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01 Richard Janssen: Spiel nicht mit fremden Puppen
ОглавлениеSie fand die Puppe, als sie das Gerümpel auf dem Dachboden aufräumte. Mit ihren großen Augen, dem langen, weizenblonden Haar und den vollen Lippen ließ die Puppe sie sofort an Marion Hansen denken.
Ute war der Frau, mit der Bernd bei »Exact Programming« zusammenarbeitete, bisher nur ein paar Mal begegnet, aber die Begegnungen waren ihr im Gedächtnis haften geblieben. Marion Hansen war nicht die Frau, die man so schnell vergaß.
Die Puppe lag in einem Pappkarton mit abgestoßenen Ecken, und neben ihr fand Ute zwei lange, spitze Nadeln.
Nachdem sie den Dachboden aufgeräumt hatte, nahm sie den Karton mit der Puppe mit nach unten.
»Sie ist einfach ein Genie«, sagte Bernd Junker.
Das warme Licht der untergehenden Sonne schien durch das große Wohnzimmerfenster. Es war schwül. Spätsommer.
»Sie nutzt dich aus«, sagte Ute.
»Marion ist ein Naturtalent, wenn es um Computerprogramme geht«, erwiderte Bernd und wich Utes Blick aus. »Sie schafft in fünf Minuten, wofür andere Systemanalytiker fünf Stunden brauchen.« Er grinste enthusiastisch. »Sie ist eine richtige Powerfrau!«
Ute spürte wieder ihre Eifersucht. »Ihr versteht euch wohl ziemlich gut?«, fragte sie.
»Ach komm!« Bernd schaute aus dem Fenster. »Wir sind Kollegen. Mehr nicht.«
Wirklich?, fragte sie sich. Sie spürte schon seit einiger Zeit, wie Bernd ihr entglitt, und wusste nicht, wie sie es verhindern konnte.
»Man gibt der Puppe den Namen der Person, die der Zauber treffen soll, und fügt ihr das zu, was der Person widerfahren soll«, sagte Dr. Behrend.
Jeden Donnerstag trafen sie sich in der Volkshochschule zu ihrem Kurs »Magie in der modernen Welt«.
Dr. Behrend hob die Puppe hoch, die Ute mitgebracht hatte. »Frau Junker war so nett, uns heute ein Demonstrationsobjekt für den Voodoo-Kult der karibischen Inseln mitzubringen.« Er nahm eine der Nadeln, die in dem Karton gewesen waren. »In seinem Ursprung geht der Voodoo-Kult von einer Übertragung des Geistes auf unbelebte Materie aus«, sagte er und kratzte mit der Nadel ein bisschen am Arm der Puppe. »Wie nennen wir solche kultischen Vorstellungen? Ja, Frau Uhlenbrock?«
»Ganzheitlich-pantheistische Mythologie!«, erwiderte die Frau des Buchhändlers, die zu den eifrigsten Anhängerinnen von Dr. Behrend gehörte.
Ute starrte auf die Schrammen, die die Nadel auf dem Arm der Puppe hinterlassen hatte.
Marion!, dachte sie und schloss dabei die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. So etwas müsste ihr passieren. Nur ein paar Kratzer, damit sie sich daran erinnert, wie verletzbar sie ist.
Marion!
»Du siehst müde aus«, sagte Ute. Bernd hatte sich einen Gin Tonic gemacht und auf die Couch zurückgezogen. Der Fernseher lief ohne Ton.
»Marion ist nicht da«, sagte er. »Für ein paar Tage bleibt alles in der Firma an mir hängen.«
»Was hat sie denn?« Ute starrte auf den Bildschirm. Sie spürte ihr Herz pochen. »Ist ihr was passiert?«
»Sie ist gestürzt, auf dem Tennisplatz«, sagte Bernd und griff zur Fernbedienung. »Und da lagen Scherben von einer Colaflasche. Das war Schlamperei vom Platzwart. Sie hat sich den ganzen Arm zerschnitten. Zum Glück keine tiefen Schnitte, und es sind auch keine Nerven oder Sehnen verletzt – aber sie kann damit nicht arbeiten.« Er regelte den Ton, als die Tagesschau begann. Ute nahm kaum etwas von den bunten Bildern wahr.
