Читать книгу Das Duell des Herrn Silberstein - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8

Kapitel 3

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DER 6. MÄRZ 1856 fiel auf einen Donnerstag – jenen Wochentag, den Friedrich Silberstein am wenigsten mochte, klang das Wort doch so martialisch. Überhaupt waren ihm die germanischen Götter samt und sonders unsympathisch, hießen sie nun Donar oder wie auch immer.

Gemessenen Schrittes ging er über die Schlossbrücke und schwelgte in Erinnerungen. Hier hatte er als Geselle gearbeitet und mehr gelernt als je zuvor. Kein Wunder, war doch sein Lehrmeister kein Geringerer als der große Karl Friedrich Schinkel gewesen. Und seine Präzision wie seine Tatkraft hatten dem Meister so gut gefallen, dass er ihn auch geholt hatte, als jenes Museum am Lustgarten, das später das Alte Museum genannt wurde, und die Friedrichswerdersche Kirche hochzuziehen waren.

Über einen Schleusenarm der Spree führte die Brücke, war 156 Fuß lang und hatte eine Breite von genau 104 Fuß. Die Maße hatte Friedrich Silberstein noch nach einem Vierteljahrhundert im Kopf. Die Fahrbahn war so angelegt, dass neun Pferdefuhrwerke nebeneinander über sie fahren konnten. Das Geländer war eine durchbrochene Eisengussarbeit, Tritonen, Seepferde und Delfine darstellend. Dazwischen waren acht große Blöcke aus poliertem rotem Sandstein verteilt, und auf diesen standen hohe Untersätze aus schlesischem Marmor, die acht Figurengruppen aus Carrara-Marmor trugen. Es waren herrliche Arbeiten von Drake und anderen begnadeten Künstlern. Friedrich Silberstein konnte sich nie sattsehen an ihnen. Die überlebensgroßen Gestalten zeigten das Leben eines griechischen Kriegers in idealisierender Weise. So lehrte Victoria, die geflügelte Siegesgöttin, den Knaben Heldengeschichte und krönte den Sieger, so unterrichtete Minerva den Jüngling im Gebrauch der Waffen und führte ihn zum Kampf, so brachte Iris, die Botin der Götter, den siegreich Gefallenen zum Olymp empor.

»Ja, so muss man bauen«, murmelte Friedrich Silberstein, und als er weiterging und am Zeughaus, an der Neuen Wache und am Palais des Prinzen Heinrich von Preußen vorüberkam, das jetzt der Universität als Unterkunft diente, wurde ihm so recht bewusst, welch kleines Licht er selbst doch bis jetzt geblieben war.

Um seiner Depression Herr zu werden, brauchte er jetzt einen Schluck Maraschino di Zara oder Danziger Goldwasser, und so bog er rechts in die Charlottenstraße ein, wo nach ein paar Metern ein kleines Café zu finden war. Dort suchte er zuerst die Toiletten auf.

Als er in den Spiegel sah, erschrak er. Elend wie Ahasver sah er aus, wie der Ewige Jude, dem der Tod vorenthalten wurde und der zu immerwährender Einsamkeit verurteilt war. Ohne Unterlass hatte er von Land zu Land zu wandern. Nicht anders als er selber, der schon in Polen, Russland, Österreich und Preußen gelebt hatte. Geboren worden war er am 3. März 1802, also im Monat Nissan, in Medschibosch, einem Schtetl im südostpolnischen Podolien, am Flusse Bug gelegen und erstes Zentrum der Chassidim, der »Frommen«. Israel ben Eli’eser, genannt Baal Schem Tow, der Schöpfer des Chassidismus, hatte sich um 1730 hier niedergelassen und scharenweise Rabbiner und Gelehrte angelockt und als Schüler gewonnen. Nach seinem Tod im Jahre 1760 trat Dow Baer aus Medsiretsch sein Erbe an, und in dessen Zeit als Zaddik geriet Silbersteins Vater in den Bannkreis der chassidischen Enthusiasten, denen es vornehmlich darum ging, alle sündhaften Gedanken zu vermeiden. Georg Wilhelm Silberstein hatte lange Zeit als Händler – Kurzwaren, Stoffe, Bekleidung – im preußischen Königsberg gelebt. Er verehrte Friedrich II. von Preußen, »den Großen«, so sehr, dass er, als sein Sohn auf die Welt gekommen war, keinen Augenblick gezögert hatte, ihn Friedrich zu nennen. Und nur der Geschäfte wegen hatte der alte Silberstein Preußen verlassen und war über Wilna und Minsk nach Medschibosch gezogen. 1823 aber hatten die Behörden in Kongresspolen die Chassidim verdächtigt, Staat und Gesellschaft untergraben zu wollen, und er hatte aus Angst vor einem Pogrom seine neue Heimat fluchtartig verlassen und war mit seiner Familie nach Berlin gezogen.

Friedrich Silberstein war also mit 21 Jahren in die preußische Hauptstadt gekommen, und deren Trubel und Dynamik hatten ihn zutiefst verwirrt. Da rumpelten die Kremser durch die Straßen, da wurde die Haude und Spenersche Zeitung auf teuflisch schnell rotierenden Maschinen gedruckt, da gab es die ersten Mietskasernen mit Hunderten von Menschen in winzig kleinen Räumen, und da blühten die Künste. In Lesecafés und literarischen Salons versammelte sich die geistige Elite der Stadt, dort konnte man illustren Gästen wie Heinrich Heine begegnen. Hatte man sich bis zu seinem Tode 1811 beim Buchhändler und Verleger Friedrich Nicolai getroffen, so pflegte man sich später, um seine Gedanken auszutauschen, politische Dinge zu diskutieren und berühmten Dichtern zu lauschen, bei Henriette Herz, bei Bettina von Arnim und vor allem bei Rahel Varnhagen von Ense einzufinden. Dort war es auch, wo Friedrich Silberstein auf einen Mann aus dem Umkreis Schinkels traf und die Chance erhielt, in dessen Werkstatt zu arbeiten und seine Ausbildung zum Baumeister zu beenden. Ach, welche Träume hatte er damals noch gehabt! Bahnhöfe, großartig wie Kathedralen, wollte er errichten, prächtige Villen und Schlösschen für Fürsten, Generäle, Minister und Kommerzienräte – und Synagogen, die so prächtig waren, dass sie alle Juden zwischen London und Lemberg anlockten. Doch was war daraus geworden? Gasanstalten hatte er entworfen und gebaut, Dorfschulen, Getreidespeicher, das eine oder andere Geschäftshaus und einen Teil des Diakonissenkrankenhauses Bethanien. Zwar war das alle Mal besser, als in Galizien erschlagen zu werden, aber … Er riss sich zusammen und ballte die Fäuste. »Es ist ja noch nicht aller Tage Abend …«

