Читать книгу Unterm Fallbeil - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 9

VIER

Оглавление

AUF DIE WELT GEKOMMEN war Eberhard Bethge am 14. April 1920 in Berlin-Neukölln als Sohn des Einzelhandelskaufmanns Gottfried Bethge und der Plätterin Elfriede Bethge, geborene Radasewski. Insgesamt drei Kinder waren es, die in der Weisestraße aufwuchsen. Sein Bruder Thomas war zwei Jahre älter, seine Schwester Ursula ein Jahr älter. Gottfried Bethge kümmerte sich wenig bis gar nicht um seine Kinder, sein Denken kreiste einzig und allein um seinen Kolonialwarenladen – und den Alkohol. Er war der Trunksucht verfallen, auch wenn man ihm das tagsüber kaum anmerkte. Und wenn er einmal etwas über den Durst getrunken hatte, dann stand seine Frau im Geschäft. Die Kinder galten, Ursula ausgenommen, als gescheiterte Existenzen. Aber immerhin hatten die beiden Brüder ihre Lehre erfolgreich zu Ende gebracht, Eberhard als Drogist, Thomas als Kaufmannsgehilfe.

Thomas Bethge führte zwar ein unstetes Leben, brachte es aber als Handelsvertreter und durch verschiedene krumme Geschäfte zu einem gewissen Wohlstand. Jedenfalls hatte er bei Kriegsbeginn so viel Geld beisammen, dass er sich in Mahlsdorf ein Grundstück mit einem kleinen Häuschen kaufen konnte. Er heiratete ganz bürgerlich, doch verließ ihn 1942 seine Frau wegen eines anderen Mannes. Daraufhin stürzte er sich mit aller Kraft auf seinen Grünkramladen, sein Obst- und Gemüsegeschäft in Köpenick.

Mit den Nazis hatte er nichts im Sinn, und mit seiner Chuzpe gelang es ihm auch, sich lange Zeit vor dem Kriegsdienst zu drücken. Als man ihn Anfang 1944 doch noch zu den Soldaten holen wollte, ließ er sich von einem befreundeten Chirurgen den rechten Zeigefinger amputieren, ohne den sich kein Gewehr bedienen ließ. Er gab an, sich den Finger beim Holzhacken abgetrennt zu haben, aber die Nazis durchschauten diesen Trick und schleppten ihn vor ein Gericht, wo er wegen Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung zum Tode verurteilt wurde. Doch das war nicht alles: Er hatte auch Waren aus seinem Geschäft abgezweigt und zu Schwarzmarktpreisen verkauft und sich – was viel schwerer wog – an der Plünderung der Villa eines Nazi-Bonzen beteiligt, die von einer Bombe getroffen worden war.

Sein Bruder Eberhard zeichnete sich durch oberflächlichen Charme und Wortgewandtheit aus, war jedoch unfähig, sein Leben zu planen, und legte weder in großen noch in kleinen Dingen Verantwortungsgefühl an den Tag. Er sah aus wie eine Mischung aus Maler, Schauspieler und Primgeiger und konnte seine Eroberungen gar nicht mehr zählen. Er war eben ein Filou.

Lange Zeit war er wegen seines schlechten Rufs nicht einberufen worden, doch im September 1943 erwischte es ihn schließlich doch, und er hatte sich in einer Pionierkaserne in Berlin-Spandau einzufinden. Als feststand, dass er nach Abschluss der Grundausbildung an die Ostfront kommen sollte, setzte er sich Anfang Februar 1944 von seiner Truppe ab und versuchte, von Spandau nach Mahlsdorf zu gelangen. Irgendwie hatten sein Bruder und er alles vorausgeahnt und neben dem Haus in Mahlsdorf ein Versteck angelegt, von dem sie annahmen, dass es nicht einmal die Gestapo finden würde. Doch in Berlin waren überall Streifen unterwegs, um Deserteure aufzugreifen, und so schaffte es Eberhard Bethge nicht, sich nach Mahlsdorf durchzuschlagen. Es hätte ihm auch wenig genützt, denn mit seinem Bruder hatte man ja inzwischen in Plötzensee kurzen Prozess gemacht – was er allerdings nicht wusste. Auf der Flucht versteckte er sich vor den Feldjägern auf dem Güterbahnhof Westend in einem dort abgestellten Waggon. Der wurde plötzlich von außen verschlossen – und er saß in der Falle. Halb verhungert und verdurstet kam er erst zwei Tage später in Bremen wieder frei. Fürs Erste fand er ein Versteck in einem zerbombten Haus in Findorff. Am nächsten Morgen wagte er sich auf die Straße, um etwas zu essen und zu trinken zu suchen. Dabei traf er die Briefträgerin Grete Meyerdierks, die ihn mit nach Hause nahm. Sie wollte dem ausgehungerten Mann helfen, außerdem war es für sie eine Gelegenheit, sich an ihrem Mann rächen, der – wie sie erfahren hatte – als Soldat regelmäßig ins Frontbordell ging.

Eberhard Bethge erwachte gegen vier Uhr morgens und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo er gerade war. Ah ja, in Bremen, in Gretes Ehebett. Als er sich aufrichtete, schreckte sie hoch.

«Richard?»

«Nein, Eberhard.»

Sie rieb sich die Augen. «Ich dachte schon, mein Mann hat plötzlich Heimaturlaub bekommen.»

Er umarmte sie gierig. «Ein letztes Mal noch …»

«Ich muss pünktlich auf der Post sein!», rief sie, aber ihr Widerstand war nicht ernst gemeint.

