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Kapitel 1: Roter Nachthimmel.

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In den Wäldern des Harzes, Innerdeutsche Grenze, südwestlich des Brockens. Ende März, um Ostern 1970. Roter Nachthimmel.


Die Dunkelheit einer weiteren eisig kalten Spätwinternacht hatte sich längst über die Baumkronen des dichten hohen Tanns gelegt, der die deutschen Mittelgebirge bestand. Ein beinahe voller, jedoch im Abnehmen begriffener Mond leuchtete vom frostklaren Himmel her hell über dem Brocken und ließ deutliche Strukturen seiner eigenen Oberfläche erkennen. In den letzten Wochen hatte es noch sehr stark geschneit, daher befanden sich Ansammlungen weißen, unverfälschten pappigem Schnees an den kaltwindigen Hängen der höheren Lagen. Dort, wo sich auch in den Niederungen und Tälern des Harzes die glitzernde Feuchtigkeit hartnäckig am Boden hielt und abgeknickte dürre Bäume vor sich hin moderten, sprießten vereinzelt die verschiedensten Pilze in all ihrer Pracht und gaben sie frühgeschlüpften Insekten Lebensraum. Wenn man die Ohren spitzte, glaubte man gelegentlich den entfernten Ruf eines Waldkauzes zu hören, oder das Rascheln von Klein- und Damwild in Kuhlen mit wärmendem Unterholz.

Der grau in grau wirkende, in Wahrheit aber halb orange, halb weiße und mit einigen farbigen Peace-Zeichen bemalte leere VW Bully, welcher völlig unbeleuchtet auf der westlichen Seite der innerdeutschen Grenze am Rand der den Wald durchziehenden schmalen Behelfsstraße abgestellt war, mochte schon bessere Tage gesehen haben. Er war an den Reifen und Radkästen sehr verdreckt und wies zudem etliche kleinere Roststellen an Kanten und Fugen auf, dort, wo der Lack leicht abgeblättert war.

Ein einzelner Mann stand fast direkt vorn aufrecht daneben und urinierte gerade unablässig in den Straßengraben, als wolle er den Moosen und Gräsern dort durch das gezielte hinweg fräsen des Schnees etwas besonders Gutes tun. Sorgsam darauf bedacht, nicht versehentlich seine neuen hellen Markensportschuhe zu treffen, verlieh er seiner sich anbahnenden Erleichterung durch ein selbstgefälliges Grinsen Ausdruck. Das beinahe jungenhafte, bei näherem Hinsehen aber von der ein oder anderen feinen Alterslinie geprägte Gesicht wirkte ansonsten in Gemeinschaft mit seinen dunklen Augen eher ernst. Bei besserem Licht hätte man seinen Teint als blass beschrieben, so aber täuschten die schattigen Verhältnisse darüber hinweg, dass der Genuss von allzu viel Piece(1) in den Jahren zuvor an seiner Gesundheit gezehrt hatte. Das Haar war lang, hellbraun und leicht lockig; es fiel bis knapp über die Schultern. Dazu trug er einen buschigen Schnauzbart quer über die gesamte Breite der Oberlippe, der an den Enden über beide Mundwinkel bis zum Kinn herablief. Um den Hals herum baumelte ein dünnes viereckiges Lederband mit einem undefinierbaren handgeschnitzten Anhänger am verknoteten unteren Ende, dessen Bedeutung sich höchstens Völkerkundlern erschloss. Seine Statur wirkte eher klein, aber muskulös, mit jener Breite in den Schultern, die auf mehrjährige schwere körperliche Arbeit hindeutete. Die Kleidung, die er zur dicken Wollunterwäsche trug, war US-Import-Ware von der Stange – ein bedrucktes buntes neues Shirt mit einem unter der etwas zurückgehaltenen Jeansjacke hervor lugenden „Apollo-11“-Motiv(2), sowie eine zu dieser passenden Hose, deren Schlitz er nun, nach getanem kleinen Geschäft und pragmatischem Abschütteln seines Lieblings, wieder sorgfältig schloss.

