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Neue Freunde …

Frau Grüttner stellte zwei Becher auf den Tisch und goss in den einen Kakao ein. Dann nahm sie die Thermoskanne aus der Kaffeemaschine und füllte sich den frisch gebrühten Kaffee in den anderen.

„Tobias, dein Kakao ist fertig.“

Der Zehnjährige kam aus dem Kinderzimmer und setzte sich schweigend vor seinen warmen Kakao. Der blonde Wuschelkopf war groß und kräftig für sein Alter und konnte ebenso gut für einen Elfjährigen gehalten werden. Seine Jeans waren verwaschen und trugen auf den Knien bunte Bilderflicken. Sein dunkelblaues Sweatshirt schien neueren Datums zu sein und war ihm sichtlich eine Nummer zu groß.

Mutter und Sohn saßen sich schweigend gegenüber und hielten mit beiden Händen ihre Becher umklammert, als müssten sie sich an ihnen festhalten.

Frau Grüttner wusste, dass Tobias todunglücklich war. Für ihn hatte der Umzug hierher in das kleine Dorf mehr bedeutet als nur einen Schulwechsel, den sie als das eigentliche Problem ansah. Tobias hatte seine vertraute Umgebung aufgeben müssen, seine Klassenkameraden, den Bolzplatz, den Spielplatz, den kleinen Graben, an dem sie immer das Wasser gestaut hatten und seine Piratenhöhle, eine große Röhre aus breiten Betonringen, die irgendwann einmal im Zuge von Kanalisationsarbeiten neben dem Spielplatz liegen geblieben waren.

Das Schlimmste aber war, dass ihn der Umzug von seinem besten Freund, dem Christoph, getrennt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass er daran im Augenblick am meisten zu knabbern hatte.

„Hast du die Kisten schon ausgepackt?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen.

„Nur die Spielsachen, die Klamotten noch nicht“, erwiderte er in sich gekehrt.

„Hast du gemerkt, dass dein neues Zimmer etwas größer ist als dein altes?“

Tobias nickte. Er wäre trotzdem lieber in seinem alten Zuhause geblieben. Aber seine Mutter hatte in der nahen Kreisstadt einen Job als Rechtsanwaltsfachangestellte bekommen, worüber sich anfangs beide sehr gefreut hatten.

Sie hatte seinetwegen und, weil irgendwann, als er gerade vier Jahre alt war, die Scheidung von seinem Vater dazwischenkam, für lange Zeit mit ihrem Beruf ausgesetzt und nun, nachdem er die Grundschule durchlaufen hatte, den Wiedereinstieg in das Berufsleben versucht. Das war gar nicht so einfach gewesen.

Er erinnerte sich noch, wie ihn seine Mutter ein Dreivierteljahr nach ihrem ersten Bewerbungsschreiben mit einem Brief in der Hand wedelnd in der Haustür empfing, als er von der Schule kam.

„Es hat geklappt, wir haben einen Job!“, hatte sie gerufen, ihn hochgehoben und wie wild im Kreis herumgewirbelt.

„Weißt du, was das bedeutet? Selbstverdientes Geld, Unabhängigkeit, weg vom Sozialamt!“

Sie hatten sich wahnsinnig gefreut, obwohl er zunächst nicht ganz verstanden hatte, was „weg vom Sozialamt“ bedeutete. Dann aber hatte sie hinzugefügt:

„Vielleicht erfüllt sich jetzt endlich dein Traum vom eigenen Computer.“

Da hatte er verstanden. Eigenes Geld, eigener Computer. Weg vom Sozialamt hieß: Ende mit der Sparsamkeit, Urlaub vielleicht, in den Süden fliegen, wie das andere Leute jedes Jahr tun.

So weit, so gut. Aber dann kam das dicke Ende. So ganz nebenbei, beim Ausziehen der Jacke, hatte sie gesagt:

„Einen kleinen Haken hat die Sache: Die neue Stelle liegt 115 Kilometer von hier entfernt. Das kann ich nicht jeden Tag fahren. Wir werden umziehen müssen.“

Tobias merkte, wie ihm die Tränen hochstiegen. Er nahm zwei kräftige Schlucke von seinem Kakao, um den dicken Kloß in seinem Hals herunterzuspülen.