Friedrich Silberstein war das, was die Leute ein Süßmaul nannten, und als er seinen Kaffee, seinen Likör und seinen Käsekuchen vor sich stehen hatte, ging es ihm schon wieder besser. Doch das änderte sich rasch, als er Karl-Hermann Rana in der Tür auftauchen sah. Kaum hatte der ihn entdeckt, machte er auf der Stelle kehrt und lief wieder auf die Straße hinaus. Wenn Blicke töten könnten … Friedrich seufzte hörbar. Als der Österreicher, Baumeister wie er, aber fünfzehn Jahre jünger, nach Berlin gekommen war, hatte er ihn wie einen Sohn in seinem Hause aufgenommen und lange im Gästezimmer wohnen lassen. Aber worin hatte Ranas Dank bestanden? Darin, dass er heimlich in seinen Unterlagen geblättert und ihm den Auftrag für den Bau einer Fabrikantenvilla in Cöpenick weggeschnappt hatte. Und nicht nur das. Leichtlebig wie er war, hatte Rana Silbersteins Sohn Aaron in stadtbekannte Bordelle mitnehmen wollen und sich sogar – der Gipfel! – seiner Frau Sarah unsittlich genähert. Da hatte er Rana aus dem Haus geworfen. Der nun war durch Berlin gezogen und hatte alles ganz anders dargestellt. Von der Fabrikantenvilla habe er nicht durch die Einsicht in Silbersteins Papiere Kenntnisse erhalten, sondern dadurch, dass der Bauherr ihn persönlich angesprochen habe. Und Aaron Silberstein habe er nicht in ein gewisses Freudenhaus geführt, sondern ihn im Gegenteil an dessen Betreten gehindert, weil ihm bekannt war, dass einige der dort tätigen Damen nicht bei bester Gesundheit waren. Sarah Silberstein schließlich sei nicht von ihm bedrängt worden, sondern habe alles darangesetzt, ihn zu ihrem Liebhaber zu machen.

»Das sind doch alles infame Lügen!«, hatte Friedrich Silberstein geschrien.

»Dass er so schreit, ist doch Beweis genug, dass er die Unwahrheit sagt«, hatte Rana lachend entgegnet.

Das Schlimme war, dass die Leute durchweg meinten, die Wahrheit müsse irgendwo in der Mitte liegen und was für Rana Bagatellen seien, das würde sich für Friedrich Silberstein zu einem Drama auswachsen. Kurzum, er sah sich in seiner Ehre verletzt und seine Familie in den Schmutz gezogen, während Rana das Ganze als Triumph genoss und sich in seinem Ruf als Don Juan und Lebemann bestätigt sah. Das nun wurmte Friedrich Silberstein so sehr, dass er in der Fachwelt nichts unversucht ließ, Ranas Fähigkeiten als Baumeister in Frage zu stellen. Und so war denn in einer Monatsschrift, die in der Bauwelt ein großes Renommee genoss, zu lesen, dass bei Ranas letztem Kirchenneubau ein Pissoir Pate gestanden haben müsse und man nur hoffen könne, dass das Dach nicht einstürze, wenn die Leute einmal etwas lauter singen würden. Da viele sagten, die Feindschaft zwischen ihm und Rana würde unweigerlich auf ein Duell hinauslaufen, hatte sich Friedrich Silberstein schon eine Pistole beschafft und übte damit ab und an heimlich in der Wuhlheide.

Immer noch in Rage, zahlte er, verließ das Café und machte sich auf den Heimweg. An der sozusagen runden Ecke, wo die Große Präsidentenstraße in den Hackeschen Markt mündete, besaß er ein ansehnliches Haus, das von seiner Frau aufs Beste gehütet wurde.

Sarah Silberstein entstammte der Familie des ehemaligen Spandauer Schutzjuden Levin Joseph. Der hatte 1777 zusammen mit seinem Bruder Abraham eine Konzession für den Tuchhandel erwerben können, kam aber auf keinen grünen Zweig, weil ihm die christlichen Kaufleute und Gewandschneider das Leben schwer machten. Zudem war er für einen guten Händler viel zu vertrauensselig und gutmütig. Nicht zuletzt aber waren es die hohen Abgaben an die Obrigkeit, die ihn in den Ruin trieben. Schließlich wurde er wegen betrügerischen Bankrotts verurteilt und musste das Land verlassen. Seine Kinder und Enkelkinder wurden in alle Winde verstreut, und Sarah erblickte am 12. Juni 1812 in Dresden das Licht der Welt. Ihr Vater war Rabbiner, und bei einem Besuch in Berlin lernte sie in der Synagoge Heidereutergasse ihren späteren Ehemann kennen. An Friedrich gefiel ihr vom ersten Augenblick an die kraftvolle Art. Er konnte zupacken und etwas Handfestes schaffen. Bauwerke, für die Ewigkeit gedacht. Ganz anders die Männer in ihrer Familie, die alle schlaff und vergeistigt durchs Leben gingen und deren höchstes Glück darin bestand, stundenlang über dem Talmud zu sitzen und zu »klären«, das heißt ein kompliziertes Problem, eine Kasche, scharf zu durchdenken. »Bin ich ein Esel, weil ich dein Freund bin, oder bin ich dein Freund, weil ich ein Esel bin?« Friedrich verbrachte seine Zeit nicht mit der Auslegung von Talmud- und Toratexten, Friedrich baute Häuser, Bahnhöfe und Manufakturen.

