Читать книгу Der verbotene Park - Hubertus von Wick - Страница 5

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… neue Feinde

„Viel Glück für deinen ersten Tag“, raunte Frau Grüttner ihrem Sohn zu, als sie den langen Flur der neuen Schule entlanggingen, auf der Suche nach dem Rektorzimmer. Sie wusste, dass sie ihn jetzt weder in den Arm nehmen noch ihm einen Kuss geben durfte. Es war ungeheuer peinlich, wenn die anderen einen dabei beobachteten, wie man – als Zehnjähriger – von seiner Mutter geküsst wurde.

„Danke“, raunte Tobias zurück. „Holst du mich nachher wieder ab?“

„Klar. Ich will nur erst einmal hören, wann du heute aus der Schule kommst. Dann bringe ich als Erstes dein Fahrrad zur Reparatur und schaue mich dabei gleich in Sanddorf ein wenig um. Um 10.00 Uhr habe ich einen Termin in meiner neuen Kanzlei. Ich soll mich vorstellen. Danach hole dich wieder ab. Ehe wir nach Hause fahren, müssen wir allerdings noch eine neue Hose für dich besorgen, die alte hat ja nicht lange gehalten.“

Tobias nickte. Seine Mutter war ganz schön erschrocken gewesen, als er gestern Nachmittag nach Hause gekommen war. Nicht nur wegen der Hose und des verbogenen Fahrrades. Sie hatte entdeckt, dass auch die Schulter völlig verschrammt und das Hemd aufgerissen war. Zum Glück hatte er ihr ausreden können, einen Arzt aufzusuchen. Mütter sind immer so übertrieben besorgt!

„Hier ist es“, sagte seine Mutter und klopfte an die Tür des Schulleiters.

„Bärmann – Rektor“, stand auf einem kleinen Schildchen neben der Tür. Ein mittelgroßer bärtiger Mann von kräftiger Statur öffnete und begrüßte sie freundlich.

„Kommen Sie herein und nehmen sie Platz“, sagte er und deutete auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.

„Sie sind neu zugezogen?“, fragte er und blätterte in einer dünnen Akte.

„Gestern erst“, nickte Frau Grüttner. „Nach Dolben.“

„Dann müssen wir erst einmal eine Klasse für dich finden“, überlegte er und lächelte Tobias an. „Irgendwelche Wünsche?“

„5 b“, sagte Tobias spontan, und seine Mutter schaute ihn überrascht an.

„5 b ist gut“, nickte Bärmann gleichmütig. „Die haben heute eine Stunde eher aus. Hast du das gewusst?“

„Nein“, erwiderte Tobias wahrheitsgemäß, und sein Herz klopfte ihm vor Freude bis zum Hals. Er hätte sich nicht im Traum vorstellen können, dass man ihn fragen würde, in welche Klasse er gehen möchte! Philipp würde Augen machen!

„Es wird gleich läuten“, sagte Bärmann“, ich bringe dich in deine neue Klasse. Deine Klassenlehrerin ist Frau Lüttke. Sie wird sich um alles weitere kümmern.“

Und an Frau Grüttner gewandt fügte er hinzu: „Tobias wird heute um viertel vor Eins aus der Schule kommen.“

Frau Grüttner bedankte sich und verabschiedete sich von beiden. Als sie auf dem Flur auseinandergingen, winkte ihr Tobias unauffällig nach, was sie ebenso unauffällig erwiderte.

***

Es war 11.45 Uhr, als Tobias zur zweiten großen Pause zum ersten Mal den Schulhof betrat. In der ersten großen Pause hatte er vom Schulassistenten die Bücher bekommen und zu seiner Überraschung festgestellt, dass das Mathebuch das gleiche war, das sie an seiner alten Schule auch schon gehabt hatten. Dann war er mit Philipp und ein paar Klassenkameraden durch die Schule gepilgert und hatte sich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht.

