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Requiem

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Wir begruben Beau sieben Tage später.

Die Trauernden saßen dicht gedrängt in der katholischen Kirche St. Anthony of Padua, im italienischen Viertel von Wilmington. Die Kirche war von den Gemeindemitgliedern, unter denen viele bestens ausgebildete, eingewanderte Handwerker waren, selbst erbaut worden, der letzte Stein wurde 1926 gelegt. St. Joseph on the Brandywine, unsere Heimatgemeinde, die eine Meile entfernt von Pulvermühlenarbeitern gebaut worden war, war nicht groß genug, um die Menge der Trauernden zu fassen. Doch selbst in St. Anthony war nicht genug Platz für alle, viele Gäste verfolgten das Geschehen zusammengepfercht in einem Nebenraum.

Unter den Trauergästen waren Präsident Barack Obama mit Familie, Bill und Hillary Clinton, der ehemalige Justizminister Eric Holder und Senator John McCain, der drei Jahre später am gleichen Krebs sterben sollte wie Beau.

Außerdem verlieh der Stabschef der Armee Raymond Odierno, der in der Zeit, als Beau dort diente, oberster Befehlshaber im Irak war, meinem Bruder einen posthumen Orden, den Legion of Merit. Chris Martin von der Band Coldplay, der einer der Lieblingsmusiker von Natalie und dem kleinen Hunter war, spielte das Lied »’Til Kingdom Come«. Er saß mit seiner akustischen Gitarre im Altarraum, begleitet nur von der Orgel.

Tausende Menschen hatten Beau in den Tagen zuvor bereits die letzte Ehre erwiesen. Die erste Aufbahrung hatte in Dover, der Hauptstadt von Delaware, stattgefunden, wo sein Sarg, bedeckt mit einer Flagge, in der Legislative Hall, dem Parlamentsgebäude, ausgestellt war. Danach war er in St. Antonius aufgebahrt worden. Zweimal hatten wir über Stunden und ohne Pause die Beileidsbekundungen der Menschen entgegengenommen, die lange Schlangen gebildet hatten. Nur so konnten wir jeden einmal kurz begrüßen. Wir umarmten die Menschen, hielten ihre Hände, hörten ihnen zu, wie sie sich an Beau erinnerten und uns erzählten, was er ihnen bedeutet hatte.

Die Menge repräsentierte die Bevölkerung von Delaware und darüber hinaus: Menschen jeder Hautfarbe; Italiener, Iren, Polen, Juden, Puerto Ricaner, Griechen. Einige lagen in Tücher eingeschlagen in den Armen ihrer Eltern, andere wurden von ihren erwachsenen Kindern oder Pflegern hereingeschoben.

Es schien, als wären in der Menge der Trauernden alle Menschen, mit denen Dad, Beau oder ich je zur Schule gegangen waren, mit denen wir zusammengearbeitet oder Wahlkampf gemacht hatten. Menschen waren gekommen, die wir lediglich von der Straße kannten, andere hatten uns im Restaurant das Tagesmenü serviert. Da waren die Friseure, die Beau und mir den ersten Haarschnitt verpasst hatten. Die Kinderärzte, die uns untersucht hatten, die Zahnärzte, die unsere Zahnspangen angepasst hatten. Die Krankenschwestern und Pfleger aus St. Francis waren da, die sich von der Geburt bis zu dem Tag, an dem ich mir beim Football im ersten High-School-Jahr zum dritten Mal das Handgelenk brach, um uns gekümmert hatten.

Lehrer kamen und Gewerkschaftsvertreter, Arbeiter aus dem Hafen und aus der Autofabrik, Lokalpolitiker und Stadträte. Eine Frau, inzwischen weit über neunzig, kondolierte, die Dad zu Beginn seines ersten, wahnwitzigen Senatswahlkampfs unterstützt hatte, als sonst kaum einer an ihn glaubte. Andere kamen, die sich ebenfalls in diesem und in allen folgenden Wahlkämpfen engagiert hatten, die beinahe vier Jahrzehnte lang alle sechs Jahre an Türen geklopft und Broschüren verteilt hatten.