Sie brauchte einen solchen Fels, denn sie hatte durchaus etwas Flatterhaftes an sich, und nicht zu unrecht hatte sie einer ihrer frühen Verehrer »mein schwarzer Schmetterling« genannt. Ihr Traum war es gewesen, Schauspielerin zu werden, doch das hatte man ihr gründlich ausgetrieben, obwohl darin wohl ihr wahres Talent gelegen hätte. So verlegte sie sich auf die Schriftstellerei, die ihr von den Eltern erlaubt wurde, jedoch glückten ihr nur holprige Texte.

Zwei Kinder hatte sie zur Welt gebracht, 1826 ihren Sohn Aaron und zwei Jahre später ihre Tochter Rahel. Die zweite Geburt hatte sie sehr erschöpft, und seitdem sah sie blass und zerbrechlich aus. Sie ging auch nicht mehr so gern aus dem Haus wie früher, sondern ließ die Menschen lieber zu sich kommen. Da sie viel las und immer wusste, was in Politik, Dichtkunst und Philosophie gerade en vogue war, galt sie als anregende Gesprächspartnerin. Zwar konnte ihr Salon mit dem einer Rahel Varnhagen nicht ernsthaft konkurrieren, dennoch war er bei Männern von Rang und Namen so beliebt, dass gar nicht alle eingeladen werden konnten, die gern gekommen wären. Bei allem hatte sie aber auch die Interessen ihres Mannes im Kopf, denn der war kein guter Verkäufer seiner Baukunst, wie ihr schien, und neigte immer dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, auch war er kein Meister der gepflegten Konversation und schon gar nicht jemand, der andere auszuhorchen wusste und ihnen schmeichelte, wenn es darum ging, Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen, um einen lukrativen Auftrag zu erhalten.

Friedrich Silberstein traf seine Frau bei der Lektüre eines Romans. Es war Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, wie er sah, als sie das Buch beiseite legte. Er fand es furchtbar langweilig und hatte schon nach den ersten fünf Seiten aufgegeben. Etwas anderes interessierte ihn weitaus mehr.

»War Meir Rosentreter hier?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Er wollte mir ein Empfehlungsschreiben bringen, für meine Reise nach Mainz, wo sie eine neue Synagoge bauen wollen.«

»Ich kann nur sagen, dass er nicht da war.«

Friedrich Silberstein machte eine Handbewegung, die abwiegeln sollte, denn seine Frau schien ein wenig eingeschnappt zu sein. »Komisch, wo er sonst immer so gefällig und so zuverlässig ist …«

Sarah Silberstein zeigte zur Zimmerdecke hinauf. »Vielleicht weiß Aaron mehr.« Ihr Sohn hatte direkt über ihnen sein Zimmer.

»Wieso soll der was wissen?«

»Weil er sich gestern mit Katharina getroffen hat. Soll ich ihn mal holen?«

»Ja, tu das.«

AARON SILBERSTEIN hörte seine Eltern unten in der guten Stube diskutieren und verspürte wohl unwillkürlich den Wunsch, nach unten zu eilen und seinen Vater zu begrüßen, andererseits war ihm die ungestörte Mittagsruhe ein lieb gewordenes Ritual, und zu gern hätte er noch ein paar Seiten Eichendorff gelesen, ehe er wieder in die Brüderstraße eilte und in seiner Kanzlei auf Klienten wartete.

Der Einsiedler hieß das Gedicht, und leise sprach er den Anfang der zweiten Strophe vor sich hin: »Die Jahre wie die Wolken gehen / Und lassen mich hier einsam stehn, / Die Welt hat mich vergessen …« So weit war er mit Eichendorff völlig d’accord, und den subtilen Schmerz, der den Dichter erfüllte, genoss er wie einen köstlichen Likör. Doch was folgte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte ihn ein Messerstich mitten in die Brust getroffen: »Da tratst du wunderbar zu mir …« Eichendorff meinte die tröstende Nacht. Aaron aber bezog diese Zeile auf ein wunderschönes Mädchen. Ein solches jedoch trat nicht in sein Leben, obwohl er kaum an etwas anderes denken konnte als daran, endlich eine Frau zu finden, die er wirklich liebte. Aber wie hatte sein Großvater immer gesagt? Men sol nit betn, di zoress soln sich ojsslosn. Worem as di zoress losn sich ojss, lost sich doss leben ojch ojss – Man soll nicht beten, dass das Leid ein Ende nehme. Denn wenn das Leid aufhört, hört auch das Leben auf.

Aaron Silberstein legte Wert darauf, als das genaue Gegenteil seines Vaters zu gelten, und oft hörte man von ihm die Wendung: »Ich bin ganz anders als er.« Vordergründig schien sich das nur auf den Körperbau der beiden zu beziehen, denn der Senior war untersetzt bis füllig, der Junior aber lang und schlank. In Wahrheit aber wollte er sagen: Ich bin nicht so verknöchert, nicht so preußisch und königstreu wie mein Vater, kein Ewiggestriger, noch immer dem Berliner Biedermeier des Vormärz verbunden. In seinen Jünglingsjahren hatte sich Aaron der Haskala verpflichtet gefühlt, der jüdischen Aufklärung, und Moses Mendelssohn, der »jüdische Luther«, wie sie ihn mitunter nannten, war sein Prophet gewesen. Als Student hatte er sich dann unter dem Einfluss seines Freundes Wilhelm Blumenow immer stärker pantheistischen und schließlich sogar atheistischen Positionen angenähert, und öfter hörte man ihn Ludwig Feuerbach zitieren: dass nicht Gott die Menschen gemacht habe, sondern sich die Menschen ihre Götter – jeder Stamm, jedes Volk nach seinen Bedürfnissen und Lebensbedingungen. Zugleich aber hatte er noch immer das im Blut, was sie ihm in der Jeschiwa, der Talmud-Schule, beigebracht hatten, und so hielt er sich nach außen noch immer mehr oder minder streng an die jüdischen Gesetze.