„Ich weiß, wie dir zumute ist“, sagte seine Mutter und drückte seine Hände. „Aber du wirst sehen: Alles, was du jetzt noch vermisst, wirst du hier neu entdecken: Freunde, Spielplätze, Sportvereine und ab morgen auch Klassenkameraden.“

Tobias nickte. Der Gedanke, dass er morgen seinen ersten Tag in der neuen Schule hatte, in der er niemanden kannte, erzeugte ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch.

Sie tranken ihre Becher aus und erhoben sich.

„Ich mache dir einen Vorschlag, Tobias, ich packe deine Kleiderkisten aus und du fährst ein bisschen durchs Dorf und erkundest unsere neue Umgebung.“

Tobias hatte eigentlich keine große Lust, dieses langweilige kleine Dorf zu erkunden. Andererseits wollte er seiner Mutter auf keinen Fall etwas vorheulen. Außerdem war er fest davon überzeugt, dass er ohnehin nicht länger als fünf Minuten brauchte, um einmal das Dorf zu umrunden.

Also nahm er das Angebot an. Er zog seine Jacke über, verließ die neue Wohnung, die im ersten Stock lag, stieg lustlos die 24 Stufen des Treppenhauses hinunter und trat ins Freie. Draußen blendete ihn die Nachmittagssonne. Zu dieser Jahreszeit, Anfang Oktober, stand die Sonne schon recht tief um diese Zeit, und in einer Stunde würde sie kaum noch zu sehen sein. Er entfernte das Fahrradschloss von seinem Drahtesel und radelte los.

Die Straße war neu, teilweise noch gar nicht fertig. Vor seinem Haus fehlte zum Beispiel der Bitumenbelag. Sie sollte sich mal als Ring durch das ganze Neubaugebiet schlängeln. Deshalb hatte man sie Hasenring genannt.

„Total bekloppt“, dachte Tobias. „Klingt ja wie Nasenring!“

Neben dreigeschossigen Mietshäusern gab es viele sehr unterschiedliche Einfamilienhäuser, in deren Gärten noch riesige Erd- und Sandhaufen lagen. Im vorderen Bereich der Straße, am Übergang zum alten Dorf, waren die Gärten schon angelegt. Die Bäume und Büsche waren allerdings gerade erst gepflanzt worden und sahen noch etwas mickrig aus.

Tobias registrierte einige Leute, die sich eifrig bemühten, aus ihren Bauschutt- und Sandwüsten ansprechende Gärten zu gestalten, er sah aber nur wenige Kinder. Sie waren jünger als er und wühlten mit kleinen Schaufeln und Eimerchen in den großen Dreckhaufen herum. Er umkurvte eine Baustellenabsperrung und sah zwei Jugendliche auf sich zukommen, ein Mädchen und einen Jungen. Tobias schätzte sie auf etwa 16 Jahre. Sie hatten sich untergehakt und blödelten herum. Für wenige Sekunden war Tobias durch die beiden so abgelenkt, dass er einen Haufen mit Baumaterialien übersah, der vor ihm durch Flatterband ordnungsgemäß abgesichert auf der Straße lag. Er durchbrach das Band, knallte in einen Palettenstapel hinein und flog mit dem Kopf voran über seinen Lenker. Sein Rad überschlug sich und blieb neben ihm liegen.

Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Er musste sich erst einmal sortieren. Seine rechte Schulter brannte und seine Hose hatte über dem linken Knie ein Loch.

„Mist“, dachte er. „Für die Hose hat Mama so viel Geld ausgegeben!“

Die beiden Jugendlichen kamen angelaufen.

„Bist ja ein echt geiler Radfahrer“, sagte der Junge, „aber am Salto solltest du noch ein bisschen arbeiten.“

„Sei nicht so fies“, schimpfte das Mädchen. „Siehst du nicht, dass er blutet?“

„War ja nicht so gemeint, komm, ich helfe dir mal hoch.“

Damit griff er Tobias unter die Achseln und stellte ihn auf die Beine.

