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DIE ENTZÜNDUNG

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Er liegt im Bett.

Es ist früher Nachmittag. Im Zimmer ist es warm. Die Vorhänge sind zugezogen. Sie sind weiß und hell von der Sonne. Draußen ist der schönste Tag. Und er liegt im Bett. Die Decke ist schwer. Im Zimmer liegen noch andere Kinder. Er schwitzt unter der Decke. Am Nachtkästchen steht die Schneekugel. Er kann nicht schlafen. Kann und kann nicht schlafen.

Ruhen, heißt es, ruhen muss er. Nicht rühren soll er sich. Wegen seiner Krankheit. Viel schlafen soll er. Aber er kann nicht, schon gar nicht am Nachmittag. Die Luft ist stickig im Spitalzimmer. Die Decke ist schwer. Und er soll sich nicht rühren. Wegen der Hirnhautentzündung.

Unter der Decke ist ihm zu warm. Im Zimmer ist ihm zu warm. Vielleicht ist es die Entzündung? Das Wort allein schon erhitzt ihn. Was ist, wenn sich unter der Haut auch das Hirn noch entzündet. Oder wenn die Hirnhaut löchrig wird? Gar platzt? Wird er verrückt werden? Wird er sterben?

Er denkt. Es denkt. Unter seiner Hirnhaut denkt es. An das Ende. An den Anfang. Wie kann etwas beginnen? Was war vorher? Wie kann vorher nichts gewesen sein? Wie kann etwas aufhören? Wie kann etwas nicht anfangen? Ewig sein? Wo liegt denn sein Anfang? Bei seiner Geburt? Oder bei der seiner Mutter? Immer weiter zurück. Bis wohin? Seine Großmutter ist bei der Geburt ihrer Tochter, seiner Mutter, gestorben. An ihrer Geburt gestorben. Wie oft Mutter davon erzählt. Muss er, ihr Sohn, jetzt sterben?

Er zwingt sich dazu, still zu liegen. Seine Gedanken stottern sich durch dieses eine Wort: Hirnhautentzündung. Drei Blöcke, die durch seinen Kopf ruckeln wie eine alte Lokomotive mit zwei Waggons: Hirn – Haut – Entzündung. Sind auch seine Gedanken entzündet?

Er liegt im Bett. Seine Gedanken wühlen sich in die Erde: Bergwerke, verzweigte Stollen voller nackter Leiber, nur die Aufseher in Uniform, schwarz und staubig. Unter der Erde malochen Männer, nur Männer. Splitterfasernackt sind sie und schwitzen. Manche haben dunkle Haut. Ihre Rücken glänzen vor Schweiß. Über ihren Köpfen schwingen Peitschen. Die surren durch die Höhlengänge. Immer wieder klatscht ein Peitschenschlag auf einen bloßen Rücken.

Warum hat die Entzündung ihn erwischt? Ist sie die Strafe für seine Gedanken? Für die Hand unter der Decke?

Wann hat es sich entzündet? Ins Helle zu schauen, das tat ihm weh, damit fing es an. Dann Doppelbilder. Rasende Kopfschmerzen. Am schlimmsten im Krankenwagen. Er glaubte, nie mehr anzukommen im Spital. Mitten auf der Strecke ging es nicht weiter. Draußen Hupen, Rufe, Grölen, Gelächter, Heimatlieder. Kein Durchkommen. Warten. Eine Ewigkeit. Unter seiner Schädeldecke, laut widerhallend, Heimatlieder, Gelächter, Grölen, Rufe, Hupen. Dann Scheppern, etwas Blechernes schlägt auf den Asphalt, gefolgt von aufbrausendem Gejohle. Endlich weiter.

Er kann nicht schlafen. Später werden sie ihn holen. Wie jeden Tag. Er wird ihnen nicht in die Augen schauen. Auf einen Tisch werden sie ihn setzen. Herren in weißen, dünnen Mäntelchen. Er wird dasitzen mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Die Unterschenkel werden über die Tischkante hängen, ohne hin und her zu baumeln. Das Hemd wird hinten hochgehoben werden. Sein Körper wird starr werden. Sie werden sprechen hinter seinem Rücken. Er wird ihn ganz versteifen. Und warten auf den Einstich von hinten. Die Weißkittel werden reden, wie wenn er nicht vorhanden wäre. Einmal nannten sie Namen von Nachbardörfern seines Städtchens. Sie redeten von niedergerissenen Ortstafeln und Schmierereien. Er rührte sich nicht. Genauso, wie er sich nicht rühren wird, wenn er wieder dort sitzt. Jetzt im Bett erstarrt er, wenn er daran denkt. Sie nennen es: punktieren. Das Wort sticht ihn. Er darf sich nicht rühren. Er wird dennoch zusammenzucken. Jetzt unter der Decke durchschauert es ihn. Ein elektrischer Schlag wie an dieser Stelle am Ellbogen. Zu Hause nennen sie es das tamische Aderle. Zu Hause.