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Marieluise Grotewohl und nahm sich noch ein Erdbeertörtchen. Roswitha Bredenbrock neben ihr räusperte sich nur. Sie besaß mehr Taktgefühl.
»Im Bistro an der Oper«, nuschelte Marieluise ganz undamenhaft mit vollem Mund.
»Ah ja«, sagte Ute. Sie zitterte ein wenig. »Manchmal geht er in der Mittagspause dorthin.«
»Mittagspause um halb sechs Uhr am Abend?«, fragte Marieluise.
»Wie wäre es, wenn wir nächste Woche bei unserem Mädelsabend die neue Staffel von dieser Serie schauen?«, schlug Roswitha vor. »Ich habe grade gestern die DVD-Box bestellt!«
»Um halb sechs?«, fragte Ute.
»Ja, am Dienstag«, meinte Marieluise und schaute auf das letzte Erdbeertörtchen. »Und die Blonde, mit der er da war ...«
Ute schob ihr das Törtchen hin.
Marion war blond. Und am Dienstag war Bernd erst spät abends heimgekommen, weil er eine »Besprechung« gehabt hatte.
»Ja, ich habe mit Marion nach Feierabend noch etwas getrunken«, sagte Bernd. »Deine Eifersucht ist einfach lächerlich, Ute!«
Sie saßen auf der Terrasse. Es war schon dunkel, aber die Hitze des Tages hing wie ein schweres Tuch über dem Garten.
»So«, sagte Ute. »Lächerlich?«
Sie bemerkte, wie er zu Boden schaute.
»Du ...« Er brachte den Satz nicht heraus.
Sie wusste, wie schwer er sich manchmal mit der Wahrheit tat, und dass er jetzt nicht in Beteuerungen seiner Unschuld ausbrach, machte sie noch misstrauischer. Und plötzlich war da wieder dieses Gefühl, ihn an die andere verloren zu haben.
»Du würdest doch nicht unsere Ehe wegen einer Affäre aufs Spiel setzen?«, fragte sie. »Das würdest du doch nicht tun, nein?«
Er sagte einen Moment nichts. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er dann.
Sie stand in einem Hauseingang gegenüber dem Gebäude der »Exact Programming«. Es war später Nachmittag, die Angestellten der Firma kamen heraus. Feierabend. Bernd und Marion ließen auf sich warten.
Nach einer halben Stunde fiel Ute das einzelne beleuchtete Fenster in der ersten Etage auf. Sie schaute genauer hin.
Sah Bernd. Und Marion. Er hielt sie im Arm. Sie standen da, unbeweglich. Nur Marions Schultern bewegten sich.
Ute spürte den Stich mitten ins Herz.
Sie starrte auf die Puppe, die vor ihr lag. Es war kurz vor Mitternacht, und Bernd war immer noch nicht daheim. In der Brust der Puppe steckte eine der beiden Nadeln.
Ute zitterte. Ihre Gedanken purzelten durcheinander.
Wut, Hilflosigkeit, Hass.
Als es klingelte, ging sie zur Tür und öffnete.
»Kriminalpolizei, Kommissar Klett«, sagte der Mann, der draußen stand, und zeigte eine Dienstmarke. Auch sein Begleiter ließ eine Marke aufblitzen. Ute wurde schwindelig.
»Ihr Mann ...«, sagte der Kommissar.
»Bernd?« Ihre Stimme war heiser. »Was ist mit Bernd?«
»Wir haben ihn festnehmen müssen«, sagte der Kommissar. »Er hat sich sofort nach der Tat gestellt.«
Er führte Ute ins Wohnzimmer. »Setzen Sie sich doch!«, sagte der andere Kriminalbeamte. Als Ute sich nicht rührte, drückte er sie in einen der Sessel.
»Besser, ich sage Ihnen gleich die ganze Wahrheit«, meinte der Kommissar. »Ihr Mann hat seine Kollegin erstochen. Marion Hansen.« Der Kommissar zögerte kurz. »Er hat alles gestanden. Er hatte eine Affäre mit dieser Frau und wollte sich heute Abend von ihr trennen. Sie drohte, Ihnen alles zu sagen, Frau Junker. Da hat Ihr Mann die Nerven verloren und sie mit einem Brieföffner von einem der Schreibtische erstochen. Mehrere Stiche, mitten in die Brust.«