Der junge Mann mit Down-Syndrom, der im Verwaltungsgebäude arbeitete und mit dem Beau jeden Tag ein paar Worte gewechselt hatte, war gekommen. Die Familie des Typen war gekommen, dem Beau und ich jeden Sommer fasziniert zugesehen hatten, wenn er beim Gewerkschaftspicknick der Asbestarbeiter eine lebendige Grille verschluckte. (Ich weiß bis heute nicht, warum er das tat.) Da waren die Leute, mit denen Beau sich angefreundet hatte, als er mich zu den AA-Meetings begleitete. Sie kamen, weil sie Beau verbunden waren, nicht weil er mein Bruder war.

Beinahe jeder, der sich leise schniefend in dieser Schlange voranschob, wollte eine persönliche Geschichte erzählen oder Wünsche überbringen.

Am meisten rührten mich die Worte derjenigen, die ich zwar erkannte, aber nicht einordnen konnte. Sie erzählten, wie sich die Wege unserer Familien auf so unwahrscheinliche und bewegende Weise gekreuzt hatten, und oftmals stand im Zentrum dieser Geschichten mein Vater.

Ein Mann erzählte mir, dass Dad ihn einmal mitgenommen hatte, als er mitten in der Nacht mit leerem Tank auf einem Seitenstreifen stand. Eine Frau erinnerte sich daran, dass Dad sie nach einem Todesfall in der Familie angerufen hatte, einfach um sein Beileid auszusprechen. Sie wollte sich für seine Aufmerksamkeit revanchieren. Ein Ehepaar war noch immer gerührt von dem Gespräch, das Dad mit ihnen geführt hatte, nachdem sie ihren Sohn bei einem Autounfall verloren hatten, bei dem Alkohol im Spiel gewesen war, und sie erzählten, dass ihnen seine Worte von damals noch immer Hoffnung gaben und die Kraft schenkten, weiterzuleben.

Die Emotionalität dieser Gespräche festigte erneut die einzigartige Verbindung, die entstanden war, als die Öffentlichkeit von dem tragischen Tod meiner Mutter und meiner Schwester erfuhr. Die Folgen dieses Unfalls waren damals in ganz Delaware zu spüren gewesen. Republikaner, Demokraten – alle waren betroffen. Die Einwohner des kleinen Bundesstaates nahmen Anteil und setzten ihre ganze Hoffnung auf einen schneidigen jungen Witwer, der zwei Kleinkinder zu versorgen hatte. Der ganze Staat war stolz, dass es ihm gelang, uns durchzubringen. Beau und ich waren die Cousins, Neffen oder Adoptivkinder jedes einzelnen Bürgers.

Beaus früher Tod, in einem Alter, in dem er sein immenses Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft hatte, war ein weiterer Aufruf, sich um uns zu scharen und uns, jeder nach seiner Art, Trost zu spenden.

Ich kann die Gebetszettel und Anhänger nicht zählen, die mir in diesen Tagen in die Hand gedrückt wurden, jeweils mit einer Erklärung oder einer Anweisung. Eine ältere Frau schenkte mir ein Medaillon des heiligen Bartholomäus, der, so erklärte sie, der Schutzpatron all jener sei, die in die Fußstapfen eines anderen zu treten hätten. »Sie müssen das Leben Ihres Bruders fortführen«, sagte sie, und ihr Händedruck wurde fester. Es war ein immer wiederkehrendes Thema. (Später erfuhr ich, dass Bartholomäus auch der Schutzheilige der Schlachter, Buchbinder, Gerber, Sattler und Nervenkranken ist.)

Dann waren da noch die Familien, die uns erzählten, wie Beau sie unterstützt hatte, als er Sexualverbrechen verfolgte, eines seiner Hauptanliegen während seiner achtjährigen Amtszeit als Generalstaatsanwalt von Delaware. Dieser Schwerpunkt wurde besonders deutlich in dem Fall des Kinderschänders Earl Brian Bradley, eines Kinderarztes, der über einhundert Kinder missbraucht hatte, darunter ein drei Monate altes Baby. Beaus persönliches Engagement in diesem Verfahren war einer der Gründe dafür, dass er sich 2010 gegen eine Kandidatur für den ehemaligen Senatssitz unseres Vaters entschied. Er war entschlossen, Bradleys Strafverfolgung in letztendlich mehr als fünfhundert Anklagepunkten zu Ende zu führen.

Am 23. Juni 2011 wurde Bradley in allen Fällen für schuldig befunden, er wurde zu vierzehnmal lebenslänglich verurteilt – plus weitere hundertvierundsechzig Jahre – ohne Bewährungsmöglichkeit.

