ist ja seine Lieblingswendung. Beziehungsweise: Mit Jubellippen lobsingt mein Mund.«
Katharina nickte. »Ja, und wie gern würde ich sie wieder aus seinem Munde hören. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass er Berlin verlassen hat, ohne mir vorher etwas davon zu sagen.«
»Vielleicht war er auch geistig umnachtet«, sagte Jason Silberstein mit hintergründigem Lächeln. »Wie so manch anderer in diesen Zeiten …« Das war ein Seitenhieb auf Friedrich Wilhelm IV.
Leutnant v. Treppeln guckte böse. »Ich darf doch bitten, Herr …«
Auch der Rabbiner übte Kritik an Jason Silberstein. »Sie wissen doch, mein Lieber: ›Der Spötter sucht nach Weisheit, sie ist nicht da …‹ Er findet sie nicht.«
Jason Silberstein konterte mit einer jiddischen Weisheit: »Ernsst redn nor lejzim« – Ernst reden nur Spötter. »Also sind wir dankbar für jene unserer Adligen, die nicht geistig umnachtet sind, sondern sich eines klaren Verstandes erfreuen, auch wenn ihr Horizont im Augenblick etwas begrenzt ist.« Diese Spitze war gegen Hans v. Rochow gerichtet, den man nach dem Duell mit Hinckeldey zu vier Jahren Festungshaft verurteilt hatte.
»Aber Rochow wird seine Strafe nicht absitzen müssen«, merkte Aaron Silberstein an. »Denn man ist schon dabei, Druck auf Hinckeldeys Witwe auszuüben, sie solle den König bitten, ihn zu begnadigen.«
»Das wird er auch.« Moritz Chaumont setzte zu einer tiefschürfenden weltpolitischen Analyse an. »Weil er jeden Offizier braucht, wenn es zum Krieg mit Österreich kommt. Und zu dem muss es kommen, denn einer kann nur das Sagen haben: Wien oder Berlin. Die deutsche Frage!«
Jason Silberstein sah Gerson Bleichröder an. »Sicher kommt der Krieg, denn an dem lässt sich am besten verdienen, und wenn eine Bank einem Staat seinen Krieg finanziert, hat sie ihn später um so sicherer in der Hand.«
Der Banquier machte eine Geste der Hilflosigkeit. »Nebbich … Was können wir dafür, dass das Geld stärker ist als alles andere! Wir müssen sehen, dass sich das Geld vermehrt, denn eine Gesellschaft braucht das Geld, damit sie existiert, wie unser Körper nicht ohne Blut existieren kann. Geld ist Leben.«
»Und es zu verprassen ist eine der sieben Todsünden«, sagte Friedrich Silberstein in Richtung seines Bruders.
»Bin ich Katholik?«, fragte der mit einer kleinen Spitze in Richtung von Moritz Chaumont. »Trägheit, Völlerei, Unkeuschheit – all das wäre einem untersagt. Schrecklich!«
Sarah Silberstein beeilte sich, das Niveau des Gespräches wieder etwas anzuheben, indem sie darauf verwies, welch wunderbare Hervorbringungen im Bereiche der Dichtung man doch dem letzten Jahre zu verdanken habe.
Ihr Schwager tat empört. »Bezeichnest du den Tod Heinrich Heines als wunderbare Hervorbringung?«
»Nein, aber Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Eduard Mörickes Mozart auf der Reise nach Prag, vor allem aber Jacob Corvinus’ Die Chronik der Sperlingsgasse.«
»Corvus, der Rabe«, murmelte Charlotte Chaumont.
Wilhelm Raabe, der seinen ersten Roman unter einem leicht durchschaubaren Pseudonym veröffentlicht hatte, reagierte mit einer leichten Verbeugung in ihre Richtung. Ein bisschen schüchtern war er schon, kam er doch aus einem kleinen Nest im Weserbergland, aus Eschershausen, und war noch kein gemachter Mann wie die anderen im Salon, sondern ein gelernter Buchhändler, der jetzt an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität seine Studien betrieb. Gerson Bleichröder fragte ihn, an wem er sich denn beim Schreiben orientiert habe.
