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SCHATTENTANTE

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Erst bei ihrer Beerdigung hat er erfahren, dass sie Vaters Schwester war.

Irgendwie hat er es vielleicht ja gewusst. Zwischen Vater und ihr gab es etwas, das anders war als bei seiner Schwester und ihm, etwas Verhaltenes trotz aller Zuneigung. Es war, als müssten sie sich einen Ruck geben, bevor sie sich zur Begrüßung küssten und sich wie über eine Bodenspalte hinweg umhalsten.

Früher war ihm bei der Hinfahrt jedes Mal am Rücksitz schlecht geworden, jetzt saß er vorne und lenkte das Auto die kurvige Strecke dem Grenzgebirge entlang, neben ihm Vater, hinten Mutter, Schwester, Bruder. Als sie zum Friedhof einbogen, fragte er: Wie sind wir eigentlich mit ihr verwandt? Sie ist – Mutter stockte – sie war die uneheliche Tochter deines verstorbenen Großvaters, die er mit einer von unten hatte. Sag bloß, dass du das nicht weißt.

Es ist immer Mutter, welche die Familiengeschichten erzählt, auch die der Vaterseite.

Was er von der Tante wusste, war, dass sich ihre leibliche Mutter nie um sie gekümmert hatte, doch erst bei ihrem Begräbnis erfuhr er, dass sie einige Jahre zusammen mit seinem Vater aufgewachsen war. Warum hatte er niemals gefragt? Zu keiner Zeit war darüber geredet worden. Da klaffte ein Loch. Oder hatte er das alles überhört? Vater hatte bestimmt nicht darüber gesprochen. Maulfaul ist er, sagte Mutter immer wieder, er redet nur in der Kanzlei mit seinen Akten.

Er war jetzt schon lange nicht mehr Amtsleiter, aber sie beklagte sich wie eh und je über seine Einsilbigkeit.

Er, ihrer beider Sohn, neun Monate nach der Hochzeit auf die Welt gekommen, erinnerte sich, wie seine Großmutter ihn, ihren Enkel, wenige Tage vor ihrem Tod getröstet hatte, dass er ein lediges Kind sei. Hatte sie ihn mit ihrer Stieftochter verwechselt? Wie wäre es gewesen, als uneheliches Kind aufzuwachsen?

Die Tante war ihm vertraut, aber er sah sie stets aus einer Art Entfernung, gleichsam aus dem Auto heraus, wie es bei den Besuchen in den Hof einbog. Die kleine Frau stand in der Tür, die Knie gebeugt, den Oberkörper nach hinten gelehnt, so als würde sie jeden Moment rückwärts kippen. Sie sprach wenig, doch hin und wieder klopfte sie Sprüche, nein, sie schoss sie los, urplötzlich, ohne Vorwarnung, zwischen den eingezogenen Lippen hervor, zahnlos vermantscht, aber deutlich genug, in einer knappen, deftigen Sprache, und dazu grinste sie. Zwischen Nase und Oberlippenbärtchen hatte sie einen roten Fleck, der verlegen mitzulachen schien. Dann zog sie sich wieder in ihr Kopftuch zurück. Die Küsse zur Begrüßung und beim Abschied fielen ihm immer schwer. Er wusste nicht, wo er sie hinplatzieren sollte zwischen Muttermal und Barthaar und Kopftuch.

Als er frierend an ihrem Grab stand, musste er daran denken: keine umständlichen Abschiedsküsse mehr, nur eine Schaufel prasselnder Erde auf die Kiste im Loch. Am Thomastag war sie gestorben, in der ersten der Raunächte. Zu Weihnachten war sie also zugleich da und nicht da gewesen, am Stefanstag nun wurde sie begraben, kein neues Jahr für die Tante.