In Höhe der Unfallstelle öffnete sich die Haustür eines Einfamilienhauses. Eine Frau kam heraus.

„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt. „Ich habe aus dem Küchenfenster gesehen, wie du über den Lenker geflogen bist.“

„Wie du siehst, steht er schon wieder“, sagte das Mädchen. „Aber er blutet am Knie.“

Für einen Augenblick war Tobias überrascht, dass die beiden sich zu kennen schienen. Aber als die Frau sagte: „Komm, Corinna, wir bringen ihn ins Haus“, merkte er, dass sie Mutter und Tochter waren.

Tobias war es ein bisschen unangenehm, von den drei Fremden so umsorgt zu werden und wollte den Rückzug antreten.

„Vielen Dank, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Ich wohne gleich oben am Hasenring und kann schnell nach Hause fahren.“

Corinnas Mutter schaute zweifelnd zu Tobias´ Fahrrad, das mit einer leichten Acht im Vorderrad und einem verbogenen Lenker zwischen den Paletten lag.

„Vielleicht kann sich Matthias ja mal um dein Fahrrad kümmern“, sagte sie mit Blick auf Corinnas Freund. „In der Zwischenzeit schaue ich mir mal deine Verletzungen an.“

Sie schob Tobias vor sich her ins Haus. >STEINER< stand auf dem Klingelschild. Tobias bemerkte, dass auch diese Familie erst vor Kurzem eingezogen sein konnte.

Die Garderobe war wie der Spiegel noch nicht an die Wand gedübelt, sondern stand an ein Schränkchen gelehnt auf dem Boden. Corinnas Mutter lotste ihn in die Küche und deutete auf einen Stuhl. Tobias setzte sich, zog vorsichtig den Stoff seiner zerrissenen Hose vom Knie zurück und legte seine Wunde frei. Die Blutung stand inzwischen, die Wunde sah aber insgesamt sehr verschmutzt aus.

„Ich mach’s drumherum ein bisschen sauber und desinfiziere die Wunde. Keine Angst, das Zeug brennt nicht“, fügte sie schnell hinzu, als sie merkte, dass Tobias unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann.

Sie hatte sich gerade vorsichtig an die Arbeit gemacht, als ein blonder Schopf in der Küchentür erschien.

„Was ist denn hier los?“, fragte der Junge.

Er war einen Tick größer, aber wesentlich schmaler als Tobias, der ihn als gleich alt einschätzte.

„Du kommst gerade richtig, Philipp“, sagte seine Mutter. „Der junge Mann hier ist vor unserem Haus gestürzt. Du könntest mal ein Pflaster abschneiden.“

Dann schaute sie Tobias an und fragte: „Wie heißt du eigentlich?“

„Tobias Grüttner.“

Frau Steiner lächelte ihn freundlich an.

Die Blicke der Jungen streiften sich. Keiner der beiden verzog eine Miene. Philipp schnitt ein Pflaster zurecht und gab es seiner Mutter. Die besprühte gerade Tobias’ Knie mit einem Wunddesinfektionsspray, und Tobias registrierte dankbar, dass es tatsächlich nicht brannte.

„Wann seid Ihr eingezogen?“, fragte sie und klebte das Pflaster behutsam über die Wunde.

„Heute Vormittag.“

„Oh, dann war das sicher dein erster Ausflug hier im Dorf?“

Tobias nickte. „Und mein erster Unfall.“

Frau Steiner lachte. „Hoffentlich bleibt es bei dem einen. So viele Fahrräder zum Wechseln wirst du wohl nicht haben.“

„So viele Hosen auch nicht“, erwiderte Tobias und grinste.

Er erhob sich und schaute aus dem Küchenfenster auf die Straße. Sein Fahrrad stand jetzt vor dem Haus. Der Lenker war gerichtet, aber ob das Vorderrad in Ordnung war, konnte er von hier aus nicht sehen.