Währenddessen hatte er unverwandt tief in den Wald hinein gestarrt, aber nichts Besonderes darin erkennen können, abgesehen von einem alten kleinen hellen Blechschild an einem schmalen, mannshohen eisernen Hohlpfahl, auf dem schwarze und rote Buchstaben die warnenden Worte HALT! HIER GRENZE! ergaben. Jetzt wandte er sich ab. Er widerstand nach kurzem, begehrlichem Blick der Versuchung, sich aus der angebrochenen Packung der filterlosen Roth-Händle eines Lungentorpedos zu bedienen, welche sich zwischen einem aktuellen landesweiten Autostraßen-Atlas, einer großen dunklen Sonnenbrille und allerlei sonstigem Kram in der Ablage über der Armaturenabdeckung im Inneren des Wagens befand. Der kleinste Lichtschein, wie etwa jener einer aufleuchtenden Zigarettenglut, wäre hier, im Dunkel der Märznacht, kilometerweit zu sehen gewesen. Eben diese Aufmerksamkeit auf sich wollte er um beinahe jeden Preis vermeiden! Eine halb zusammengerollte deutsche Abendzeitung lag auch dabei und kündete von den Gesprächen der Botschafter der Besatzungsmächte, die seit heute in Berlin zusammengekommen waren, um über den zukünftigen Status der Stadt zu verhandeln. Dies hatte die fortgesetzten Artikel betreffend den Vietnam-Krieg beinahe ins Abseits gedrängt, gegen den er und seine Freunde vor ein paar Wochen noch demonstrierten.

Ungeduldig sah er einige Sekunden lang auf seine moderne Seiko-Quarz-Armbanduhr am linken Handgelenk, die er lediglich wegen ihrer grünlich schimmernden Leuchtzeiger über dem Ziffernblatt ablesen konnte. „Shit!“, zischte er dabei äußerst leise zu sich selbst. „Wo bleiben die?“.

Er atmete tief durch und lauschte auf weitere Geräusche, doch es war nichts zu hören außer den Klängen der unberührten Natur. Ein leichter Wind kam auf, der nicht stark genug war, etwas mehr als ein kaum wahrnehmbares Rascheln in den schneehaltigen Nadeln der Bäume zu erzeugen. Ihm fröstelte kurz, trotz der Unterbekleidung und der Jacke – im Frühjahr fielen die Temperaturen hier im Harz des Öfteren noch auf deutlich unter den Gefrierpunkt. Daher rieb er sich Arme und Schultern mit den Händen und trat einige Male, deutliche Abdrücke hinterlassend, im weichen Boden fest auf, um sich etwas Aufwärmung zu verschaffen. Sein Atem ging dabei flach, aber ruhig und hinterließ einen zarten hellen Nebel in der Luft. So sehr er sich bemühte, vernahm er nicht einmal die gelegentlich auch zur Nacht unterwegs befindlichen Fahrzeuge auf der nicht allzu fernen Bundesstraße, zu der jene verzweigten Waldwege letztendlich führten, welche das Grenzgebiet markierten.

Er ging langsam halb um den großen Wagen herum und blickte angestrengt für jeweils einige Sekunden die hier fast schnurgerade verlaufende Straße herauf und herunter. Kein anderes Auto war weit und breit zu sehen. Glücklicherweise, denn wenn, wäre es womöglich eines mit westdeutschen Grenzschützern gewesen, die sorgsam darauf achteten, dass kein Mensch das sogenannte „Niemandsland“ bis zum Grenzzaun betrat. Die nächste Patrouille war in einer Viertelstunde fällig, wenn seine Informationen stimmten.

Noch zehn Minuten, maximal. Dann wurde es Zeit, wieder zu verschwinden.

