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|56|20 DÜSSELDORF 6. BIS 9. SEPTEMBER 1869 Zentrumspartei WENN DER WURM NAGT
ОглавлениеEs dräut. In den meisten deutschen Staaten geht es 1869 vergleichsweise ruhig zu. Aber der Heidelberger Kaufmann Jakob Lindau warnt: „Seien Sie nicht so sicher in Ihren katholischen Verhältnissen. Sie haben es mit denselben Gegnern zu tun wie wir. Im Geheimen, tief im Innern zwar, aber an den Symptomen für uns schon erkennbar, nagt der Wurm, der unsern Frieden zerstört hat, bereits auch an der Pflanze, die heute noch für Sie grünt.“
Am Beispiel Badens spricht Lindau über den „modernen Staat“, der in seinen Augen vor allem ein Ziel hat: die Vernichtung der katholischen Kirche. In seinem Land kommt es seit Jahren zu heftigen Konflikten, es geht um den konfessionellen Charakter der Schulen, die Besetzung des Freiburger Bischofsstuhls, eine staatliche Prüfung der Geistlichen, die Zivilehe und die kirchlichen Stiftungen. Die Einladung zur Generalversammlung in Düsseldorf unterstreicht: „Wichtige Fragen treten an uns heran. Die Schulfrage berührt die heiligsten Rechte der Familie und der Kirche, die Arbeiterfrage schwebt wie eine dunkle Wolke über unseren sozialen Zuständen, eine weise Organisation zum Kampfe gegen eine irreligiöse Presse ist Bedürfnis.“ Und ein Redner sieht Deutschland gar „am Vorabende der sozialen Revolution, welche die gesamten gesellschaftlichen Zustände umzuwälzen droht“.
Wie können sich die Katholiken für die kommenden Herausforderungen wappnen? Lindau hat eine klare Antwort: Sie sollten überall direkte und geheime Wahlen verlangen – und sich politisch organisieren. Die Katholiken müssten „energisch sich zusammenscharen und zu dem werden …, zu was sie ihre Gegner schon längst gemacht haben, zu einer großen politischen Partei“. Lindau selbst hat die katholische Volkspartei in Baden mitbegründet und ist Abgeordneter in der Badischen Ständeversammlung.
Die Generalversammlung beschließt zwar nicht direkt die Gründung einer politischen Partei, fordert in einer Resolution aber nachdrücklich die „Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten“ – der eigentlich vorgesehene Zusatz „insbesondere an den Wahlen“ wird weggelassen. Das Projekt einer neuen Partei haben sich die Katholiken aber schon länger zu eigen gemacht. Einen wichtigen Beitrag leisten seit 1864 konservative Westfalen mit den „Soester Konferenzen“, auf denen sie das Programm |57|der künftigen Partei umreißen. Im Dezember 1870 finden sich die katholischen Abgeordneten im Preußischen Abgeordnetenhaus zum Zentrum zusammen. Drei Monate später bildet sich die Zentrumsfraktion im Reichstag. Lindau ist ebenso dabei wie die ehemaligen Generalversammlungs-Präsidenten Wilderich von Ketteler, Joseph Lingens, Karl Heinrich zu Löwenstein und August Reichensperger. Auch viel bejubelte Redner wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler und Christoph Moufang werden Reichstagsmitglieder.
WAS NOCH?
Mehrere Redner widmen sich der Kunst, der Musik und der Literatur. Die Generalversammlung richtet eine ständige Sektion für soziale Fragen ein und ruft dazu auf, Genossenschaftsbanken zu gründen. Sie wirbt dafür, „sich der arbeitenden Klassen anzunehmen und für das ökonomische und sittliche Wohl derselben zu wirken“. Karl Marx schreibt daraufhin an Friedrich Engels: „Die Hunde kokettieren (zum Beispiel Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage.“ Er werde die „Internationale Arbeiterassoziation“ mobilisieren, um gegen die Priester vorzugehen. Die Generalversammlung empfiehlt, Pressvereine zu gründen, und fordert dazu auf, keine antikatholischen Presseerzeugnisse zu halten. Die katholische Presse wird zunehmend ein Gegenstand der Selbstkritik. Die schon lange geplante Statistik über die katholischen Vereine ist endlich in Arbeit. Konfessionslose Schulen werden nachdrücklich abgelehnt. Eine Katholische Universität ist dem Kölner Erzbischof zufolge jetzt für Fulda geplant. Der Apostolische Vikar von Bombay berichtet von der Mission in Indien, ein Pfarrer aus den USA, wo die Katholiken von ihren Freiheitsrechten sehr profitieren. Schließlich ruft die Versammlung zu Spenden für den Papst auf, ein Redner hält es außerdem „für eine Ehrensache Deutschlands, viele Söhne in der päpstlichen Armee zu haben“.
Diese drei Männer werden die neue Zentrumspartei prägen: Ludwig Windthorst, Hermann von Mallinckrodt und Peter Reichensperger.
Im Jahr nach dem Düsseldorfer Katholikentag bricht der Deutsch-Französische Krieg aus, der Kirchenstaat geht unter, das Vatikanische Konzil muss auf unbestimmte Zeit vertagt werden, und die deutschen Katholiken stehen wegen des dort beschlossenen Unfehlbarkeitsdogmas vor der Spaltung. Die neue Partei kommt gerade rechtzeitig, denn Lindau sollte mit seiner Warnung recht behalten: Wenig später beginnt der Kulturkampf in Preußen und im neu gegründeten Reich. Bismarck wird das Zentrum erst richtig stark machen – indem er es bekämpft.