Bei aller Kritik an seinem Vater, es gab Phasen, in denen er voller Bewunderung für ihn war und auch ein wenig neidisch. Während er seinen Vater in solchen Stunden als Fels in der Brandung sah, kam er sich selbst wie ein Schiff vor, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wurde und kein Ziel hatte. »Ich weiß nur, dass ich nicht weiß, was ich recht eigentlich will«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben. Sein Vater hatte es durch Zufall entdeckt und ihn daraufhin verdonnert, Jura zu studieren: Das gäbe Menschen den nötigen Halt, und man könne damit alles werden.

Immerhin war er so zu einem halbwegs erfolgreichen Advokaten mit einer kleinen Kanzlei in der Brüderstraße geworden, doch viel lieber wäre er höherer Beamter im Innen- oder Justizministerium gewesen, wo er ohne jeden Zweifel ebenfalls eine glänzende Karriere vor sich gehabt hätte – wenn er denn Christ gewesen wäre … Seit dem 31. Januar 1850 waren zwar laut Artikel 4 der Verfassung alle Preußen gleichgestellt, auch die Juden. Doch noch immer wurde diesen der Zugang zu öffentlichen Ämtern, höheren militärischen Dienstgraden und universitären Lehrstühlen verweigert.

Zur Welt gekommen war Aaron Silberstein am 9. Mai 1826, dem Tag, an dem sich die Sängerin Henriette Sonntag, die »göttliche Jette«, nach ihrer letzten Vorstellung im Königstädtischen Theater auf dem Alexanderplatz von ihren Berlinern verabschiedet hatte. Unter den vielen Tausenden, die ihr zujubelten, fehlte aus diesem Grunde Sarah Silberstein, und sie verzieh ihrem Sohn nie so recht, dass er sie mit seiner Ankunft um diesen Genuss gebracht hatte. Damals hatten sie noch in der Spandauer Straße gewohnt, und man hatte es nicht weit zur Synagoge Heidereutergasse gehabt. Die war zwar schon am 14. September 1714, dem Sabbat vor dem jüdischen Neujahrstag, eingeweiht worden, doch dass man den Bau einem christlichen Architekten übertragen hatte, dem Michael Kemmeter, wurmte Tharah Seligsohn noch heute. Sein Schwiegervater konnte nicht anders, als ihm in gewisser Weise zuzustimmen, obwohl es ja zu dieser Zeit in Preußen praktisch keine jüdischen Baumeister gegeben hatte. Juden war auch dieser Beruf verwehrt gewesen.

»Und wer darf sie jetzt renovieren und umbauen im klassizistischen Stil? Wieder ein Goi.« Gemeint war der christliche Baumeister und Schinkel-Schüler Eduard Knoblauch.

»Du hättest den Vorsteher aufklären sollen, Vater, denn bei diesem Namen wird er gedacht haben: Nu, das ist einer von uns.«

Diesen Dialog führten sie in regelmäßigen Abständen. Heute aber ging es, kaum war er nach unten gekommen, um Meir Rosentreter. Ob ihm dessen Tochter vielleicht etwas von einer plötzlich anzutretenden Reise gesagt habe, schließlich führe sie ihm den Haushalt?

»Nein. Als wir vom Konzert gekommen sind, habe ich sie mit der Droschke nach Hause gebracht und unten geschellt. Die alte Selma ist nach unten gekommen und hat sie in Empfang genommen. Ihren Vater habe ich nicht bemerkt. Aber es kommt ja öfter vor, dass der auf Reisen ist.«

Friedrich Silberstein war bitter enttäuscht. »Schöne Freunde sind das! Er weiß doch genau, dass sie mich ohne seine Empfehlung die Synagoge in Mainz nicht bauen lassen werden.«

»Wartest du eben, bis es hier in Berlin so weit ist.«

»Da nehmen sie dann den Rana!«

»Sei nicht so verbittert, Friedrich!«, ermahnte Sarah Silberstein ihren Mann.

»Mit chitrekajt kon men doss leben ibergejn, mit farschtand – nit schtendik.«

Das Jiddische war Aaron schon ein wenig fremd geworden, und so brauchte er einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Vater eben gemeint hatte: Mit Durchtriebenheit kann man das Leben durchstehen, mit Verstand – nicht immer. »Nun, Mutter kann ja demnächst mal die Leute einladen, die das Sagen haben, wenn sie in Berlin wirklich eine neue Synagoge bauen wollen.«

»Aber am liebsten wäre mir eine große Hochzeit …« Sarah Silberstein sah verträumt aus dem Fenster. »Du und Katharina. Ich habe geträumt, dass ihr euch zu Pessach verloben werdet.«

Aaron hatte Mühe, die Contenance zu wahren. »Mutter, ich bin mit Katharina zusammen aufgewachsen wie mit einer Schwester, und wie soll ich da mit ihr …« Er lief rot an, weil die Worte, die ihm fast über die Lippen gekommen wären, unschicklich waren.

Sein Vater lachte. »Das kommt mit der Ehe.«

»Darauf will ich mich nicht verlassen.« Er wollte hell entflammt sein und nicht nur glimmen.