So liebten sie sich noch einmal mit der Leidenschaft und Verzweiflung zweier Verlorener. Danach frühstückten sie wortlos und verabschiedeten sich unter heißen Tränen. Er musste verschwinden, denn die Nachbarn waren schon aufmerksam auf ihn geworden. Grete Meyerdierks hatte ihm eine alte Eisenbahneruniform verschafft, mit der er sich in der Stadt sehen lassen konnte, ohne den herumstreifenden Feldjägern und anderen Bütteln des Staats sofort ins Auge zu stechen.

«Du willst dich wirklich nach Berlin durchschlagen?»

«Ja. Da habe ich ein Versteck, in dem ich bleiben kann, bis alles vorbei ist.»

Ein letzter Kuss, eine flüchtige Umarmung unten im Hausflur, dann lief sie in Richtung ihrer Dienststelle, während er noch eine Minute wartete, damit man sie nicht zusammen sah. Als er dann auf die Straße trat, war sie in einer Gasse verschwunden, die den komischen Namen Im Krummen trug. Er zögerte einen Augenblick, ehe er sich auf den Weg zum Güterbahnhof Findorff machte. Grete Meyerdierks wohnte am Sielwall, und es war zu Fuß ein ganzes Stück. Mit der Straßenbahn zu fahren, wagte er nicht.

Einige Stadtteile Bremens waren ein großes Trümmerfeld, denn seit dem 18. Mai 1940 gab es schwere Luftangriffe der Royal Air Force und der United States Air Force. Sie galten den Werften, auf denen Kriegsschiffe produziert wurden, und den Flugzeugfabriken. Aber bei großflächigen Bombardements wurden auch ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt wie etwa die Ostertorvorstadt. Am Pfingstsonntag 1943 hatte es 238 Tote gegeben, am 26. November 1943 sogar 270 Tote – und das bei Tagesangriffen.

Einen solchen fürchtete Eberhard Bethge auch an diesem Vormittag. Aus diesem Grund zögerte er und überlegte, wo es ihn eher treffen konnte: wenn er quer durch die Innenstadt Richtung Hauptbahnhof ging oder aber außen herum an der Weser entlang? Und wo war es weniger wahrscheinlich, dass er einer der Feldjägerstreifen in die Arme lief? Er konnte diese Fragen nicht wirklich beantworten, also folgte er seinem Gefühl und wandte sich zum Fluss. Nach wenigen hundert Metern hatte er den Osterdeich erreicht. Am anderen Ufer erstreckte sich ein ausgedehntes Laubengelände. Einen Augenblick dachte er daran, irgendwie über die Weser zu setzen und sich da drüben zu verstecken, verwarf aber diesen Gedanken sofort wieder, denn zum einen wohnten auch jetzt im Winter viele der Ausgebombten dort in ihren Häuschen, und zum anderen hatte er keine Chance, sich etwas zu essen zu besorgen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit für ihn: das geheime Versteck im Keller seines Bruders Thomas in Mahlsdorf. Doch bis nach Berlin waren es vierhundert Kilometer. Diese Strecke Ende Februar zu Fuß zurückzulegen erschien ihm unmöglich, zumal er die Landstraßen meiden musste. Er war nicht dafür gemacht, durch die Wälder zu streifen und in Heuschobern zu übernachten. Also blieb ihm nur die Bahn. Doch wegen der andauernden Kontrollen konnte er keine Personenzüge nehmen, sondern musste auf die Güterzüge ausweichen. Da setzte er auf die vielen alten Waggons, die wegen des Krieges bei der Reichsbahn noch immer im Einsatz waren und zum Teil noch technisch längst überflüssige Bremserhäuschen hatten. In ein solches konnte er schnell hineinklettern und sich verstecken. Mit seiner Eisenbahneruniform würde er auf den Güterbahnhöfen kein Aufsehen erregen, und sprach ihn jemand an, würde er etwas von einem Geheimauftrag murmeln.

Auf dem Osterdeich war es ihm zu dieser frühen Morgenstunde zu einsam, da fiel er auf, also entschloss er sich, doch durch die Innenstadt zu laufen. Von Grete wusste er, dass der Weg zur Bahntrasse einfach war und er sich nicht verlaufen konnte: den Sielwall hinauf bis zum Ostertorsteinweg und dann immer Am Dobben entlang.

Er gab den Eisenbahner, der es eilig hatte, um pünktlich zum Dienst zu erscheinen, und niemand nahm Notiz von ihm. Das machte ihm Mut, und als er am Ende des Dobben in einiger Entfernung das Postamt sah, spielte er einen Augenblick mit dem Gedanken, hineinzugehen und sich mit seinem Bruder oder seiner Schwester verbinden zu lassen. Er musste unbedingt wissen, wie es ihnen ging. Doch nach ein paar Schritten stoppte er wieder. Nein, das war zu gefährlich, denn bei der Post musste er ihre Namen nennen, und womöglich standen sie schon auf einer Fahndungsliste, denn es war anzunehmen, dass die Gestapo bei Deserteuren alle Angehörigen streng überwachen ließ.

Rechts von ihm rollten die Züge auf einer eisernen Brücke über die Straße hinweg, und aus ihrer geringen Geschwindigkeit schloss er, dass der Hauptbahnhof nicht mehr weit entfernt sein konnte. Und gleich hinter der Bahnhofshalle sollte, so war es ihm beschrieben worden, der Güterbahnhof liegen. Er hatte Gretes Stimme im Ohr: «Du gehst unter der Bahn hindurch und dann nach links. Dort siehst du dann die Bürgerweide, und da ist es auch schon.»

Unterm Fallbeil

Подняться наверх