»Ein wenig schon an Jean Paul.«
»Ein bisschen fühle ich mich auch an Charles Dickens erinnert«, sagte Sarah Silberstein mit Hinweis auf die gesellschafts- und bildungskritischen Aussagen Raabes.
Jason Silberstein lachte. »Sein Dr. Wimmer ist ja sogar ein schlimmer Revolutionär und muss vor der Polizei in die böhmischen Wälder fliehen. Da kann man einmal sehen, wo es hinführt, wenn einer Schopenhauers pessimistischer Philosophie anhängt. Ich für mich kann da nur ausrufen: Es lebe der König! Mag er noch so schwachsinnig sein.«
Leutnant v. Treppeln verbat sich solche Bemerkungen, und Gerson Bleichröder gab seiner Zuversicht Ausdruck, dass, wenn Kronprinz Wilhelm erst die Regentschaft angetreten habe, in Preußen eine liberale Ära anbrechen werde. »So hat auch dies eine gute Seite.«
»Das klingt mir mehr nach Hegel als nach Schopenhauer«, sagte Jason Silberstein.
Charlotte Chaumont bekannte, dass ihr an der Chronik der Sperlingsgasse die stimmungsvollen und sentimentalen Passagen am besten gefielen, und sie zitierte eines der vielen abgedruckten Gedichte: »Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles …«
Aaron Silberstein konnte nicht anders, als sie, von einem nie gekannten Zauber umfangen, anzustarren. »Ich muss das alles heute noch lesen.«
Sein Onkel Jason stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Das Lesen alleine macht es nicht, mein Lieber.«
Sarah Silberstein stellte sich so vor ihren Sohn, dass ihm der Blickkontakt zu Mademoiselle Chaumont verloren ging, und schob ihn unauffällig wieder in die Nähe der Tochter Meir Rosentreters.
»Vor allem die Stelle, wo die Tänzerin vor dem König auftreten muss, obwohl ihr Kind im Sterben liegt, hat es mir angetan«, sagte Charlotte Chaumont. »Wer da nicht weinen muss, der hat kein Herz.«
»Ach …« Wilhelm Raabe seufzte. »Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle! Man schämt sich der Träne und spottet.«
»Recht haben Sie, junger Mann!«, rief da Jason Silberstein mit einem vermeintlichen Ernst, der viele gar nicht merken ließ, dass er Spott in Vollendung war. »Gefühl ist alles. Wie sagte mein Großvater selig immer: Wen der bojre schel ojlom wil emezn baschtrofn, git er im dem ssejchel. Auf Deutsch: Wenn Gott jemanden bestrafen will, gibt er ihm Verstand.«
Das löste eine kleine Gesprächspause aus, weil alle erst einmal überlegen mussten, wie das wohl gemeint gewesen sein könnte und in welchem Maße sich jeder Einzelne persönlich betroffen fühlen musste.
»Ist man also dumm, wenn man glücklich lächelt?«, fragte schließlich Isaak Hirsch, der ständig strahlte, warf doch seine Manufaktur so viel ab, dass er leben konnte wie ein Fürst.