Er hatte im Großen und Ganzen mit der 5 b eine gute Wahl getroffen. Fünf seiner neuen Klassenkameraden kamen aus Dolben, darunter zwei Mädchen. Sie waren sehr hilfsbereit gewesen, als er heute Morgen neu in die Klasse kam, und Philipp hatte erwartungsgemäß sehr überrascht geguckt.

Er hatte sich leider neben ein Mädchen setzen müssen, worüber einige ziemlich blöd gekichert hatten, aber neben Philipp oder den anderen Jungen war kein Platz mehr frei gewesen. Da sich Mareike jedoch überhaupt nichts daraus zu machen schien, ihm im Gegenteil gleich ihr Buch herüberschob, weil er noch keines hatte, da hatte es ihn auch nicht weiter gestört.

Tobias holte tief Luft. Er hätte jetzt gern einen Happen gegessen, hatte aber heute Morgen in der Aufregung sein Brot zu Hause liegen lassen. Der Vormittag hatte ihn ziemlich geschlaucht. So viele neue Eindrücke waren auf ihn eingestürmt, so viele neue Gesichter, so viele Fragen.

Er suchte in seiner Tasche nach einem Geldstück, um sich beim Hausmeister irgendetwas Essbares zu kaufen, stellte aber fest, dass er – natürlich – eine andere Hose anhatte als gestern. Genau aus diesem Grunde hasste er es, sich umzuziehen, weil alles, was man in diesem Moment brauchte, mit Sicherheit in der Hose steckte, die man gerade nicht anhatte.

Auf dem Schulhof entstand ein Tumult. Die Schüler liefen in Scharen zusammen und umringten zwei Jungen, die offensichtlich kurz davorstanden, sich zu prügeln. Tobias hatte keine Lust auf weitere Aufregungen und wollte sich gerade abwenden, als er be­merkte, dass einer der Streithähne Philipp war. Und ihm gegenüber standen nicht ein, sondern standen gleich drei Gegner, die ihn ernsthaft bedrohten.

Tobias bahnte sich eine Schneise durch die Menge.

„Was willst du Würstchen denn allein gegen uns drei ausrichten?“, hörte er den Wortführer der drei gerade sagen, wobei er Philipp einen kräftigen Stoß gegen die Schulter versetzte.

Er war etwas größer als Philipp. Tobias schätzte, dass er in eine der 6. Klassen gehörte.

Tobias stellte sich direkt neben Philipp und sagte ganz ruhig:

„Du kannst wohl nicht zählen, Rambo. Wir sind zu zweit, und solltest du einen von uns noch einmal anfassen, fängst du dir ein Paar rote Ohren ein.“

Dem Wortführer verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Für einige Sekunden wurde es merklich stiller um sie herum. Man konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, weil er Tobias noch nie zuvor gesehen hatte, und ihn deshalb auch nicht einschätzen konnte. Sekunden später hatte er sich aber wieder in der Gewalt.

„Hör mal, Kleiner, du bist wohl lebensmüde“, drohte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Mit einem raschen Griff packte er Tobias am Kragen und zog ihn zu sich heran. Tobias aber ergriff mit beiden Händen die Jacke seines Gegners und ließ sich rücklings auf den Boden fallen. Im Fallen riss er seinen Kontrahenten mit sich, der der Länge nach über ihn hinweg auf den Boden stürzte. Mit einer kurzen Drehbewegung war Tobias über ihm und drückte sein Gesicht nach unten auf den Boden.

„Na, was ist jetzt? Reicht es fürs Erste oder willst du noch eins aufs Auge?“, fragte Tobias ganz außer Atem.

Die beiden Freunde des am Boden Liegenden schickten sich an, ihm zur Hilfe zu eilen, aber da machte Philipp einen Schritt nach vorn und drohte:

„Lasst es lieber, sonst liegt da gleich noch einer auf der Erde.“

„Haut ’se, haut ’se, immer auf die Schnauze!“, schrien die Umherstehenden im Chor, aber da bahnte sich schon ein Lehrer den Weg durch die Menge und beugte sich zu den beiden herunter.