»Sie ist eine gute Partie«, sagte sein Vater vorsichtig. »Und mit ihrem Geld könnten wir ganz anders dastehen, wenn es um große Bauten geht.«

Die Diskussion wäre noch lange so weitergegangen und hätte sich wie immer im Kreise gedreht, wenn nicht plötzlich sehr heftig am Klingelzug gerissen worden wäre.

Friedrich Silberstein sprang auf. »Ah, doch noch Meir Rosentreter!« Und er gab seinem Sohn einen Wink, zur Tür zu eilen und zu öffnen.

Rosentreter war es aber nicht. Vor der Tür stand nicht der Geldverleiher, sondern der Kommissarius, der für die Gegend um den Hackeschen Markt zuständig war, ein untersetzter, bärbeißiger Mann mit Namen Buntrock, den die Berliner einen »voll geschissenen Strumpf« nannten. Dies allein hätte Aaron Silberstein nicht in Verwunderung versetzt, doch neben dem Polizeibeamten stand kein Geringerer als Dr. Wilhelm Stieber, der Direktor der Kriminalpolizei und Atlatus des Polizeipräsidenten v. Hinckeldey, von Friedrich Engels als einer der »elendsten Polizeilumpen des Jahrhunderts« bezeichnet.

Aaron Silberstein war zu sehr Jurist, um nicht die Kunst der Selbstbeherrschung eingeübt zu haben. Wer sich von seinen Emotionen übermannen ließ, hatte von Anfang an die schlechteren Karten. Also bemühte er sich um eine subtile Ironie. »Ah, die Herren sind gekommen, um Ludwig Urban hier bei mir zu suchen und festzunehmen.«

Das war derart frech, dass Dr. Stieber erst einmal schlucken musste, denn Ludwig Urban, ein Tierarzt, war einer der bürgerlichen Anführer der Märzrevolution von 1848 gewesen und hatte anfangs ausgerechnet ihn, der die Liberalen jetzt gnadenlos jagte, zum Verteidiger gehabt. Doch der Direktor der Kriminalpolizei fasste sich schnell und wurde inquisitorisch. »Das ist ja interessant, dass Sie Ludwig Urban so gut kennen …«

»Ich weiß nur, was alle wissen: dass er in Friedersdorf wohnt.«

»Er will aber nach Berlin zurück, weil es seiner Frau auf dem Dorf nicht recht gefällt«, sagte Dr. Stieber. »Wir dürfen uns dann einmal bei Ihnen umsehen …«

»Aber gern … Auch mein Vater wird sich freuen.« So ausgeschlossen schien Aaron dies gar nicht einmal, erzkonservativ, wie der war. Jetzt erst wurde ihm klar, dass Dr. Stieber vielleicht etwas ganz anderes bei ihm suchte: Schriften seines Freundes Wilhelm Blumenow. Der hatte sich nämlich mit Daniel Benda und einigen anderen zusammengesetzt, um zu überlegen, ob man den »Volksverein«, der sich 1848 aufgelöst hatte, nicht wieder beleben könne und vielleicht die Gründung einer Partei mit dem Namen »Deutscher Volksverein« wagen solle. Aaron selbst liebäugelte eher mit der linksliberalen Fortschrittspartei, die von Rudolf Virchow gegründet worden war, hatte sich aber noch nicht entschließen können, ihr beizutreten. All dies musste bei Hinckeldeys Schnüfflern auf hohes Interesse stoßen, doch sie fanden nichts, sosehr sie sowohl bei Aaron als auch bei seinem Vater alles auf den Kopf stellten.

Als sie wieder abzogen, war der erboster als Aaron selber.

»Wenn sie bei dir alles durchsuchen, dann mag das ja noch angehen, schließlich ist dieser Blumenow dein Freund, und der hat nichts weiter im Sinn, als die Monarchie abzuschaffen. Aber ich bin schließlich ein absolut königstreuer Mann … Ich kann mir das Ganze nur so erklären, dass der Rana den Dr. Stieber auf mich gehetzt hat. Dieser üble Verleumder, dieser Lump!«

AARON SILBERSTEIN machte sich auf den Weg in seine kleine Anwaltskanzlei in der Brüderstraße, die den Schlossplatz mit der Petrikirche verband. Das war vom Hackeschen Markt nicht gerade meilenweit entfernt, aber zu Fuß doch ein ganz schönes Stück, zumal es trotz des nahenden Frühlings nasskalt war. Märzenschnee lag in der Luft. Das Königsschloss, das er als glühender Anhänger der 48er Revolution am liebsten in die Luft gesprengt hätte, umging er weitläufig. Dies auch in der geheimen Angst, einmal so einer zu werden wie der ehemalige Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech: Der hatte am 26. Juli 1844 im Portal des Schlosses auf den König geschossen. Auf dass Aaron Silberstein gar nicht erst in Versuchung geriet, nahm er den Umweg über die Spandauer Brücke, die Neue Friedrichstraße und die Spandauer Straße in Kauf und erreichte die Brüderstraße, nachdem er die Spree am Mühlendamm überquert hatte und ein Stück die Gertraudenstraße entlanggegangen war, erst an ihrem südlichen Ende, das heißt an der Petrikirche.

»Sand, weeßer Sand!«, schrie ihm jemand ins Ohr. Die Sandwagen kamen aus den Rehbergen im Norden oder vom Kreuzberg im Süden, denn die Hausfrauen brauchten ihn zum Bestreuen der weißgescheuerten Dielen. Als Nächstes hemmte ein Bücklingswagen seinen Lauf, dann ein Kolporteur mit seinem Karren. Der brachte seine Schundromane, seine Geister- und Rittergeschichten in die Dienstbotenkammern, vielleicht auch die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn.