Man sah Jason Silberstein an, dass er die an ihn gerichtete Frage am liebsten mit einem deutlichen Ja beantwortete hätte, hielt er doch den Freund seines Bruders für recht einfältig. Doch er wollte ihn und die Gastgeber nicht kränken, und so beeilte er sich zu versichern, dass das eine das andere nicht a priori ausschließe. »Und was hat mein Großvater noch gesagt: As got nemt ejnem zu doss gelt, nemt er im dem ssejchel ojch zu.«
Sigismund Stern, der Reformer, war nicht eben beglückt, wenn jemand jiddisch sprach, und brummte: »In Preußen ist Deutsch die Landessprache.«
»Ich würde ja gern preußisch sprechen, wenn es so etwas nur gäbe!«, rief Jason Silberstein, durch den Einwurf kaum irritiert. »Aber gut, dann übersetze ich es kurz: Wenn Gott einem das Geld nimmt, nimmt er ihm auch den Verstand. Daraus lernen wir im Umkehrschluss: Wenn Gott einem viel Geld gibt, gibt er ihm auch viel Verstand. Also, Onkel Isaak, du kannst ganz beruhigt sein.«
Das war Hirsch aber ganz und gar nicht, und Sarah Silberstein musste eingreifen, um ihm weitere Pein zu ersparen. Sie lenkte vom Thema ab, indem sie den jungen Dichter bat, sich doch zu setzen und aus seinem viel gelobten Roman die berühmteste Stelle, die mit der Tänzerin und dem Kind, vorzulesen. Ein Exemplar seines Romans liege bereit.
Wilhelm Raabe leistete dieser Bitte auch Folge, wobei ihn seine Schüchternheit noch sympathischer machte. Unsicher und mit schwacher Stimme begann er und brauchte einige Zeit, sich zu fangen, ohne auch dann die Ausstrahlung eines gelernten Schauspielers zu erreichen:
»Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörst nicht die tausend jubelnden Stimmen der Menge, du hörst nicht die rauschende Musik: das Ächzen des winzigen, sterbenden Wesens in der fernen Dachstube übertönt alles.«
Sarah Silberstein registrierte mit heimlicher Zufriedenheit, dass da kein Auge trocken blieb, auch so hartgesottene Männer wie der Leutnant, der Banquier und allen voran ihr Schwager kamen gegen ihre Rührung nicht an. Erst recht nicht an der Stelle, wo die Tänzerin nach Ende der Vorstellung mit der Droschke nach Hause fährt und die Treppe hinaufläuft. Totenbleich ist sie, wirft den nassen Mantel zu Boden und stürzt im fantastischen Kostüm einer Teufelin auf das Kinderbettchen zu.
»Mein Kind! Mein Kind!«, flüstert sie, in grässlicher Angst den Doktor ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Atem des Kindes: Es lebt noch! – Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glasdiamanten und feuerroten Bändern sinkt auf das ärmliche Kissen.
»Mama, liebe Mama!«, stöhnt das sterbende Kind, mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die schwarzen Haare der Mutter greifend, dass die Steine darin blitzen und funkeln. – – Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper – – –
»Vorüber!« – sagt der alte Doktor dumpf …
Als Wilhelm Raabe geendet hatte, folgten lange Sekunden ergriffenen Schweigens, bis Sarah Silberstein, die anderen gleichsam erlösend, zu klatschen begann und nacheinander alle mit einfielen. Nach Ende der Beifallskundgebung wurde zu Tisch gebeten.
»Alles fertig machen zur Abfütterung!«, rief Jason Silberstein. »Wer bis jetzt gelitten hat, weil er nicht mitreden konnte, wenn es um Magen- und Gallenleiden ging, der freue sich auf den fetten Lachs und den holländischen Beiguss.«
»Wir haben Roulettes von Seezungen, lieber Schwager«, wurde er postwendend korrigiert. »Das Krebsragout, das eigentlich dazu gehört, habe ich aber weglassen müssen, da es nicht koscher ist.«
»Wer ausschließlich geistige Nahrung möchte, kann gern in die Bibliothek gehen«, sagte Friedrich Silberstein.
»Nein, lieber nicht, die hast du selber gebaut.«
»Onkel Jason!«, warnte Aaron Silberstein den Spötter und beeilte sich, ihn zur Seite zu drängen und den Platz neben Charlotte Chaumont zu ergattern. Das gelang, und er war froh, dass Katharina Rosentreter zu sehr im Gespräch mit Leutnant v. Treppeln vertieft war, um diesen kleinen Affront zu registrieren.
Der Lohndiener tat sein Bestes, um alle zu versorgen. Richtig feierlich wurde es nun. Im hellen Kerzenschimmer kam alles wirkungsvoll zur Geltung, was auf der Tischwäsche aus weißem Damast zu sehen war: die grünen Römer, das helle Kristall, das feine Porzellan und die Blumenschalen, die Rheinweinflaschen mit ihren schlanken Hälsen und die bauchigen Rotweinkaraffen.