*

Tiefer im Wald, auf der anderen Seite einer an dieser Stelle vielleicht fünfzehn bis zwanzig Meter breiten gerodeten und unterpflügten Sperrzone, blickte ein zweiter Mann durch ein kleines, aber leistungsstarkes Doppelfernglas. Er unterschied sich völlig von demjenigen, der auf der Westseite der Grenze auf ihn wartete. Auf ihn, und auf die acht weiteren Menschen beiderlei Geschlechts, die sich hinter und neben ihm tief im niederen Gestrüpp versteckt hielten. Auch zwei kleinere Kinder, ein etwa dreijähriges Mädchen und ein etwas älterer Junge, waren darunter, aber sie schliefen dick verhüllt am Boden bei den Frauen. Die erwachsenen Mitglieder der kleinen Gruppe waren unterschiedlichen Alters, aber keiner von ihnen jünger als fünfundzwanzig oder älter als vierzig Jahre. Die Köpfe der Männer wurden von flachen Arbeitermützen bedeckt. Zwei der Frauen trugen einfarbige dunkle Kopftücher, um ihr helles Haar zu verbergen, welches ansonsten das Mondlicht wiederspiegeln konnte, aber auch gegen die Kälte; eine dritte, hübsch, flachsblond und mit grüner Strickwollmütze, war unverkennbar hochschwanger. Alle Männer hielten sparsames Gepäck in ihren Händen oder hatten es vor sich auf dem Erdboden abgestellt. In den Gesichtern der Erwachsenen paarten sich angespannte Erwartung und Angst, welche sie einander zu verbergen suchten.

Derjenige mit dem Fernglas war um einen Meter neunzig groß, was man ihm jetzt, da er selbst nieder hockte, nicht sofort ansah, wirkte schlank, besaß dunkelblondes Haar und einen beinahe schon voluminösen sich kräuselnden Vollbart. Das ovale Gesicht bekam durch den markanten Bartwuchs eine bemerkenswerte Fülle, ohne ihn dabei älter zu machen, als er es tatsächlich war. Die augenscheinliche Kraft, die in ihm steckte, rührte von früherer sportlicher Betätigung her - ein Blick auf seine weichen Hände hätte ihn sofort als nicht handwerklich tätigen Menschen entlarvt. Seine grauen Augen wirkten ruhig und klar, während er die Lage sondierte. Wie alle anderen, war er in dicke, tarnende Kleidung gehüllt, welche sie warm hielt und ihnen zugleich half, mit der Umgebung zu verschmelzen. Letzteres war auch notwendig, denn das Grenzgebiet wurde von einer nahtlosen Kette nicht allzu weit auseinanderstehender Aussichtstürme her überwacht, auf denen jeweils speziell geschulte Wachtposten der DDR-Grenztruppen ihren Dienst versahen.

Der heimliche Beobachter wusste von einem Insider, der sie zuletzt auch durch den Sperrbezirk bis hierher gelotst hatte, das ein Stück weiter nördlich die Grenze dichter wurde. Dort bauten sie an einem Metalllamellenzaun mit hinterhältigen Selbstschuss-kartuschen, Stacheldrahtrollen und Alarmgebern, sowie sehr hohen, geschlossenen Beton-Wachttürmen, von denen aus man das Gebiet Kilometerweit überblicken konnte. Hier allerdings handelte es sich noch eines jener alten Exemplare aus Holz, die bereits seit den frühen 60er-Jahren errichtet worden waren. Im Augenblick bestand daher noch eine kleine Chance zur Flucht, aber bald würde es kein Entrinnen mehr geben!

Die Grenztruppen hatten seit einiger Zeit, wie er wusste, auch die Anweisung, ohne besondere Vorwarnung auf jedermann gezielt zu schießen, der es wagte, den Abschnitt bis zum Maschendrahtzaun zu betreten, der jenseits der gerohdeten Fläche verlief. Dort, aufgesetzt auf die Oberkante des Zaunes, gab es drei Reihen scharfen, bedrohlich wirkenden Stacheldrahtes. Ein Überklettern kam für die meisten von ihnen nicht in Frage.

Am unteren Ende hinter dem Hindernis, so hatte er jetzt durch seine Gläser erspäht, war gerade eine weitere männliche Gestalt damit beschäftigt, den Zaundraht dicht an einem der ihn mittragenden Betonpfeiler mittels einer kurzen Zange zu zerschneiden – immer nur drei oder vier Wicklungen auf einmal, um dann erst einmal innezuhalten zwecks Feststellung, ob das dadurch verursachte Geräusch auch nicht die Wachen auf dem nächststehenden Turm aufmerksam machte. Bei Nacht trug dieses sehr weit! Schließlich war die Kluft zwischen Zaun und Pfeiler so lang, dass jene Person dort den Maschendraht mit wenig Kraft derart umbiegen konnte, damit ein erwachsener Mensch in ziemlich gebeugter Haltung hindurch gelangen konnte.