Als Aaron Silberstein die Petrikirche vor sich sah, stieß er fast mit seinem Freund Wilhelm Blumenow zusammen. Der ernährte sich, seit er 1848 auf den Barrikaden gekämpft und dadurch seinen Posten als Assessor im Justizministerium verloren hatte, als kleiner Zeitungsschreiber mehr schlecht als recht und war gezwungen, ständig durch die Stadt zu streifen und auf ein Ereignis zu hoffen, das Stoff für ein paar Zeilen hergab.

»Ich hab was für dich«, sagte Aaron Silberstein, kaum dass sie sich begrüßt hatten.

Blumenow lachte. »Du willst auch konvertieren?«

»Nein. Rosentreter ist ganz offenbar verschwunden.«

»Klar, bevor er dich zum Schwiegersohn bekommt, wandert er lieber nach Amerika aus.«

»Nein, ich bin ernsthaft besorgt: Er hat Katharina nichts von einer Reise oder Ähnlichem erzählt, und es gab auch keinen Streit zwischen ihnen, jedenfalls ist er gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Blumenow nahm die Sache noch immer heiter. »Es soll ja Frauen geben, die es schaffen, einen Mann wenigstens eine Nacht lang zu fesseln.«

»Unsinn, so einer ist er nicht. Vor Katharinas Mutter hat er keine andere Frau besessen – und nach ihr auch nicht.«

»Hm …« Blumenow sah den Turm von St. Petri hinauf. »Nur der Himmel mag wissen, was da geschehen ist. Aber was interessiert sich der Himmel schon für uns.«

»Gehst du der Sache mal nach?«

»Ja, mache ich.« Wilhelm Blumenow zog seinen Block hervor und machte sich Notizen. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Eintragung, die da lautete: »Tharah Seligsohn hat mir wieder tüchtig die Leviten gelesen.« Er zeigte sie dem Freund. »Hat dir dein Schwager gesagt, dass er mich gestern bei Stehely getroffen hat …«

»Nein, das hat er nicht. Aber kein Wunder, da du in seiner Gunst sowieso ganz unten stehst.«

Der Grund dafür war ganz einfach: Kaum majorenn geworden, war Wilhelm Blumenow konvertiert. »Da es sowieso keinen Gott gibt, sondern der Kosmos ein sinnloser Ablauf chemischer und physikalischer Prozesse ist«, hatte er kühn erklärt, »erscheint es mir völlig egal zu sein, welcher Religion man angehört.« Stark beeinflusst hatte ihn bei dieser Sicht der Dinge ein gewisser Kaspar Schmidt, ein ehemaliger Lehrer aus Bamberg, der 1845 unter dem Pseudonym Max Stirner eine Schrift mit dem Titel Der Einzige und sein Eigentum verfasst hatte. Darin hatte Wilhelm Blumenow zwei Sätze gefunden, die sozusagen sein Leitstern geworden waren: »Meine Sache ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich.« Auf die Religion bezogen hieß das für ihn, dass man reinen Zweckmäßigkeitserwägungen folgen sollte. Und in Preußen war es, wollte man im Staat Karriere machen, zweifellos zweckmäßig, kein Jude zu sein.

Sonderlich glücklich darüber, ein Converso zu sein, war er allerdings nicht, zumal viele seiner jüdischen Freunde und Bekannten, wenn sie auch nicht gleich mit ihm brachen, zornig auf ihn waren, Tharah Seligsohn allen voran. Immer wieder brachte er es zur Sprache.

»Nu, erinnerst du dich nicht mehr an das, was in Spanien mit den Conversos passiert ist?!« Tharah Seligsohn meinte die Zeit um 1400, als infolge sozialer Unruhen und Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung viele tausend Juden zwangsgetauft wurden. Angeregt vom Gegenpapst Benedikt III., hetzten die Prediger die Spanier auf, die Juden zum Christentum zu zwingen. Viele der Conversos stiegen dann auch wirklich auf und bekleideten hohe Ämter in Kirche und Staat. Bekannt war der Dialog, den es zwischen Pedro de la Cavalleria, dem Finanzminister von Aragón und Berater von Alfonso V., und einem Juden gegeben hatte: »Warum warst du so erpicht darauf, ein Christ zu werden, obwohl du in unserem jüdischen Gesetz so bewandert bist?« – »Sei still, Dummkopf! Konnte ich als Jude hoffen, zu einer höheren Position als ein Rabbi aufzusteigen? Wegen eines Gekreuzigten erhalte ich jetzt solche Ehren, und ich befehle in der Stadt Saragossa. Wenn ich am Versöhnungsfest fasten will, wer kann mich daran hindern?« Und Tharah Seligsohn ließ es sich nicht nehmen, dem Freund seines Schwagers zu erzählen, wie übel die Sache ausgegangen war: »Unter den Altchristen gab es Neid und Missgunst, als die Conversos sich hoher Stellungen und großen Reichtums erfreuten – und was machten sie? Sie brachten viele um.« Insbesondere jene getauften Juden, die sie für Marranos hielten. Mit diesem Schimpfwort – abgeleitet von »Schwein« – belegten die Spanier während der Inquisition von 1481 die Neuchristen, die weiterhin heimlich ihrer alten Religion anhingen.

Aaron Silberstein kannte das und fühlte sich eher gelangweilt davon. »Und weißt du, was mein Schwager immer sagt, wenn wir auf dich zu sprechen kommen?«

»Klar.« Blumenow lachte. Dann musterte er Aaron mit einem spöttischen Blick. »Ich weiß genau, warum du nicht gerne hinhörst, wenn ich davon erzähle, überhaupt darauf zu sprechen komme, dass ich konvertiert bin … Na?«

»Keine Ahnung«, sagte Aaron, obwohl er genau wusste, worauf der Freund hinauswollte.