Die Gespräche kreisten um das Ende des Krimkrieges, um den Einfluss Moses Mendelssohns und die Frage, wie einem bedeutenden Dichter wie Joseph von Eichendorff die Rolle eines unbedeutenden preußischen Beamten gefallen haben mochte.
»Ab 1820 war er ja Regierungsrat in Danzig, anschließend Oberpräsidialrat in Königsberg, um dann ab 1831 hier in Berlin im Kultusministerium tätig zu sein.« Aaron Silberstein sagte dies in Richtung seiner charmanten Tischnachbarin. »Und wie lange sind Sie in Berlin?«
Jason Silberstein, der mitgehört hatte, lachte. »Seit dem Moment ihrer Zeugung.«
»Onkel!« Aaron Silberstein konnte nicht anders, als erheblich zu erröten.
Charlotte Chaumont tat so, als hätte sie den Zwischenruf gar nicht vernommen. »Wie lange ich in Berlin bin? Ich bin hier auf die Welt gekommen.«
»Oh, Pardon!« Aaron Silberstein beeilte sich, zu Eichendorff zurückzukehren, und wandte sich dabei an Wilhelm Raabe. »Sie, der Sie selber Dichter sind, müssten das doch am ehesten einschätzen können, wie sehr er unter dem ungeliebten Beamtendasein gelitten hat, wie schmerzlich ihn der doppelte Verlust getroffen hat: einmal den der Heimat, Schloss Lubowitz in Oberschlesien, dann auch jenes unbeschwerten Lebens, wie es so nur der Landadel führen konnte. Unauslöschliche Unzufriedenheit soll ihn ausgefüllt haben, wurde mir von Menschen gesagt, die ihn länger kannten.«
»Ach!«, rief seine Mutter. »Er war tief religiös, und er hat voll und ganz an die Macht der Poesie geglaubt, das hat ihn getragen.«
Und es war Charlotte Chaumont, die ein Gedicht Eichendorffs vortragen konnte: »Gleichheit. – Es ist kein Blümlein nicht so klein, / Die Sonne wird’s erwarmen, / Scheint in das Fenster mild herein / Dem König wie dem Armen, / Hüllt alles ein in Sonnenschein / Mit göttlichem Erbarmen.«
»Gleichheit – ausgerechnet er!« Da konnte Jason Silberstein nicht mehr an sich halten und begann, heftig gegen Eichendorff zu polemisieren. »Ein Philister ist er gewesen, ein fürchterlicher Reaktionär. Die Pressezensur hat er gelobt, ein banales Leben hat er geführt, nichts getan, um den Mehltau hinwegzupusten, der über Deutschland liegt. Kein Mitleid mit den Entrechteten, kein Wort über Schweiß und Mühe, die Arbeit als solche.«
»Das muss gerade einer wie du sagen«, murmelte sein Bruder.
Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und seine Reime erst. Biedermeierliche Butzenscheibenpoesie, nichts weiter. Herz und Schmerz, Lust und Brust, Wald und schallt, Armen und erwarmen.«
»Hab Mitleid mit ihm«, sagte seine Schwägerin und kam nun selber mit einem Eichendorff-Gedicht: »Und keiner kennt den letzten Akt / Von allen, die da spielen, / Nur der da droben schlägt den Takt, / Weiß, wo das hin will zielen.«
»Wer ist das: der da droben?«, fragte Jason Silberstein. »Der Gott der Juden, der Christen, der Mohammedaner, der Indianer oder der Menschen auf den Fidschi-Inseln?«
»Es gibt schon Unterschiede«, sagte Katharina Rosentreter, indem sie in Richtung des Mannes blickte, mit dem sie sich verlobt fühlte. »Auch wenn es nur den einen Gott geben sollte, so ist es doch etwas ganz anderes, ob man als Jude, Katholik, Protestant, Mohammedaner oder Buddhist durchs Leben geht. Und wer da querbeet heiratet, wird es immer bereuen.«
Weil ihm diese Bemerkung mehr als peinlich war, lenkte Aaron Silberstein das Gespräch schnell auf das Allgemeine, auf den Pantheismus, auf die Berliner Haskala, auf die Freundschaft zwischen Lessing und Moses Mendelssohn und das Modell »Nathan der Weise«.
