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EINS

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«EINE GEWALTTÄTIGE, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich!», rief Friedrich Riese, Leiter des Amtes V im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), und berauschte sich an den Worten des Führers, die er fehlerfrei wiedergeben konnte. «Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. »

Diese Ansage galt einer Schar von Kriminalanwärtern, die sich in einem Innenhof des Gefängnisses Plötzensee vor ihm aufgebaut hatte, aber nicht zuletzt auch dem altgedienten Kriminalkommissar Hermann Kappe, den Riese für einen Weichling hielt, der längst eine Lektion verdient hatte. Mehr noch, er hatte das Gefühl, dass Kappe mit dem Widerstand sympathisierte, jedenfalls war er durch nichts zu bewegen gewesen, Mitglied von SA und NSDAP zu werden.

«Wir werden gemeinsam der Vollstreckung eines Todesurteils beiwohnen», verkündete Friedrich Riese. «Hingerichtet wird der Friseur Thomas Bethge, zum Tode verurteilt wegen Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung.»

«Richtig!», rief der forsche Kriminalanwärter Männel. «Zum Teufel mit allen Saboteuren und Volksschädlingen!»

«So ist es.» Friedrich Riese nickte, und es war kein Zufall, dass sein Blick dabei in Richtung Hermann Kappe ging. «Mit solchen Leuten wird kurzer Prozess gemacht!»

Hermann Kappe wusste, dass es in der nächsten Stunde auch um seinen Kopf ging. Dieser Friseur war ein Bruder im Geiste, und schrie er auf, wenn Bethge geköpft wurde, oder versuchte er gar, diesen Akt der Barbarei zu verhindern, dann kam er postwendend ins KZ. Dass er ganz oben auf Rieses Abschussliste stand, hatte man ihm schon gesteckt.

«In den ersten Jahren nach der Machtübernahme sind die Verbrecher teilweise noch mit dem Handbeil hingerichtet worden», erläuterte Riese. «Am 14. Oktober 1936 aber hat der Führer entschieden, dass die Todesstrafe in Deutschland künftig überall mit der Guillotine zu vollstrecken ist. Hier in Plötzensee ist eine Arbeitsbaracke als Ort der Hinrichtung bestimmt worden. Das Fallbeil wurde aus der Strafanstalt Bruchsal herbeigeschafft. Im Hinrichtungsraum sehen Sie ferner einen Stahlträger, der auf Weisung des Führers nachträglich eingezogen worden ist und an dem acht Eisenhaken befestigt sind. Hier sind im Dezember 1942 im Vierminutentakt all die ehrlosen Lumpen erhängt worden, die sich des Hoch- und Landesverrats schuldig gemacht haben.»

Kappe schluckte. Für ihn standen die Männer der Roten Kapelle, insbesondere Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack und Hans Coppi, für das gute Deutschland, und sie hatten stellvertretend auch für ihn gehandelt.

«Wir begeben uns nun in den Hinrichtungsraum», ordnete Riese an. «An diesen grenzt der große Zellenbau, das Haus III, in dem die zum Tode Verurteilten untergebracht sind. Ihre letzten Stunden verbringen sie gefesselt in besonderen Zellen im Erdgeschoss.»

Ein kalter Schauer erfasste Kappe, es war schon fast Schüttelfrost. Dieses Warten auf den Tod musste die Hölle sein. Bei Fontane hatte er einmal eine solche Szene gelesen. In dessen frühem Roman Vor dem Sturm war im Oderland ein Aufstand gegen die französischen Besatzer gescheitert, und Lewin von Vitzewitz sah auf der Festung Küstrin seiner Hinrichtung entgegen.

Allmählich stieg die ganze furchtbare Wirklichkeit vor ihm herauf, und er lauschte, ob er nicht schon den Tritt eines ihn abholenden Wachkommandos hören könne. Wusste er doch, dass die Morgendämmerung die Zeit für sol che Szenen sei.

Aber was war die Stunde? Er griff nach der Uhr und ließ sie repetieren. Fünf. Das war noch zu früh; es konnte nicht vor sechs geschehen. Also noch eine Stunde Leben, aber auch noch eine Stunde Tod, und er wünschte sich die Minuten weg, um Gewissheit zu haben. Das Letzte, das Schreckliche konnte nicht so schrecklich sein wie diese Qual.

So musste es diesem Thomas Bethge ergehen, und anders als bei Lewin von Vitzewitz, der in letzter Sekunde von den Seinen gerettet wird, gab es für ihn keinerlei Hoffnung mehr.

Der Scharfrichter zog das Fallbeil nach oben, der Todeskandidat wurde in den Raum geführt.

Hermann Kappe wünschte sich, dass eine Krankenschwester kam und ihm ein Narkosemittel spritzte, damit er erst wieder aufwachte, wenn alles vorüber war. Schnell war ihm klar, dass er dieses Narkosemittel selbst produzieren musste – in seinen Gedanken. Vielleicht schaffte er es, sich selbst in eine hypnotische Trance zu versetzen. Er fixierte die Eisenhaken oben am Balken und begann, von hundert rückwärts zu zählen. Dabei kam er immer wieder durcheinander, denn der Strom seiner Gedanken ließ sich nicht aufhalten: Jeden Tag gibt es Tausende von Toten, da spielt dieser eine auch keine Rolle mehr … Der Mann ist selber schuld an seinem Schicksal … Das ist doch alles nur ein Film, gleich ist das Kino aus …

Überlagert wurde das alles von Bildfetzen, die er nicht unterdrücken konnte. Da spazierte er als Gendarm durch Storkow. Da ruderte er mit Klara und den Kindern auf den Scharmützelsee hinaus. Da jubelte er Max Schmeling zu.

Zwei Schreie rissen ihn in die Wirklichkeit zurück. Den einen hatte Thomas Bethge ausgestoßen, als man seinen Kopf auf der Guillotine fixiert hatte, den anderen der forsche Kriminalanwärter Männel, bevor er kollabierte. Damit hatte Friedrich Riese sein Opfer gefunden, und Hermann Kappe war gerettet.

Unterm Fallbeil

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