Der Mann mit der Zange, der nicht wusste, dass man ihn bereits bemerkt hatte, glitt nun etwas zurück bis zu den ersten Bäumen, die den Rand des von Bewuchs freien Streifens bildeten, steckte das Werkzeug ein und stand in der Deckung der sich dort von Westen her lichtenden Baumreihen auf. Dann formte er die Hände so vor dem Mund, dass er einigermaßen echt den Ruf einer Nachteule nachmachen konnte. Die Menschen im Buschwerk auf der Ostseite hörten den Laut. Zwei oder drei von ihnen, darunter die Schwangere, blickten auf. Der vollbärtige Mann mit dem Fernglas legte dieses kurz vor sich auf einer Reisetasche ab. Dann gab er, weiterhin hockend, das Rufzeichen zurück und flüsterte leise über die Schulter weg in deren Richtung: „Es geht los! Haltet euch bereit.“

Er bemerkte, wie die Menschen sich ein wenig aus ihrer Deckung erhoben und, soweit vorhanden, Gepäck aufnahmen. Ein, zwei alte Halme brachen hörbar, als sie sich bewegten. Eine der Frauen mit Kopftuch versicherte sich, dass die beiden Kinder weiterhin schliefen, und blickte in friedliche süße kleine Gesichter mit sanft geschlossenen Augen. Noch wirkten die verabreichten Schlaftabletten. Er selbst richtete das Fernglas noch einmal ein Stück längs des Grenzstreifens entlang hinauf auf den Wachturm. Der Umriss eines einzelnen Soldaten mit typischem NVA-Helm war auf der Plattform hinter einer hüfthohen Palisade zu erkennen, aber er hatte sich momentan der anderen Richtung zugewandt. Über dessen Schulter hing ein AK-47-Sturmgewehr samt Trommelmagazin, wie der Beobachter problemlos ausmachte. Genug Munition und Feuerkraft, sie alle niederzumachen, falls er sie entdeckte.

„Jetzt!“, flüsterte er dann scharf zu denjenigen, die sich am nächsten zu ihm befanden, und machte mit der rechten Hand eine entsprechende Handbewegung, um sie zur Eile zu treiben. Die Reihenfolge war vorher abgesprochen worden: Seine eigene schwangere Frau und einer der Männer als Helfer zuerst. Dann Pause. Dann dicht nacheinander das Paar mit ihren beiden Kindern. Noch eine Pause. Dann die älteste Frau und der dritte Mann mit dem meisten Gepäck. Zum Schluss er selbst. Doch als es jetzt endlich so weit war, schienen die beiden jüngeren Männer nicht zu halten zu sein, und preschten eigennützig einfach ungestüm drauf los. Einer von ihnen war derjenige, welcher eigentlich die Schwangere hatte unterstützen sollen. Der Vollbärtige vermochte nicht, die beiden zurück zu halten, sondern schüttelte nur den Kopf, dabei zornig, aber leise, so etwas wie „verdammte Schweine!“ zischend. Im Moment konnte er nichts tun, aber später einmal würde er sich die beiden gern zur Brust nehmen wollen. Im Augenblick gab es Wichtigeres!

Die beiden Männer huschten mit ihren eigenen Taschen leicht geduckt und wieselflink geradlinig über den holprigen schneehellen Grenzstreifen und erreichten nach wenigen Sekunden das frische Loch im Zaun, wo sie von dem Fluchthelfer erwartet wurden. Er hielt jetzt den Draht von seiner Seite her beiseite geklappt, sodass sie mühelos erst die Taschen durchreichen und dann nacheinander selbst hindurch schlüpfen konnten. Die Schwangere hingegen war überrascht und unschlüssig zugleich etwas nach Luft japsend in beinahe aufrechter Haltung stehen geblieben und blickte sprachlos ihren weiterhin hockenden Ehemann an.

„Weiter!“, raunzte dieser ihr leise zu. „Du schaffst das!“, machte er ihr Mut.

„Nein. Nicht allein!“, entgegnete sie ebenso leise, aber schroff. „Nicht ohne dich!“

„Du musst! Denk an das Baby!“, verlangte er, doch sie schüttelte energisch den Kopf.