„Was ist hier los?“, fragte er scharf.

Tobias erhob sich langsam und auch sein Gegner rappelte sich auf. Sein Gesicht war vom Schmutz des Schulhofes ganz streifig, wies aber ansonsten keine Verletzungen auf.

„Wir sind irgendwie übereinander gefallen“, sagte Tobias. „Sonst war eigentlich nichts.“

„Stimmt das, Marco?“, fragte der Lehrer nun den anderen, der sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Dreck aus dem Gesicht wischte.

„Ja, so ungefähr.“

„Dann geht euch jetzt lieber aus dem Weg“, schlug der Lehrer vor und wandte sich ab.

„Wir sehen uns noch“, zischte Marco Tobias zu und wandte sich ab. Seine Freunde folgten ihm.

„Ich freue mich drauf“, rief Tobias ihnen nach.

Philipp trat an ihn heran.

„Mann, das war ja eine tolle Vorstellung von dir“, sagte er. „Danke für deine Hilfe.“

„Worum ging es eigentlich?“, fragte Tobias.

„Die drei sind aus Dolben, und zwar aus dem alten Dorf. Sie können die Leute aus dem Neubauviertel nicht leiden, weil die für sie die Reichen sind, die angeblich ihr Dorf kaputtmachen, oder so. Jedenfalls müssen sie sich dauernd aufspielen. Von daher war es mal ganz gut, dass sie jetzt eins aufs Maul bekommen haben.“

„Das Problem ist nur, dass der Streit in Dolben weitergehen wird. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen“, gab Tobias zu bedenken.

„Gemeinsam sind wir stark“, sagte Philipp feierlich und klopfte Tobias auf die Schulter.

Der schaute an sich herunter und stöhnte auf.

„Meine Mutter bringt mich um“, seufzte er und klopfte vergeblich an seiner Hose herum. „Das ist die zweite versaute Hose in zwei Tagen.“

***

„Wie siehst du denn schon wieder aus“, empfing Frau Grüttner prompt ihren Sohn, als er zu ihr ins Auto stieg.

„Tut mir leid, bin hingesegelt“, sagte Tobias und verschwieg den wesentlichen Teil des Vorfalles, der zu dem wenig schönen Aussehen seiner Hose geführt hatte.

„Dann kaufen wir wohl besser gleich zwei Hosen“, schlug seine Mutter vor und übersah bewusst den gequälten Gesichtsausdruck ihres Sohnes.

Tobias konnte Klamotteneinkaufen nicht ausstehen.

Frau Grüttner parkte auf dem Parkplatz eines Bekleidungshauses. Gelangweilt folgte er ihr in das große Geschäft.

Mutter und Sohn brauchten fast eine halbe Stunde, um für Tobias zwei Hosen auszusuchen. Der hatte in dieser Zeit mehr als einmal das Gefühl, in der Kabine ersticken zu müssen.

„Und solltest du weiterhin einen derartigen Verschleiß an Hosen haben“, sagte sie beim Einsteigen in den Wagen, „werden wir hier öfter mal ein Stündchen zubringen. Überleg dir das also.“

Tobias schwor sich, nur noch wie ein Balletttänzer zu schweben. Insgeheim freute er sich über die neuen Hosen, in denen er echt cool aussah. Er wusste, dass es seiner Mutter nicht leichtfiel, mal eben so viel Geld für seine Sachen auszugeben, bloß weil er nicht aufpassen konnte. Aber vielleicht würde sich das mit dem Geld ja mal ändern, jetzt, wo seine Mutter eine neue Stelle hatte.

„Wie war es eigentlich heute bei deiner neuen Stelle in der Kanzlei?“, fragte er unvermittelt.

„Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen“, erwiderte sie lächelnd und bog auf den Parkplatz eines chinesischen Restaurants ein. „Ich glaube, wir haben heute einen Grund zum Feiern.“

„Wir gehen essen?“, freute sich Tobias.