Danach war das Souper beendet, und die Damen begaben sich in die Bibliothek, um über die neueste Mode wie die Skandale an den Berliner Bühnen zu diskutieren, während sich die Herren ins Rauchzimmer zurückzogen. Viele in Berlin, ob hoch oder niedrig, liebten es, den Duft der virginischen Blätter mit Wohlbehagen in die Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen.
»Wo man raucht, da magst du ruhig harren, / Böse Menschen rauchen nie Zigarren«, sagte Friedrich Silberstein und hielt seinen Gästen eine Kiste hin, die er sich aus Kuba hatte kommen lassen.
Sie hatten kaum ihren Rauchgenuss beendet, da wurden sie von Sarah Silberstein in den Salon zurückgerufen. Dort hatte inzwischen Julius Linde, der Puppenspieler, seine kleine Bühne aufgebaut. Begonnen hatte er mit seinen Handpuppen und Marionetten in anrüchigen Kneipen, sich dann aber über bessere Lokale bis zu einem Engagement bei Kroll hochgearbeitet und war schließlich Direktor und Regisseur des Liebhabertheaters Amicitia im Restaurant Königsbank in der Großen Frankfurter Straße geworden. Seine größte Entdeckung war Carl Helmerding, einer der berühmtesten Schauspieler seiner Zeit. »Ick habe Helmerdingen uff de Bühne jebracht, ick hab’n anjelernt. Wat er kann und is, hat er von mich«, hatte er auch heute gesagt.
Sarah Silberstein stellte Linde nicht als Mimen, der er auch war, sondern als Puppenspieler vor. »Und er ist ein Meister darin, toten, hölzernen Figuren Bewegung und damit Leben zu geben. Mit rapider Schnelligkeit muss er sein Organ wechseln und selbst weibliche Stimmen nachahmen, um die oft drei Figuren, die er zu gleicher Zeit mit den Händen dirigiert, charakteristisch auseinanderzuhalten. Außerdem muss er den nötigen Humor mitbringen, um auf die Zurufe einzugehen, die aus dem Publikum kommen. Seine Figuren, Helden und Prinzessinnen, Teufel, Bösewichte und galante Liebhaber, fertigt er mit eigener Hand. Seine Manuskripte füllen ganze Schränke. Sagen, Märchen, Dramen, Opern und Ballette sind es, ja sogar der Doktor Faust. Heute wird er uns mit einem volkstümlichen Stück erfreuen: Aschendrödel von Dr. Grübelmeier.« Sie nahm einen Theaterzettel zur Hand. »Personen: Flötenseufzer, Hullerdebuller, der chronologische Professor Hirnbostel, der Zeremonienmeister Kriechmeier und Aschendrödel, Tochter aus erster Ehe, sanguinische Weiblichkeit und pure hölzerne Unschuld.«
Doch kaum war der Vorhang von Julius Lindes kleiner Bühne aufgegangen und hatte der Künstler die ersten Worte gesprochen, da kam Unruhe auf, denn soeben war der letzte der geladenen Gäste erschienen, der Komponist und Musiker Louis Lewandowski, und das, was er als Grund seiner Verspätung angab, war geeignet, Friedrich Silberstein jede Höflichkeit Linde gegenüber vergessen zu lassen.
»Ich komme gerade von der Sitzung«, flüsterte Lewandowski. »Sie wollen eine neue Synagoge in der Oranienburger Straße bauen, und es soll eine Ausschreibung geben.«
»Das ist die Chance meines Lebens!«, rief Friedrich Silberstein.