Dickkopf, dachte er. Dies war nicht der Zeitpunkt für lange Debatten! Er richtete das Fernglas erneut auf den Wachturm und erkannte, dass der Wachtposten bisher noch nicht auf sie aufmerksam geworden war. „Die nächsten, los!“, bestimmte er schnell.

Die beiden Frauen mit den Kopftüchern blickten einander kurz an. „Ich nehme den Jungen!“, meinte dann die deutlich ältere von ihnen beiden, ebenfalls leise, aber resolut, zu den zwei verbliebenen Männern, und schnappte sich das schlafende Kind. Es gab keinen Wiederspruch. Sie wirkte kräftig und stark, als habe sie bereits in ihren jungen Jahren bei der Trümmerbeseitigung nach dem Kriege mitgeholfen, und besaß keine Mühe, den eingehüllten Knaben zu tragen. Die Mutter der beiden Kinder hingegen war wesentlich schmächtiger, trotzdem lud sie sich wie lange zuvor besprochen das kleine Mädchen auf. Es blieb noch genug übrig, was ihr ebenfalls noch hier befindlicher eigener Mann würde hinterher tragen müssen. Dann machten sie sich kurz nacheinander auf den Weg. Jene Frau, die den Jungen trug, schien nicht nur stark, sondern auch trainiert und laufschnell zu sein – sie erreichte den Maschendrahtzaun in nur wenig mehr Zeit, als soeben die abtrünnigen Männer benötigt hatten. Letztere waren inzwischen jenseits des Zaunes bereits tiefer im Wald untergetaucht und zwischen den dort wieder dichter werdenden Bäumen im Dunkeln nicht mehr zu erblicken.

Die zweite Frau versuchte der ersten so rasch wie möglich zu folgen, jedoch geschah hierdurch das, was von dem einen oder anderen vielleicht insgeheim befürchtet worden war: Plötzlich stürzte sie aus dem Lauf heraus mitsamt des von ihr getragenen kleinen Mädchen etwa fünf, sechs Meter vor dem Ziel an einer glatten Stelle in einer Furche des Bodens, fiel unkontrolliert der Länge nach in den hier nur dünnen Schnee hin und schrie dabei kurz auf. Das getragene, ummantelte Kind entglitt beim Aufprall ihren reflexartig hochgestreckten Armen und kullerte durch die gemeinsame Vorwärtsbewegung noch einen halben bis einen Meter weiter.

Der Mann mit dem Fernglas hielt den bei ihm noch verbliebenen anderen mit einem schnellen Griff am Arm auf, als dieser, erschrocken, sofort losrennen wollte, um seiner ausgeglittenen Frau und der Tochter zu helfen, denn gerade drehte sich der Wachtposten oben auf dem Turm langsam um. Ein zweiter dort oben, der bisher nicht von unten her wahrgenommen worden war, da er wohl für ein Päuschen hinter den Brettern auf dem Boden gesessen hatte, gesellte sich zu ihm, und es war zu erkennen, dass die beiden sich kurz unterhielten. Die Worte waren freilich nicht zu verstehen. Einer der beiden setzte ein Fernglas an die Augen. Es war ein großes, schweres NVA-Zeiss-Jagdglas mit restlichtverstärkender Optik, die nichts verborgen hielt. Aber er suchte zu weit; der in Augenschein genommene Sektor begann erst knapp hinter jener Stelle, an welcher die benommene Frau und das Kind lagen.

Die beiden verbliebenen Männer und die Schwangere warteten nervös, bis die Soldaten auf dem Wachturm sich nach Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, wieder abwandten. Offenbar hatten sie von dort aus etwas bemerkt gehabt, aber nichts wirklich mitbekommen. Der Vollbärtige unten im Versteck ließ den anderen los und nickte ihm kurz zu, damit er sich auf den Weg machen konnte. Dieser nahm zwei schwere Taschen auf und rannte los. Die ältere Frau mit dem Jungen lief bereits jenseits des Zaunes hastig durch den anfangs noch lichteren Wald, als sich die Gestürzte, aufgefordert durch den sie nervös herbei winkenden Fluchthelfer am Zaun, wieder aufrappelte. Die Knie ihrer Hosenbeine waren aufgeschürft, und möglicherweise hatte sie eine Prellung an der Brust davongetragen, da sie ihre kleine Tochter im Fallen nicht losließ, sondern schützend nach vorn und oben hielt, und so ihren eigenen Sturz nicht abfedern konnte.