„Dann werde ich mal nach Hause fahren“, sagte er und fühlte vorsichtig nach seiner Schulter. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Magst du Tobias ein Stück begleiten?“, fragte Frau Steiner an Philipp gewandt. „Du warst heute auch noch nicht draußen und jetzt scheint noch so schön die Sonne.“

„Wenn’s sein muss“, sagte der, eher gelangweilt.

Die Jungen verließen das Haus, und während Philipp sein Rad aus dem kleinen angebauten Schuppen holte, begutachtete Tobias sein Fahrrad. Lenker und Schutzbleche saßen wieder richtig, aber das Vorderrad wies nach wie vor eine kleine Acht auf.

„Gibt es hier irgendwo ein Fahrradgeschäft?“, fragte Tobias, als Philipp mit seinem Rad um die Hausecke kam.

„In Sanddorf“, nickte Philipp. „Das ist die nächste Kreisstadt.“

„Ich weiß“, sagte Tobias und schob sein Rad zur Straße zurück. „Nach Sanddorf muss ich ab morgen zur Schule.“

„Alle, die hier wohnen, müssen nach Sanddorf zur Schule“, sagte Philipp. „Ich auch.“

Er schwang sich auf sein Rad.

„Ich glaube, ich muss schieben“, meinte Tobias. „Das Vorderrad eiert zu stark.“

Philipp stieg ab. „Okay, schieben wir also ein Stück.“

Tobias schaute ihn an. Er fand seinen Begleiter recht nett, und dass der sein eigenes Rad jetzt neben ihm herschob, statt vorauszufahren, rechnete er ihm hoch an.

„In welche Schule gehst du denn in Sanddorf?“, fragte Tobias.

„Hegelstraße, 5. Klasse“, erwiderte Philipp und schoss einen Kieselstein zur Seite.

„Da muss ich auch hin“, sagte Tobias überrascht.

„In welche Fünfte gehst du?“

„Es gibt drei. Ich gehe in die b-Klasse.“

„Ich weiß noch nicht, in welche Fünfte ich genau komme“, sagte Tobias. „Auf jeden Fall werden wir uns dann auf dem Schulhof sehen.“

Philipp nickte.

„Welche Nummer wohnt Ihr?“, fragte er.

„32. Das ist da oben, wo die Straße noch nicht fertig ist.“

Ein LKW mit Sand beladen bahnte sich langsam seinen Weg an den Paletten mit roten Klinkersteinen vorbei, die vor einem Neubau am Straßenrand standen.

„Spielst du Fußball?“, fragte Philipp.

„Nicht im Verein. Aber ich glaube, ich spiele ganz gut.“

„Wir spielen immer in den Pausen auf dem Schulhof. Hier in Dolben gibt es, glaube ich, keinen Bolzplatz.“

„Ziemlich ödes Nest hier, was?“, meinte Tobias.

„So genau kenne ich mich in Dolben noch nicht aus“, erwiderte Philipp. „Wir wohnen schließlich auch erst vierzehn Tage hier. Wenn du Lust hast, können wir ja mal gemeinsam losziehen und gucken, wo was los ist.“

„Gute Idee“, freute sich Tobias. „Aber jetzt muss ich meiner Mutter erst mal das demolierte Fahrrad und die zerrissene Hose beichten.“

Sie hielten vor Tobias’ neuem Zuhause.

„Kommst du noch mit rauf?“

„Ich kann nicht. Meine Schwester wartet auf mich. Wir wollen ein neues Spiel auf dem Computer installieren. Wir sehen uns morgen in der Schule.“

„Du hast einen eigenen Computer?“

„Mit meiner Schwester zusammen“, nickte Philipp“, hast du auch einen?“

„Ich bekomme vielleicht demnächst einen eigenen.“

„Toll“, sagte Philipp. „Also, dann bis morgen!“

Er wendete sein Rad und rauschte davon.

„Bis morgen! Und vielen Dank noch mal!“, rief Tobias ihm nach.

Der Gedanke, schon am ersten Tag einen neuen Freund gefunden zu haben, ließ ihn Schulter und Knie kaum noch spüren.

Der verbotene Park

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