Sie waren seit ewigen Zeiten nicht mehr zusammen essen gewesen. Mehr als zu einer Bratwurst hatte es nie gereicht. Und für chinesisches Essen ließ er sowieso alles stehen und liegen.

„Ich wurde sehr freundlich bei einer Tasse Kaffee empfangen“, berichtete sie, als sie sich zwei Plätze am Fenster ausgesucht hatten. „Die Kanzlei besteht aus drei Rechtsanwälten, einer Schreibkraft und mir als Fachangestellte für Rechtsanwalts- und Notariatsange­legenheiten. Meine Chefs sind Herr Dr. Schirmer, der auch Notar ist, und Herr Dr. Steiner, der übrigens auch irgendwo in Dolben wohnt. Er ist der Strafrechtler und macht einen sehr netten und lockeren Eindruck.“

„Bestraft der die Verbrecher vor Gericht?“, fragte Tobias.

„Der verteidigt Straftäter vor Gericht, damit sie nicht unschuldig hinter Gitter kommen“, erklärte Frau Grüttner.

„Das stelle ich mir unheimlich spannend vor“, sagte Tobias. „Der muss ja den ganzen Tag mit richtigen Gangstern zu tun haben.“

„So ungefähr“, lachte seine Mutter und schlug die Speisekarte auf.

Sie blätterten langsam von den Vorspeisen über die Hauptgerichte zu den Desserts und entschieden sich dann, den Mittagstisch zu nehmen.

„Darf ich die Lychees zum Nachtisch?“, fragte Tobias und freute sich, dass seine Mutter nickte.

Ein freundlicher Chinese brachte ihnen ihre Getränke, und Tobias stieß mit seiner Mutter an.

„Auf deine neue Stelle, Mama“, prostete er ihr zu. „Du hast aber noch gar nicht von dem dritten Rechtsanwalt erzählt.“

„Der Dritte im Bunde ist Herr Neuberger. Der ist jünger als die anderen beiden, etwa so alt wie ich. Er ist in der Kanzlei für Zivilklagen und das Verkehrsrecht zuständig, also zum Beispiel für Schadensersatzklagen und Verkehrsunfälle.“

„Wenn ich also gestern in ein Auto hineingerauscht wäre statt in eine Baustelle, hätte er mich vor Gericht verteidigt?“, wollte Tobias wissen.

„Er hätte uns sicher geholfen, mit deinem Unfallgegner klarzukommen“, nickte seine Mutter.

„Beruhigend zu wissen“, stellte Tobias erleichtert fest.

Die Suppe wurde serviert, und beide aßen mit sichtlichem Appetit.

„Und wie war dein erster Schultag in Sanddorf, abgesehen davon, dass du schon wieder hingefallen bist? “

Tobias erzählte von den Klassenkameraden und den Schulbüchern, vom Gebäude und den Hausmeistern, von seiner Platznachbarin und dem Schulassistenten. Von seiner ersten Prügelei erzählte er nichts. „Der Philipp, von dem ich dir gestern erzählt habe, ist auch in der 5 b. Deshalb wollte ich so gern in diese Klasse. Er ist der Einzige, den ich hier schon kenne.“

Seine Mutter lächelte. „Ich habe mich schon gewundert, wieso du unbedingt in diese Klasse wolltest.“

Das Hauptgericht wurde serviert.

„Was ist eigentlich mit meinem Fahrrad?“, fragte Tobias und schaufelte sich eine ordentliche Portion Reis auf den Teller.

„Musste ich für zwei Tage abgeben“, berichtete sie. „Sie müssen das Vorderrad richten. Kriegen sie aber hin, haben sie gesagt.“

Tobias nickte.

„Ich habe mich heute Nachmittag mit Philipp verabredet. Wir wollen ein bisschen herumstromern und uns Dolben ansehen“, sagte er.

„Nichts dagegen“, erwiderte seine Mutter. „Aber komm nicht wieder mit zerfetzten Hosen nach Hause.“

„Indianerehrenwort“, schwor Tobias feierlich und hob drei Finger seiner rechten Hand.

Der verbotene Park

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