»Du möchtest es auch, wagst es aber nicht und freust dich klammheimlich, wenn dein Vater auf mich einschlägt. Warum? Weil du mir meinen Mut neidest und erbost über dich bist, denn immer nur zu zögern und zu zaudern ist wenig heldenhaft. Und du musst mein Verhalten grässlich finden, um ein Argument dagegen zu haben, es auch zu tun.«

Aaron wollte auffahren, besann sich aber, weil er sich eingestehen musste, dass der Freund nicht ganz im Unrecht war. Schnell wechselte er das Thema. »Ehe ich’s vergesse, abgelenkt von der Sache mit Rosentreter: Der Dr. Stieber war bei uns zu Hause.«

»Als Gast?« Blumenow sah ihn verständnislos an. »Dein Vater ist doch Baumeister und kein Lumpenhändler.«

»Nicht als Gast war Dr. Stieber bei uns, sondern zur Hausdurchsuchung – und ich bin mir sicher, dass er deinetwegen da war.«

Blumenow schmunzelte. »Ist doch schön, wenn man in einem solchen Maße ernst genommen wird. Je brutaler die Reaktion zuschlägt, desto größere Chancen haben wir. Die preußische Regierung riecht den Atem der Revolution inmitten der scheinbaren Apathie und greift an. Aber damit bewirkt sie nur, dass sich der passive Widerstand in einen aktiven wandelt.«

Aaron Silberstein war hellhörig geworden. »Das klingt mir aber sehr nach diesem … Marx – wie hieß er noch mit Vornamen?«

»Heißt! Noch lebt er ja. Wenn auch in England. Karl, Karl Marx.« Er erinnerte sich gern an die marxsche Polemik, die preußische Führung betreffend. Friedrich Wilhelm IV. hatte er von London aus einen »imbezillen König« genannt und Ferdinand von Westphalen, den Innenminister, einen »schwachköpfigen und fanatischen Reaktionär« und hinzugefügt, er habe genügend Gelegenheit gehabt, die Geisteskraft dieses Mannes richtig einzuschätzen, da er sein Schwager sei. »Und weißt du auch, wer beim Kölner Kommunistenprozess, über den Marx sich so aufgeregt hat, einen Meineid nach dem anderen abgelegt hat, um damit Karriere zu machen?«

Aaron Silberstein wusste es. »Ja, unser lieber Dr. Stieber. Und gleich nachdem er in Berlin Polizeidirektor geworden ist, Hinckeldeys rechte Hand, hat er alle verhaften lassen, die Kalabreserhüte aufhatten, weil er geträumt hatte, daran würde man die Revolutionäre erkennen.«

»Die nächste Revolution wird etwas auf sich warten lassen«, sagte Blumenow. »Erst wird es ein paar Kriege geben. Preußen als Großmacht – wie soll das gut gehen?«

Aaron Silberstein winkte ab. »Du, es gibt schlimmere Länder.«

Blumenow lachte. »Wenn du Glück allein als die Summe des Unglücks verstehst, dem man entgangen ist, dann schon. Aber wenn man unser Dasein an den Utopien misst, an Bacon, Morus, Campanella … Ich kämpfe jedenfalls dafür!«

»Und ich bin der Advokat, der dich dann wieder aus dem Gefängnis holt.«

Damit verabschiedeten sich die Freunde, und Aaron Silberstein machte sich daran, die letzten Meter bis zum Eingang seiner kleinen Kanzlei zurückzulegen. Das Fenster war etwas geöffnet, und er sah Menuchim Halbleib, seinen Schreiber und Gehilfen, weit nach vorn gebeugt am Pult stehen und eifrig die Feder ins Tintenfass tunken, um lange Sätze zu Papier zu bringen. Er liebte den alten Kauz, der alleinstehend war und eine kleine Wohnung in der nahen Sperlingsgasse gemietet hatte. Sie begrüßten sich und besprachen einen Rechtsstreit, bei dem es um das Zugangsrecht zu einer Wiese am Stralauer Thor ging. Gerade wollte er sich in sein kleines Bureau zurückziehen, da stand Katharina Rosentreter in der Tür. Er eilte auf sie zu.

»Ist dein Vater wieder … hat er sich wieder …« Er stockte, weil er das rechte Wort so schnell nicht fand. »Angefunden« hätte merkwürdig geklungen.

»Nein.« Katharina Rosentreter setzte sich auf den Besucherstuhl.

»Dürfen wir Ihnen etwas reichen, mein Fräulein?«, fragte Halbleib mit einer so tiefen Verbeugung, dass es in seiner Wirbelsäule hörbar knackte.

»Danke, mir ist jeglicher Appetit vergangen.«

»Vielleicht ein Glas Wasser?«

»Nein, erst wenn ich in Ohnmacht falle.«

Aaron Silberstein setzte sich neben sie, dabei aber um so viel Abstand bemüht, dass kein Außenstehender auf die Idee kommen konnte, hier würden Brautleute miteinander plaudern. Nichts drängte ihn auch, ihr nahe zu sein und ihren Körper zu umfangen. Zu hager und knochig war sie ihm und roch irgendwie nach Mottenpulver statt nach Pariser Parfum. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«

»Bei der Polizei haben sie mich sehr herablassend behandelt.«

»Ich muss nachher sowieso zur Polizeidirektion, da werde ich sehen, was ich für dich tun kann. Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

Katharina Rosentreter überlegte einen Augenblick. »Am Dienstagnachmittag gegen drei. Da ist er aus dem Haus gegangen. In dringenden Geschäften. Mehr hat er mir nicht gesagt.«

»Und du kannst dir auch nicht denken, zu wem er wollte?«

»Nein, darüber hat er nie mit mir gesprochen. Und an wen er Geld verliehen hat, das steht in einer dicken Kladde, die er immer in seinem Rock stecken hat.«

Halbleib drehte sich zu ihnen herum. »Eine Reise hat er nicht antreten wollen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

Die Sache war mysteriös, und Aaron Silberstein konnte sich keinen Reim auf Rosentreters Verschwinden machen. Er wusste nur: Geldverleiher wie er leben stets gefährlich.