Doch Beaus Einfluss in diesem Bereich war größer als die Arbeit am Gericht. Ein alter Freund von uns, ein hartgesottener Gewerkschaftler, Mitte vierzig, kam zu mir und sagte: »Dein Bruder ist dafür verantwortlich, dass ich die Möglichkeit sah, mich nicht umzubringen.«

Vorsichtig fragte ich ihn, was denn passiert sei. Er sah mich fassungslos an, er war überzeugt gewesen, dass Beau mit mir über seinen Fall gesprochen hätte. Dann berichtete er mir, wie er fünfunddreißig Jahre zuvor immer wieder von einem Priester missbraucht worden war. Der Priester war längst tot, aber Beau war der einzige Mensch, dem er es je erzählt hatte. Dieser Mann wusste, was jeder, der Beau je etwas anvertraut hatte, ebenfalls wusste: Dass Beau niemals voreingenommen war, auch wenn man ihm gegenüber seine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse preisgab.

Mit all diesen Menschen zu reden, die sich angestellt hatten, um zu kondolieren, machte mir und meiner Familie in dieser schrecklichen Zeit unglaublichen Mut. Eins wurde mir klar: Falls je die Frage im Raum gestanden hatte, was ein gut geführtes Leben bewirken könne, dann wurde sie von der Menschenmenge, die in jenen zwei Tagen an Beaus aufgebahrtem Sarg vorbeizogen, laut und deutlich beantwortet.

Unsere Familie tat, was sie in politischen wie in persönlichen Krisen immer tut: Jeder leistete seinen Beitrag.

Dad und ich kümmerten uns um verschiedene Aspekte der Planung, wir entschieden, wer die Trauerreden halten sollte und wann die Anrufe der Würdenträger entgegengenommen würden. Dad saß stundenlang auf seiner Veranda und telefonierte mit amtierenden und ehemaligen Staatsführerinnen und Staatsführern aus allen Teilen der Welt. Alle waren ihm zugetan, sie zeigten nicht nur Respekt, sondern tatsächlich wahre Zuneigung. So wurde aus jeder Beileidsbekundung ein echtes Gespräch. Sie erzählten, wie »Sie Beau und Hunter nach Berlin mitgebracht haben« und wie »beeindruckt ich war, als Beau damals, als er schon Generalstaatsanwalt war, zu uns nach Rumänien kam und über Korruption sprach«, und »Vielleicht erinnern Sie sich nicht, aber als damals meine Nichte starb, waren Sie für mich und meine Familie da«.

Die meiste Zeit verbrachte ich in Beaus Haus in Wilmington, kaum eine Meile von Dad entfernt. Ich las Trauerkarten, empfing Besuche und begrüßte Freunde, die gekommen waren, um Hallie und die Kinder zu sehen.

Wir waren derart überwältigt und in Anspruch genommen, dass Dad und ich nicht die Zeit fanden, ein wirklich vertrauliches Gespräch miteinander zu führen. Wir erzählten uns nie, wie es uns bei all dem ging. Wir weinten beide sehr viel – Dad hatte beinahe nach jedem Gespräch auf der Veranda Tränen in den Augen. Manchmal umarmten wir uns einfach nur schweigend, so als wollten wir uns gegenseitig stützen. Wir wussten, dass wir weiter nichts füreinander tun konnten, dass dem Schmerz mit Worten nicht beizukommen war. Zu sprechen schien beinahe gefährlich. Wir hatten eine Höllenangst, wie sich Beaus Tod auf den jeweils anderen auswirken würde.

In gewisser Weise fürchteten wir beide den vollständigen Zusammenbruch.

Inmitten all dieser Vorgänge arbeitete ich an meiner Trauerrede für Beau. Die Vorstellung, etwas sagen zu müssen, gab den Gefühlen, die auf mich einfluteten, eine zusätzliche Resonanz, und der Gedanke, dass ich sie vor einem solch großen, vielfältigen Publikum halten sollte, verschärfte den Schmerz über unseren Verlust.

Doch sobald ich mich an den Schreibtisch setzte, waren meine Bedenken wie weggeblasen. Trotz der Ungeheuerlichkeit dieser öffentlichen Rede begriff ich, dass ich sie nur für einen Zuhörer vorbereiten musste: meinen Bruder. Klar, er wäre mit allem einverstanden, was ich zu sagen hatte – denn so war er schließlich. Also konnte ich einfach Abschnitt für Abschnitt schreiben und ihm dann vorlesen. Wir arbeiteten sie gemeinsam aus, und gemeinsam fügten wir die Abschnitte zusammen und gaben ihnen den letzten Schliff – so zumindest fühlte es sich an. Ich staunte, wie leicht es mir von der Hand ging.