Nicht daran denken. An anderes denken. Dieses andere Wort für seine Krankheit: Meningitis. Silben, die, sich langsam von seiner Schädeldecke lösend, ins Hirn tropfen, wieder und wieder: Mee-niin-gii-tiis.

Er wühlt sich in die Erde. Er sieht die nackten Leiber vor sich. Seine Hand gleitet unter die Hose. Er darf sich nicht rühren. Er legt seine Hand auf den Schwanz. Reibt ihn an seinem Oberschenkel. Er soll ihn nicht berühren. Die anderen dürfen ihn nicht hören. Er soll still liegen. Seine Hand wetzt seinen Schwanz am Oberschenkel. Er darf nicht so laut atmen. Die Decke darf nicht rascheln. Die anderen. Es darf sich nichts rühren.

Ihm ist langweilig. Er kann nicht schlafen. Der Vorhang ist weiß und hell. Die Sonne kann nicht herein. Sie hat sich verfangen im Vorhang. Er reibt seinen Schwanz am Oberschenkel. Die Decke darf sich nicht bewegen. Seine Hand darf sich nicht. Er darf sich nicht …

Vormittags sind sie gekommen. Er musste sich umdrehen im Bett. Das Spitalhemd hochziehen. Sie sprachen zu ihm von oben herab. Er hatte den Kopf am Polster weggedreht, weg von ihnen. Rührte sich nicht. Er hatte die Spritze bei ihrem Hereinkommen gesehen. Er kannte das schon: Po und Oberschenkel weich machen. Er machte sie hart. Er wartete auf den Einstich. Presste den Kopf in den Polster. Das Hereindrücken der Flüssigkeit dauerte. Es war nicht jedes Mal gleich schmerzhaft, der Stich kam immer überraschend. Tränen schossen ihm in die Augen. Er drückte den Kopf noch fester in den Polster. Der Oberschenkel schien aufzuquellen. Er regte sich nicht mehr, bis sie aus dem Zimmer waren.

Er liegt im Bett. Und kann nicht schlafen. Penicillinspritze. Um dieses eine Wort kreisen seine Gedanken. Unter der Hirnhaut, tonlos, kreischen sie: Pe-nii-cii-llinsprii-tze. Seine Hand wandert unter die Hose. Er darf sich nicht rühren. Seine Gedanken gehen unter die Erde. Zu den nackten Männern. Er wetzt unter der Decke. Die Federn dürfen nicht quietschen. Pe-nii-cii-llii-n. Peitschen ringeln sich durch die Luft. Er darf nicht atmen.

Er kann nicht schlafen. In der Wand ist eine große Glasscheibe. Die Türe daneben ist abgesperrt. Alle hier drinnen sind ansteckend. Ist die Hirnhaut durchsichtig wie das Trennglas? Ein Wort nistet sich in seinem Kopf ein: Karantäne. Das klingt ein bisschen wie Kärnten. Später hat er eine Krankenschwester gefragt. Nein, hatte die gelacht, das kommt nicht von Karantanien, das schreibt man mit Q. Eine fette Kröte von einem Wort, denkt er, nein, eine Qualle. Ist das Hirn im Kopf in Quaa-raan-tää-ne? Kann man Gedanken durch die Hirnhaut sehen wie Fische durch die Glaswand eines Aquariums?

Er liegt im Bett. Er darf sich nicht rühren. Niemand schaut jetzt durch das Glas ins Zimmer herein. Unter der Decke bewegt sich seine Hand. Die anderen im Zimmer schlafen. Unter der Hirnhaut verknäueln sich seine Gedanken. Käme jemand zur Scheibe und schaute herein, würde sein Körper im Bett augenblicklich erstarren. Unter der Hirnhaut seine Gedanken aber, die flackerten weiter.

Vater und Mutter kommen ihn besuchen. Sie dürfen nicht ins Zimmer. Nur hereinschauen dürfen sie. Durch das Glas. Wenn sie kommen, dreht er sich im Bett um, auf die andere Seite. Seine Tränen sollen sie nicht sehen. Wenn sie gegangen sind, steckt er seinen Kopf unter den Polster. Keiner darf ihn hören. Die Decke darf nicht zittern. Die Matratze darf nicht beben. Die Unterseite des Polsters ist nass.

Sie haben ihm die Schneekugel von zuhause mitgebracht. Die Krankenschwester hat sie ihm gegeben. Sein Heimatort unter einer Schneedecke auf dem weißen Nachtkästchen mit den Rollen. Wie bei seinem Bett.

Er soll sich nicht rühren. Er soll ruhen. Die Bettdecke ist schwer. Schlafen soll er, viel schlafen. Es ist warm. Die Gedanken geben keine Ruhe. Ist seine Hirnhaut deshalb entzündet? Seine Hand ist unter der Hose. Seine Gedanken sind unter der Glasdecke. Sein Körper liegt unter der Bettdecke. Am Nachtkästchen steht die Schneekugel.

Er kann und kann nicht schlafen.

Er schüttelt die Schneekugel.

Die Schneekugel

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