Er schämte sich, weil er beim Herablassen des Sargs an den Abort neben ihrem Haus gedacht hatte. Als Kind hatte er immer Angst gehabt, durch das Loch im Sitzkasten zu fallen, hinein in die stinkende Brühe unter ihm. So stellte er sich die Hölle vor. Trotzdem musste er jedes Mal hinunterschauen. Schnell wischte er sich den Hintern ab mit den zurechtgeschnittenen Zeitungsquadraten, legte den schweren, runden Deckel auf das Loch und war heilfroh, wenn er wieder draußen war.

Sie war also die Stiefschwester seines Vaters. Er hatte das halb gewusst und nie gefragt, wie er auch nie gefragt hatte, wo ihr Mann genau herkam. Der war sein Taufpate, ein mütterlicher Mann mit buschig üppigen Augenbrauen und mächtig abstehenden Ohren und einem Gesicht, so breit, als wäre es auseinandergezogen worden. Die flache Mundsichel schien über die Wangenränder hinauswachsen zu wollen. Er öffnete die Lippen kaum und sprach in einem leisen Singsang ohne große Abweichungen nach unten oder oben. Die Selbstlaute dehnten sich in der langgestreckten Mundhöhle, und selbst die kantigsten Mitlaute wurden unter der niedrigen Gaumendecke weichgeschliffen. Nie hörte er von ihm ein lautes Wort.

Und allezeit lag ein Lächeln auf dem Onkelgesicht, so dünn ausgewallt, dass man es kaum bemerkte. Darüber war dichtes Haar, die Kammfurchen stets exakt gezogen. Der metallene Kopfrechen wohnte neben dem Taschenmesser in der Rocktasche, immer griffbereit, und jedes Mal, wenn der Onkel aus dem Zimmer ging, kam er frisch gekämmt zurück. Seine Hände waren groß wie Suppenteller und voller Farbflecken. Mutter sagte: Er führt die ruhigste Hand und hat das halbe Grenzland beschriftet. Er benützt keine Schablonen, jedes Mal setzt er neu an. Als Kind stand für ihn fest, er wird Schriftenmaler wie der Onkel und beschreibt seine Gegend.

Auch war für ihn immer klar gewesen, dass sein Taufpate von einem Ort gleich über der Grenze herstammte. Warum hatte er das gedacht? Erst als er beim Begräbnis dessen Geschwister kennenlernte, wurde ihm klar, dass er von viel weiter unten kam.

Mutter liebte ihn mehr als jeden anderen Verwandten. Nur dass er zu Allerheiligen eine Kerze beim Partisanendenkmal anzündete, das störte sie. Er hatte einen Bruder gehabt, der war Späher bei den Partisanen und wurde bei Kriegsende von Ustascha-Kämpfern umgebracht. Mit dem Messer durch die Kehle, wusste meine Mutter, ein Schuss hätte die Mörder verraten. So ist halt der Krieg. Wenn nicht er, dann sie.

Unten war auch Mutters Onkel gefallen, noch weiter unten ihr Cousin. Die Partisanen kennen kein Pardon, sagte sie. Er hat ja nur eine Brücke bewacht.

Als Kind hatte sie einmal heimlich Fotos aus seiner Rocktasche gefischt. Darauf waren Erhängte an Laternenpfählen zu sehen. Ihr Cousin war auf Fronturlaub gewesen; mit stockender Stimme hatte er von Bauern erzählt, die man von den Feldern weggeholt und aufgeknöpft hatte. Kannst nicht weg?, hatte seine Mutter ihn gefragt. Die Kameraden verraten, das geht nicht, hatte er geantwortet. Da bemerkte ihr Vater, dass das Kind die Bilder in der Hand hielt. Er nahm sie ihr weg und schickte sie aus dem Zimmer. Der Vetter musste wieder zurück und kehrte nie mehr heim.

Für Mutter schienen die Toten nicht zusammenzugehören, der Bruder des Taufpaten, die Gehängten, ihr Cousin. Sie waren nicht Teil einer Geschichte. Das war alles furchtbar, die Schrecken ließen ihr keine Ruhe und kamen zu ihr in den schlaflosen Nächten, doch am Tod ihres Vetters war nicht der Krieg schuld, sondern die Grausamkeit von denen da unten.