Ich wählte einige Meilensteine in unserem Leben aus, und ich begann dort, wo ich immer begann: wie ich neben ihm im Krankenhaus aufgewacht war. Alle sollten verstehen, wie unfassbar tief wir verbunden waren, und zugleich wollte ich der Tatsache gerecht werden, dass auch viele andere Menschen eine wahrhaft innige Verbindung zu ihm verspürten. Die persönlichen Reaktionen, die wir in dieser Woche erhalten hatten, machten dies mehr als deutlich.

Diese Trauerrede zu schreiben, war herzzerreißend und kathartisch zugleich. So sollte sie auch auf die Zuhörer wirken. Und so, hoffte ich, würde sie auch auf meinen Vater wirken.

Ich las sie Dad nicht vor, als ich fertig war. Er sollte sie zum ersten Mal in der Kirche hören.

Die erste Rede hielt General Odierno, dessen behangene Brust metallisch blühte. Er sprach über die Charakterstärke und Selbstlosigkeit, die Beau im Irak gezeigt hatte, und über die moralischen und ethischen Wurzeln seines Engagements als Generalstaatsanwalt. Er erwähnte Beaus »natürliches Charisma«, dass andere, Soldaten wie Zivilisten, bereit gewesen seien, »sich seiner Führung anzuvertrauen«.

Dann brachte er ein Gefühl zum Ausdruck, das praktisch jeder kannte, der je mit Beau zu tun gehabt hatte.

»Er hatte sich der Gemeinschaft verschrieben, in der er lebte«, sagte der Vier-Sterne-General, »seiner Heimat Delaware und dem Land, das – davon war ich überzeugt – er eines Tages führen würde.«

Als General Odierno geendet hatte, trat er an den Sarg, stand eine ganze Weile stramm und ehrte Beau mit einem langsamen, bedächtigen Salut.

Als Nächster sprach Präsident Obama. Eingerahmt von weißen Rosen und Hortensien, umgeben vom sanften Licht, das hinter ihm durch die Fensterrosette in den Altarraum strömte, ehrte der Präsident Beau mit einer beinahe fünfundzwanzig Minuten langen Rede. Er warf nur hier und da einen Blick auf seine Notizen und sprach in demselben getragenen Ton, der ihm in den sieben langen Jahren seiner Präsidentschaft so gute Dienste geleistet hatte. Selbst diejenigen, die im Nebenraum untergebracht waren, hatten das Gefühl, dass er nur zu ihnen sprach.

Doch ein großer Teil seiner Trauerrede war an meinen Vater gerichtet, an einer Stelle nannte er ihn gar »Bruder«.

Beau und ich waren voller Bewunderung für den Präsidenten gewesen, nicht nur für sein Verhalten meinem Vater, sondern auch der Familie gegenüber. (Er war natürlich vor allem auch mein Präsident, aber gleichzeitig war er der Basketball-Trainer meiner Tochter Maisy.) Damals in der Kirche dachte ich nicht darüber nach, aber die Situation war kompliziert. Die Auseinandersetzungen und Positionskämpfe, die zum Weißen Haus einfach dazugehören, betrafen manchmal auch meinen Vater. Ich nahm es persönlich – vielleicht zu persönlich –, wenn ich zum Beispiel erfuhr, dass irgendein Regierungsmitarbeiter versucht hatte, Dad zu untergraben. Deshalb ließ ich mich im Weißen Haus nur selten blicken. Ich wollte vermeiden, dem Präsidenten und seinem Stab beim sonntäglichen Grillfest zu begegnen, nachdem ich gelesen hatte, dass mal wieder jemand meinem Vater den Schwarzen Peter zugeschoben hatte. Ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde, mich zu beherrschen und den Mund zu halten.

Allerdings hatte sich Kathleen mit Michelle Obama angefreundet, und unsere Tochter Maisy und ihre Tochter Sasha verstanden sich prima seit der zweiten Klasse an Sidwell Friends, der Schule, die sie beide besuchten. Kathleen und Michelle gingen zusammen ins Sportstudio und trafen sich bei formellen und informellen Anlässen oft zur Cocktailstunde im Weißen Haus. Ich hatte zwei Jahre nach der Wahl einen Rückfall und fühlte mich in dieser Szene ziemlich unwohl, und oft hatte ich auch den Eindruck, dass die Menschen dort sich in meiner Gegenwart nicht recht wohlfühlten.