„Nimm Kathrin!“, flüsterte sie, als ihr Mann sie erreichte. „Ich komme schon klar!“, aber es war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich bei dem Sturz verletzt hatte. Nicht sehr, aber doch so, dass sie etwas gehandicapt sein würde. Er warf die Taschen mit Schwung über ein paar Meter hinweg auf den Durchlass im Zaun zu, wo sie von demjenigen dahinter gerade so erreicht und durch das Loch gezogen werden konnten. Dann beugte er sich herab und wollte gerade nach der in einer Furche liegenden Kleinen greifen, als diese erwachte und unmittelbar darauf laut zu weinen begann. Möglicherweise hatte sie sich bei dem Sturz trotz der Ummantelung weh getan, oder gar eine ernstere Verletzung zugefügt. Die Frau war derweil mit etwas Mühe aufgestanden und bewegte sich danach, deutlich humpelnd, so schnell es ihr möglich war, die letzten Meter auf die Öffnung im Maschendraht zu.

Maaaammmaaaaa!“, schrie das Kind und streckte ein Ärmchen der Mutter hinterher. Von einer Sekunde zur anderen änderte sich alles. Ein mittlerer Scheinwerfer, auf dem Wachturm entflammt, tauchte den Abschnitt, auf welchem sie sich befanden, in gleißendes Licht, aber es dauerte noch einen Moment, bis die Soldaten dort völlig realisierten, was vor sich ging. An dieser Stelle, wenn auch außerhalb, so doch nahe des militärischen Sperrgebietes des Brockengipfels, rechneten sie nicht wirklich mit einem illegalen Grenzübertritt, und waren dementsprechend überrascht.

In dem Moment hatte die Frau bereits den Zaun erreicht und sich halb hindurch gezwängt. Der Mann mit dem nun schreienden Mädchen auf dem Arm, jetzt fast panisch zurückblinzelnd in der plötzlichen Helligkeit, befand sich direkt hinter ihr.

„Verdammt!“, entfuhr es dem Vollbärtigen in seiner Deckung. Dessen schwangere Frau war nah zu ihm heran getreten und fasste ihn gerade erschrocken an einer Schulter. Sie sahen einander verstehend an. Die Frau war kleiner als der Mann, vielleicht einen Meter siebzig oder weniger, und besaß um ihr glattes Gesicht herum eine energische Ausstrahlung. Sie wirkte kraftvoll, aber nicht bäuerlich, und schien eine gewisse Mühe damit zu haben, die Balance zu halten. Ihre Niederkunft war längst überfällig – ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hatte, ohne dass die Wehen einsetzten.

Oben auf dem Wachturm richtete der eine Soldat den Lichtkegel genau auf die Bewegung am Zaun. Der andere hatte das Sturmgewehr von der Schulter genommen und machte dieses weithin hörbar mit zwei kurzen Handgriffen schussbereit. „Halt! Wer da? – Stehenbleiben!“, schallte es im selben Moment herunter. Ein alter Lautsprecher verstärkte die Aufforderung, sodass sie nicht zu ignorieren war.

„Meinst du, dass sie wirklich gezielt schießen?“, fragte die Schwangere leise, mit einem nun doch ängstlichen Ausdruck im Gesicht. Sie hatte ebenfalls das Waffengeräusch gehört und glaubte nicht mehr, dass ihnen die Flucht überhaupt gelänge. Besser, sie kehrten um!