Und sein Taufpate? Immer wieder pries Mutter seine Sanftheit. War er denn nicht auch von unten? Nie sprach man von seiner Herkunft, auch er selber nicht. Und seine Frau, die Tante, war doch die Tochter von einer über der Grenze. Seine Familie hörte an der Grenze nicht auf. Oder doch? Der Bruder seines Paten und Mutters Cousin hatten im Krieg vielleicht gegeneinander gekämpft. Sie hätten sich aber auch verbrüdern können bei einem Familienfest. Wo fing seine Familie an?

Nach dem Leichenschmaus gingen die Angehörigen, wie der Pfarrer beim Begräbnis sie mehrmals genannt hatte, zurück in das Haus seines Onkels und seiner Tante, das hingeduckt in der Senke des verschneiten Grenzfelds lag, wie eh und je. Er aß Weihnachtskekse und erinnerte sich an die Buttercremetorte der Tante, die so schwer war, dass ihm noch beim Heimfahren schlecht wurde. Einmal hatte er schon hier gekotzt, sich die Seele aus dem Leib gewürgt, durchs Abortloch in die Höllenbrühe unter ihm. Jetzt hatten sie ein WC. Sie?

Onkel und Tante waren selten auf Besuch gekommen. Zum Wiesenmarkt aber erschienen sie jedes Jahr. Der Taufpate schenkte ihm Jetons für das Autodrom und kaufte beim Stand des Lebzelters Schaumrollen für die ganze Familie. Und einmal schenkte er ihm eine Schneekugel mit dem verkleinerten Grenzstädtchen drinnen. Die stand all die Jahre auf dem Nachtkästchen seines Patenkinds.

Kind war er keines mehr, aber Patenkind war er geblieben, dachte er nach dem Begräbnis im Haus ohne Tante. Früher hatte der Onkel aus dem Keller seinen Most geholt, den selbst die höflichsten Gäste nach einem Schluck stehen ließen, so sauer war er, nur Vater mochte ihn genau so. Ja, der saure Most gehörte zum Onkel wie die mastige Torte zur Tante, und er, seine Eltern und Geschwister gehörten zu ihnen und umgekehrt. Dennoch kamen sie für ihn aus einer anderen Welt. Der Mann im braunen Rock, die Frau im gemusterten Kittel, die schwieligen Hände der beiden, sie erinnerten ihn an die Bauern, die in den Dörfern außerhalb seines Grenzstädtchens lebten und untereinander in der anderen Sprache redeten. Das war auch die Muttersprache seines Taufpaten, doch er hatte sie ihn nie sprechen gehört. Ja, er wusste nicht einmal, ob seine Tante sie sprach und wie sie miteinander redeten, wenn sie allein waren.

Wenn sie früher abends wieder nach Hause fuhren, standen die beiden in der Haustür, er leicht nach vorne gebeugt, sie stark nach hinten, Onkel und Tante, so anders und doch verwandt, und sie winkten ihnen nach, Vater am Lenkrad, Mutter neben ihm, und er mit seinen Geschwistern hinten im Dunkel des Wagens, draußen die Abendschwärze des Grenzlandes, und auf eine traumhaft-schwebende Weise saßen Tante und Onkel noch eine Weile neben ihm, bis er sie vergessen hatte.

Und jetzt lenkt er den Wagen, neben ihm sitzt Vater, hinter ihm Mutter, Schwester, Bruder, er winkt den Hinterbliebenen im Hof und biegt um die Ecke. Und auf der Heimfahrt sieht er sie im Schatten der Grenzberge, den Onkel und seinen Bruder, die Tante und ihre Mutter, den Cousin seiner Mutter. Und die Gehenkten.

Wo fängt Familie an? Wo hört sie auf?

Er schüttelt die Schneekugel.

Die Schneekugel

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