Aber Beaus Trauergottesdienst war nicht politisch, sondern persönlich, und der Präsident war an diesem Morgen ganz für meinen Vater, meinen Bruder und die Familie da. Dafür war ich einfach nur dankbar.

Der Präsident begann mit einem Zitat des irischen Dichters Patrick Kavanagh: »Ein Mann ist originell, wenn er die Wahrheit ausspricht, die allen Menschen guten Willens von jeher bekannt ist.« Beau, sagte er dann treffend, war in diesem Sinne originell. »Ein Mann, der tiefe Liebe empfand und im Gegenzug tiefe Liebe empfing.«

Er sprach über den Unfall, der uns Mutter und Schwester entrissen hatte, und darüber, wie er Beau – und uns alle – geprägt hatte.

»Beau erfuhr früh, welch grausame Wendungen das Schicksal nehmen kann«, sagte er. »Aber Beau war ein Biden. Und er lernte die wichtigste Regel dieser Familie: Wenn du um Hilfe bitten musst, ist es zu spät. Es bedeutete, dass man niemals allein war: Du musst nicht fragen, denn es ist immer jemand für dich da, wenn du ihn brauchst.«

Der Präsident sprach anerkennend über die zärtliche und doch bestimmte Reaktion meines Vaters nach diesem Schlag, wie er seinem Land gedient hatte (es war Mike Mansfield, der dienstälteste Mehrheitsführer in der Geschichte des Senats, der Dad in den Wochen zwischen Unfall und Vereidigung überredet hatte, das Amt trotzdem anzutreten), wie er sich »aus der Washingtoner Gesellschaft« heraushielt und stattdessen jeden Abend nach Wilmington zurückfuhr, um uns Kinder mit einem Gutenachtkuss ins Bett und am Morgen in die Schule zu bringen.

»Er hat es nicht nur getan, weil seine Kinder ihn brauchten«, sagte der Präsident, »sondern, so hat es mir Joe selbst erzählt, weil er die Kinder brauchte.«

Darauf zählte Präsident Obama eine ganze Reihe von Beaus Leistungen und Errungenschaften auf, nannte ihn einen »Soldaten, der nur knapp dem Ruhm entkommen« war, einen Staatsanwalt, »der die Wehrlosen verteidigte« und einen jener seltenen Politiker, die »mehr Fans als Feinde« hatten.

Ein dankbares Lachen ging durch den Kirchenraum, als er sagte: »Er sah und klang sogar wie Joe, auch wenn ich glaube, dass Joe der Erste wäre, der zugeben würde, dass Beau ein Upgrade war – Joe 2.0.«

»Beau war … charmant und entwaffnend, jemand, der einem die Anspannung nahm«, fuhr der Präsident fort, und er gab einige heitere Einblicke in das, was den öffentlichen und privaten Beau ausmachte. »Wenn er gezwungen war, an einer schicken Spendengala teilzunehmen, bei der sich die Leute viel zu ernst nahmen, kam er und flüsterte einem etwas ins Ohr, das komplett unangemessen war. Er war der Sohn eines Senators, ein Oberst der Armee und zugleich der beliebteste gewählte Politiker von Delaware – nichts für ungut, Joe –, doch all das hinderte ihn nicht daran, zu Thanksgiving mit Sombrero und Boxershorts bekleidet einen Tanz aufzuführen, wenn er damit die Menschen zum Lachen bringen konnte, die er liebte.

Und bei all dem war er mit ganzem Herzen Staatsdiener, er hatte immer ein Notizbuch in der Tasche, um die Probleme der Menschen zu notieren, denen er begegnete, damit er sie lösen konnte, sobald er wieder im Büro war.