„Ich will es nicht hoffen!“, meinte der Vollbärtige. Sein Flüstern klang jetzt mehr besorgt, aber nicht ängstlich. „Aber sie haben entsprechende Anweisungen.“

Eine in kurzen, durchdringenden Intervallen hupende Sirene ging plötzlich los, oben auf dem Turm, und ihr kilometerweit hörbares Dröhnen lag sofort in Aller Ohren. Die Frau erschrak, und nochmals, als ihr Mann im Lärm den Reißverschluss der vor ihm liegenden, prall gefüllten Reisetasche aufzog und dieser zwischen den darin befindlichen Kleidungsstücken eine ältere Luger-P08-Pistole entnahm. Er wusste, dass die Waffe keine große Reichweite besaß, aber vielleicht war es ihm möglich, die Wachen damit abzulenken. Wenn er auf dieser Seite des dichteren Waldes in Richtung auf den Wachturm zu lief, würden sie auf ihn aufmerksam, und ihr gelang vielleicht die Flucht. Vielleicht! Wenn sie dann nur hinter ihm her waren, würde er sich zu helfen wissen. Er prüfte die Waffe kurz auf ihren Ladezustand. Acht Schuss, mehr gab es nicht, aber immerhin!

Er erhob sich etwas und nahm die Schwangere intensiv in die Arme, blieb aber vorsichtig, um nicht ihren gewölbten Bauch zu drücken. Dann sagte er ihr mit schnellen Worten direkt ins Ohr, damit sie es trotz der Alarmsirene verstand: „Ich renne auf den Wachturm zu. Wenn sie die Richtung des Scheinwerfers ändern, um mich zu erfassen, gehst du los. - Gott sei mit dir!“. Er gab ihr einen kurzen Kuss.

„Aber…“, wollte sie einwenden, und nahm dabei etwas Abstand.

„Keine Wiederrede! Du musst ´rüber! Denk´ auch an den Film!“, sagte er energisch. Sie wusste, was er meinte: Den kleinen Minoxfilm, den sie mit Leukoplast-Streifen unter der Kleidung an den Leib geklebt trug, und der wichtige Informationen enthielt! Informationen, die unbedingt die Organisation erreichen mussten, für welche sie und ihr Mann in den letzten sieben Jahren gearbeitet hatten. Hier, im Osten, heimlich. Doch das war jetzt vorbei, denn offenbar waren sie aufgeflogen, und hatten beinahe halsüberkopf die Flucht antreten müssen. Es blieb nunmehr keine Zeit für lange Abschiedsworte. Die Zeit arbeitete gegen sie.

Der jungen Frau am Zaun war es inzwischen gelungen, ganz hindurch zu schlüpfen und von ihrem Mann das Mädchen entgegenzunehmen. Dieser wartete ungeduldig, um ihr zu folgen, verhedderte sich dann aber etwas im Draht, weil der Fluchthelfer sich um die Frau und das Kind kümmerte, anstelle den Durchschlupf offen zu halten.

„Du gehst ´rüber! Ich komme nach, sobald ich kann!“, sagte derweil der dies besorgt beobachtende Vollbärtige in der Deckung und spurtete los, dicht bei den Bäumen und fast jenseits des Lichtkegels, der weiterhin noch zentral auf die Stelle gerichtet war, an welcher jetzt der andere Mann ein wenig festsaß. Die Pistole steckte dabei gesichert hinten im Hosengürtel.

Der Soldat mit der Maschinenpistole gab zwei einzelne Schüsse ins Licht ab, ohne jedoch genau auf jemanden zu zielen. Die Kugeln gingen an den Flüchtenden und am Zaun vorbei in den weichen Boden. Schnee, Erde und Gestein spritzten auf. Das spornte den Mann im Zaun an, der beim ersten scharfen Knall zusammengezuckt war, und es gelang ihm, ebenfalls ganz hindurch zu gelangen. Von dort aus blickte er zurück und konnte sehen, dass die Schwangere besonnen noch abwartete. Es war viel zu gefährlich für diese, durch das Licht zu gehen, denn die Soldaten auf dem Wachturm hätten sie dann voll im Visier… Und sie konnte keinesfalls rennen oder auch nur schnell laufen, wie die anderen vorher!

Ein wenig ratlos, was er jetzt tun solle, blickte er den Fluchthelfer an. Dieser sah beinahe genauso aus wie der Mann am VW und schien dessen Zwillingsbruder zu sein. Seine Haare waren jedoch kürzer gehalten und er besaß keinen Schnauzbart, das Gesicht hatte er unter Zuhilfenahme von Ruß geschwärzt. Im vollen Licht des Scheinwerfers nützte das freilich gar nichts, und Angst stand in seinen Augen. Anstelle des Jeans-Outfits trug er zu Stiefeln eine olivgrüne Bundeswehrhose und einen entsprechenden Parka mit hochgezogener Kapuze. Auf beide waren mit Filzschreiber an diversen Stellen verblassende Friedenssymbole aufgemalt.