DIE FÜNFZIGERJAHRE des 19. Jahrhunderts waren geprägt vom Scheitern der deutschen Revolution von 1848. Die Blütenträume vom liberalen Verfassungsstaat waren ausgeträumt, die Reaktion hatte auf ganzer Front gesiegt. König Friedrich Wilhelm IV. indes war, bedingt durch seine Geisteskrankheit, immer weniger in der Lage, das Land zu regieren. Es verfiel in eine Art Winterschlaf.

In Berlin hatte sich die demokratische Linke, organisiert in der »Volkspartei« und den »Demokratischen Volksvereinen« und mit Benedikt Waldeck als Galionsfigur, nach Aufhebung des Belagerungszustandes zunächst noch halten können, doch dann sorgten insbesondere ein Knebelgesetz vom 11. März 1850 und die »Revidierte Städteordnung« vom 30. Mai 1853 für den Kahlschlag. Die Polizei erhielt ein erheblich erweitertes Kontrollrecht über die politischen Vereine und ihre Versammlungstätigkeit, und der Innenminister Ferdinand von Westphalen erklärte 1851, es sei die Pflicht der Behörden, allen bekannten Führern der Demokratie »eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und nach Befinden der Umstände mit Haussuchungen, Beschlagnahme der Papiere und nötigenfalls Verhaftungen vorzugehen«. Besonders starken Repressionen waren die Oppositionellen in Berlin ausgesetzt, wo der Polizeipräsident Karl Ludwig v. Hinckeldey herrschte.

Die Berliner Polizei hatte 1848 anfangs die Revolutionäre unterstützt, war aber dann zur königlichen Armee übergelaufen, nachdem diese die Oberhand gewonnen hatte. In den Folgejahren hatte sich die Königliche Schutzmannschaft zwar redlich bemüht, die öffentliche Ordnung zu hüten, ihr dringlichstes Ziel aber war es gewesen, sich dem Heer anzugleichen. So trug man seit 1850 Pickelhauben, die den Helmen der Soldaten ähnlich waren. Auch die Polizei stand ja einem gefährlichen Feind gegenüber: der Verbrecherwelt.

Das Königliche Polizeipräsidium befand sich am Molkenmarkt 1, also im Gebäude der Stadtvogtei, und dorthin lenkte Aaron Silberstein seine Schritte. Wie immer betrat er das Gebäude mit unguten Gefühlen, so als würde er sich selber dem Henker ausliefern. Aber ab und an ließ sich ein Besuch in diesem Haus nicht vermeiden, wollte er herausbekommen, wie sich die Dinge für seine Klienten entwickelten. Weit kam er diesmal nicht, denn der Wachhabende drängte ihn in eine Nische. Es war Platz zu schaffen für den Polizeipräsidenten, der gerade mit großem Gefolge die Treppe herunterkam. Nicht mehr als drei Meter mochten Aaron Silberstein von Hinckeldey trennen. Hätte er jetzt eine Pistole bei sich gehabt … Er klammerte sich an eine Säule, um nicht unwillkürlich nach vorn zu stürzen und sich auf den so sehr Gehassten zu werfen. Der Anfall ging vorüber, und er besann sich des Grundes seines Besuchs. Aus seiner Studienzeit kannte er noch den einen oder anderen Beamten, und er ließ sich melden, um ein wenig mit ihnen zu plaudern. So bekam er schnell heraus, wen man mit den Nachforschungen im Fall Rosentreter betraut hatte: »den Schlötel«. Aaron Silberstein verzog das Gesicht, dankte für die Information und machte sich auf den Weg zum Kommissarius.

Ernst Theodor Schlötel stammte aus Fürstenberg an der Havel und war als königlicher Feldwebel zur Polizei gekommen. Er war groß gewachsen und dabei eher hager. Kantig wie sein Schädel war auch seine Art. Sein weizenblondes Haar trug er kurz geschoren, sodass manche es mit einem Stoppelfeld verglichen. Als wortkarg und vierschrötig galt er, und eine lockere Konversation hielt er für eine »welsche Sache«, eines preußischen Beamten unwürdig. In einem ordentlich geführten Staate hatte man mit allem sparsam umzugehen, auch mit seinen Worten. Nur bei der Ausschüttung seines Samens war er verschwenderisch vorgegangen: Er hatte nicht weniger als acht Kinder gezeugt. Die hatten bald begonnen, jeden Tag eine kleine Untat zu begehen, und bei deren Aufklärung hatte er seine ersten Erfahrungen als Kriminaler sammeln können. Wer etwa hatte die Haselrute des Lehrers heimlich angesägt, sodass sie, als er losprügeln wollte, schon in der Luft zerbrach? Und wer hatte der Hökerin auf dem Markt einen Apfel geklaut?

»Ich komme«, begann Aaron Silberstein die Unterredung, »um darauf zu dringen, dass man die Suche nach meinem Mandanten Meir Rosentreter etwas intensiver betreibt.«

Schlötel ließ sich nicht davon abhalten, an einer Speckschwarte zu kauen. »Da ist nichts zu suchen.«

Aaron Silberstein fuhr auf. »Sie meinen, weil er Jude ist, müsse man nicht …«

»Da ist nichts zu suchen«, wiederholte Schlötel ohne jede Regung.

»Wieso?«

»Weil nur noch etwas zu finden ist.«

Aaron Silberstein rang die Hände. »Ja, er.«

»Nein, seine sterblichen Überreste.«

»Das ist ja entsetzlich! Was wissen Sie?«

»Ich habe seinen Mörder schon dingfest machen können.«

»Und wer ist es?«

»Das können Sie morgen in der Zeitung lesen.«

Das Duell des Herrn Silberstein

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