Dies war ein Mann, der beim Parteitag der Demokraten nicht den ganzen Tag in irgendwelchen Hinterzimmern herumstand, um Hände zu schütteln und Wahlkampfspenden einzutreiben«, fuhr Obama fort. »Nein, er verbrachte seine Zeit damit, mit seinem Sohn im Stadionaufzug rauf- und runterzufahren, rauf und runter, immer wieder, weil er genau wie Joe wusste, worauf es im Leben wirklich ankommt.«

Der Präsident hielt einen Moment inne. Als er fortfuhr, schien er das politische Gewitter vorauszusehen, das kurz danach heraufziehen sollte. »Wissen Sie, in diesen Zeiten von Reality-TV kann sich jeder einen Namen machen, besonders in der Politik. Man muss nur laut oder provozierend genug sein, dann bekommt man die nötige Aufmerksamkeit. Aber diesem Namen Bedeutung zu geben, ihm Würde und Integrität zu verleihen – das gibt es nur noch selten.«

Gegen Ende bediente sich der Präsident noch einmal bei dem irischen Dichter, den er zu Anfang bereits zitiert hatte. Dieser Satz fasste den Schmerz zusammen, den wir alle verspürten, selbst in den Augenblicken, als wir Beaus in heiterer Erinnerung gedachten:

»Und ich sagte, lass die Trauer ein Blatt sein, das fällt, wenn der neue Tag beginnt.«

Obama trat die Stufen hinunter und ging zu Dad, der aufstand, um eine lange, tief empfundene Umarmung entgegenzunehmen. Dann küsste der Präsident meinem Vater die Schläfe – ein Zeichen der Bruderschaft, die er zuvor erwähnt hatte – und ließ ihn schließlich los.

Jetzt war meine Schwester an der Reihe. Ich begleitete sie hinauf zum Ambo und blieb während der Rede an ihrer Seite, wir wollten unsere geschwisterliche Verbundenheit zeigen, für Beau. Ashley sprach mit Humor und Bewunderung, ihre Rede war ergreifend und voller Hoffnung. Sie war die perfekte kleine Schwester, zehn Jahre jünger als Beau.

»Als ich in die Schule kam, malte ich ein Bild, das darstellen sollte, was mich glücklich machte«, sagte sie. »Es zeigt mich, wie ich die Hände meiner Brüder hielt.«

Sie machte überaus deutlich, dass sie uns beide beinahe als eine Person ansah, genau wie Beau und ich es getan hatten: zwei Seiten einer Medaille.

»Man kann nicht über Beau reden, ohne über Hunter zu reden«, sagte sie. »Sie waren unzertrennlich, und ihre Liebe war bedingungslos. Beau mag ein Jahr und einen Tag älter gewesen sein, aber Hunter der Wind unter Beaus Flügeln – Hunt gab ihm den Mut und das Selbstvertrauen, um zu fliegen … Er traf keine Entscheidungen, ohne erst Hunter konsultiert zu haben, es gab keinen Tag, an dem sie nicht miteinander sprachen, sie waren wie Co-Piloten, die jede Strecke gemeinsam meisterten.«

»Hunter war Beaus Vertrauter«, sagte sie. »Sein Zuhause.«

Ashley war früh in diesen Raum des Vertrauens eingetreten. Sie war unsere Schwester, und deshalb liebten wir sie und waren in gleichem Maße von ihr genervt.

»Es stimmte damals, und es stimmt noch heute: Ich bin die kleine Schwester, die sich glücklich schätzen konnte, von diesen beiden außerordentlichen Männern aufgezogen und aufgebaut zu werden«, sagte sie. »Auch wenn sie, wie mein Mann manchmal betont, die Anleitung nicht vollständig gelesen haben.«

Ashley sprach einige Ereignisse an, die aus der Sicht einer kleinen Schwester als Meilensteine gelten konnten, einschließlich der Tatsache, dass Beau und ich sie Howard, ihrem künftigen Ehemann, vorgestellt hatten, den wir 2008, im Wahlkampf für das Obama-Biden-Team, bei einer Spendenveranstaltung kennengelernt hatten.

Beau und ich gaben Ashley ihren Namen, wir wiederum waren für sie vom ersten Tag an Beauie und Huntie. Als wir in der Schule und später im College waren, war sie einfach immer dabei, sie war derart hartnäckig, dass unsere Freunde sie »Klette« nannten. Beau nahm sie immer nur unter einer Bedingung mit: Sie musste »Fire on the Mountain« von den Grateful Dead singen. Mit acht, als Beau studierte und eine eigene Wohnung bezogen hatte, übernachtete sie manchmal bei ihm.

Ashley sprach über unsere alljährliche Thanksgiving-Reise nach Nantucket, wenn »meine Brüder mich aus der Schule abholten und wir in den Jeep Wagoneer kletterten und sieben Stunden fuhren – nie wieder hat Autofahren so viel Spaß gemacht«.

Das vergangene Jahr hatte sie sehr belastet, wie uns alle, doch auch sie fühlte sich beschenkt, diese letzte Phase im Leben unseres Bruders begleitet zu haben. Sie sprach über das »tragische Privileg«, so drückte sie sich aus, Beau jeden zweiten Freitag zu seinen Chemo-Terminen begleiten zu dürfen. Danach gingen sie oft zusammen frühstücken, und dann musste sie ihm zuliebe »You Get What You Give« von den New Radicals hören, eine Art Titelsong, so begann sie zu verstehen, für sein Leben. Sie las den hingerissenen Trauergästen diese Strophe vor:

This whole damn world could fall apart

You’ll be okay, follow your heart.

You’re in harm’s way, I’m right behind.

»Wenn ich zurückblicke«, sagte Ashley, »glaube ich, dass Beau das Lied in diesen gemeinsamen Stunden nicht für sich gespielt hat, sondern für mich. Um daran zu erinnern, dass ich nicht aufgeben durfte, dass mich – und uns – der Kummer nicht zerstören durfte.«

Zum Schluss sagte sie:

»Solange ich Hunt habe, habe ich dich. Also, Beauie … man sieht sich. Ich liebe dich über alles.«

Ashley und ich küssten und umarmten uns. Ich war so stolz auf sie, und ich spürte, dass Beau es ebenso war.

Sie hatte uns allen die Befangenheit genommen. Als ich an den Ambo trat und meine Notizen sortierte, war ich ganz ruhig – ungewöhnlich ruhig. Eigentlich machte es mir Angst, vor großen Menschenmengen zu sprechen. Ich hatte gespürt, wie besorgt alle um mich waren, nicht nur in diesem Moment. Ich hatte das Gefühl, dass alle befürchteten, ich könnte wegen Beaus Tod rückfällig werden. Wären die Umstände andere gewesen, hätte dieses Gefühl meine Angst nur noch verstärkt.

Aber nicht jetzt.

Während mich tausend Augen ansahen und der Gottesdienst von einem Millionenpublikum am Fernseher verfolgt wurde, befand ich mich in der Geborgenheit meiner Familie: Ashley, Mom und Dad, meine Tanten, Onkel und Cousinen, meine Frau und meine Töchter – sie waren alle bei mir, und sie waren alle für mich da.

Und dann war da Beau. Ich hatte noch immer nicht das Gefühl, dass er fort war.

Nachdem ich den Vorrednern gedankt und Ashley der Liebe ihres Bruders Beau versichert hatte – »Er hat dein Lachen geliebt, dein Lächeln« –, wandte ich mich direkt an Beaus Kinder, die dicht aneinandergedrängt in der ersten Reihe saßen. Ich wiederholte, was ich ihnen die ganze Woche lang schon gesagt hatte: dass ihr Vater immer bei ihnen sein würde, dass er ein Teil von ihnen war, und dass die ganze Verwandtschaft sie genauso lieben und beschützen würde, wie sie mich und ihren Vater geliebt und beschützt hatte.

»Natalie«, fuhr ich fort, »er ist der Teil von dir, der dich so liebevoll und mitfühlend macht. Er ist der Grund, warum du dich immer vor deinen Bruder stellst, so wie er es mit mir gemacht hat.

Hunter, Robert Hunter Biden der Zweite – er hat dich und mich für immer miteinander verbunden. Du verkörperst seine Ruhe und Zielgerichtetheit. Weißt du, du bist deinem Vater so ähnlich, als ich euch dort am Ende des Stegs gemeinsam angeln sah, war es, als wärt ihr zwei Ansichten ein und derselben Person.

So wie Tante Valerie für euren Dad und mich da war – so wie wir Onkel Jimmy hatten, Onkel Frankie, Onkel Jack, Onkel John, Mom-Mom und Da-Da – so habt ihr eure Tante Ashley, eure Tante Liz, eure Tante Kathleen, Poppy und Mimi, Nana und Pop. Wir werden euch in dieselbe Liebe hüllen, diese große und wunderschöne Liebe. Genau die Liebe also, die euren Vater und mich geprägt hat, wird auch euch prägen.«

Ich hatte natürlich keine Vorstellung, wie kompliziert all das bald werden sollte.

Noch einmal erzählte ich, wie Beau meine Hand gehalten hatte, als wir diese kleinen Jungen waren, die voller Angst im Krankenhaus lagen, und ich sagte, dass meine längst nicht die einzige Hand war, die er in seinem Leben gehalten hatte, um Beistand in einer Krise zu leisten. Die Missbrauchsopfer, die Eltern gefallener Soldaten, die Opfer von Gewaltverbrechen – er hat sie alle berührt.

»Tausende Menschen erzählen sich gerade diese Geschichten«, sagte ich, »wie Beau Biden damals ihre Hände genommen hat.«

»Er verkörperte Klarheit«, fuhr ich fort, und ich sprach zu mir selbst genauso wie zu den Anwesenden, »eine Klarheit, in die man eintreten konnte wie in einen Raum. Er war die Klarheit eines Sonnenaufgangs am Lake Skaneateles. Eine Klarheit, in der man schweben konnte. Eine Klarheit, die ansteckend war. Er war diese Klarheit nicht nur für seine Familie, sondern auch für jeden, der ihn als seinen Freund bezeichnen durfte.«

»Das einzige Anrecht, das ich auf meinen Bruder habe«, sagte ich zu all den Menschen, die von Beau berührt worden waren, »ist die Tatsache, dass es meine Hand war, die er als Erste genommen hat.«

Als ich diese Worte las, schien die Zeit nicht mehr zu existieren. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort oben schon stand (es waren zweiundzwanzig Minuten), und die Sorgen und Ängste der anderen beschäftigten mich nicht.

»Ich bin überzeugt«, sagte ich, »dass uns Gott vor zweiundvierzig Jahren ein Geschenk gemacht hat. Er hat meinen Bruder verschont, er hat ihn so lange verschont, dass er eine Liebe in die Welt geben konnte, die für tausend Leben reicht. Gott hat uns einen Jungen geschenkt, der die Last einer Liebe tragen konnte, die grenzenlos war.«

»Und wie es begonnen hat«, schloss ich, »so hat es geendet: Seine Familie war bei ihm. Wir haben ihn gehalten, jeder von uns hat verzweifelt versucht, ihn festzuhalten. Und wir haben geflüstert: Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Und bei seinem letzten Atemzug hielt ich seine Hand. Ich weiß, dass ich geliebt wurde, und ich weiß, dass er mich niemals loslassen wird.«

Als ich geendet hatte, kehrte ich zu meinem Platz zurück. Dad stand auf und küsste mich. Dann flüsterte er mir ins Ohr: »Wunderschön.«

Nach dieser langen Woche schöpfte ich Hoffnung. Ich spürte sogar, dass die anderen begannen, mich hoffnungsvoll zu betrachten. Stundenlang hatten wir dagestanden und die Beileidsbekundungen entgegengenommen, und es war, als hätte jeder Dritte, der mich umarmte oder mir die Hand schüttelte, mich aufgefordert, nach Delaware zurückzukehren und für ein politisches Amt zu kandidieren.

Kathleen und ich fuhren am Morgen nach Beaus Beerdigung nach Washington zurück. Nur wir beide. Wir hörten den Radiosender der University of Pennsylvania. In unserer Jugend hatten Beau und ich diesen Sender geliebt. Jetzt war das gesamte Tagesprogramm Beau gewidmet, der bis 1991 an der Universität studiert hatte.

Irgendwann hielt ich an und sagte zu Kathleen, dass ich mir vorstellen könnte, selbst in die Politik zu gehen.

»Weißt du«, sagte ich, »es geht mir dreckig, aber gleichzeitig spüre ich, dass da etwas ist, das mich wirklich erfüllen würde.« So viele Menschen schienen mehr als gewillt, mir die Fehler meiner Vergangenheit – die Rückfälle in den Alkoholismus, die Entlassung aus der Reserveeinheit der Navy – nachzusehen, dass ich nun auch selbst bereit war, mir zu verzeihen.

Doch ich hatte unterschätzt, wie sehr die Zerstörungen, die ich angerichtet hatte, all die Dinge, die ich meiner Familie zugemutet hatte, Kathleen noch immer belasteten.

Ihre Reaktion – »Ist das dein Ernst?« – war wohl völlig gerechtfertigt.

Den Rest der Fahrt sprachen wir kein Wort miteinander.

Und später eigentlich auch nicht mehr.

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