„Wir können nicht warten. Die wissen das!“, sagte der Fluchthelfer schnell mit einer Kopfbewegung in Richtung auf die andere Seite.

„Bringen Sie meine Frau und unsere Tochter zum Wagen. Ich warte noch! Geben sie uns zwei Minuten. Ich bitte Sie!“

„Zwei Minuten!“, wurde ihm nach kurzem Zögern zurückgenickt. Der Fluchthelfer verschwand mit der Frau und dem kleinen Mädchen, dass er nun selber trug, im Wald. Die Frau stolperte beinahe erneut und hinkte hinterher, fortan bemüht, nicht im hier spärlichen, aber schneebedeckten Bodenbewuchs hängen zu bleiben, während der Mann vor ihr trotz der Last bewusst geübte hohe Schritte machte. Kurz darauf erreichte er den VW Bully. Jene beiden Männer, die verfrüht gestartet waren und die Frau mit dem Jungen saßen bereits an verschiedenen Stellen darin. Der Fahrer hingegen stand aufgeregt neben der aufgezogenen Schiebetür, gestikulierte wild und brüllte seinen Bruder sichtlich erregt an. Der Alarm war dabei auch hier deutlich zu hören.

„Was ist los, verdammt? Ich habe Schüsse gehört! Wo bleiben die übrigen?“

Der angesprochene machte eine Kopfbewegung hinter sich, während die Frau ebenfalls am Wagen ankam, an beiden vorbei humpelte, bereits einstieg und er ihr das Kind hinterher reichte. Leicht außer Atem vom schnellen Lauf durch die hier in Grenznähe lichteren Baumreihen versuchte er, zu beruhigen: „Kommen gleich!“

Der eine Wachtposten auf dem Turm bewegte jetzt, enzwiegespalten, den Scheinwerfer etwas nach unten und zur Seite, sodass der Lichtkegel daraus beinahe mittig den rennenden Mann erfasste, der mit großen, eiligen Schritten direkt am Waldrand auf sie zukam und vorher lediglich schattenhaft wahrnehmbar gewesen war. Der zweite legte mit seinem Sturmgewehr an und ließ sogleich einen kurzen Feuerstoß daraus folgen. Die wenigen Kugeln hinterließen eine gerade Linie im Acker, bis sie den Bärtigen beinahe erreichten, aber dieser war geistesgegenwärtig genug, um im letzten Moment seitlich ins Unterholz abzutauchen.

„Halt! Stehenbleiben! Es wird scharf geschossen!“, vernahm er sogleich eine sehr laute drohende Stimme mit deutlich ostdeutschem Akzent vom Turm aus herunter. Er rappelte sich etwas auf und blickte zurück in die Richtung, in der seine schwangere Frau darauf wartete, losgehen zu können. Das Licht aus dem Scheinwerfer reichte jetzt nicht mehr bis zu ihr, er konnte sie unter dem Mond kaum ausmachen und glaubte daher lediglich, ihre Umrisse tatsächlich zu sehen. Ebenfalls aus dieser Richtung, aber noch weiter entfernt, war allerdings in den kurzen Unterbrechungsintervallen der monotonen Sirene sich schnell näherndes Hundegebell zu hören. Eine mobile Grenzstreife!

Seine Frau hatte offenbar erkannt, dass dies ihre letzte Chance war. Sie ging, sorgsam ihr Gleichgewicht haltend, aber wackelig, allein vorsichtig über den gepflügten Boden, dabei bemüht, in den eisigen Furchen nicht zu stolpern, wie die andere Frau mit dem Mädchen vor ihr. Wie ihre Vorgänger, hinterließ sie Fußspuren im Schnee dort, wo er etwas lockerer war. Hoffnungsvoll beobachtete der Vollbärtige daher, dass sie bereits die Hälfte der Strecke überwunden hatte, als der Soldat oben auf dem Turm zu seinem Entsetzen den Lichtkegel wieder in diese Richtung lenkte.

Auch der Familienvater, der nun noch jenseits des Zaunes wartete, wurde am Rande erneut mit erfasst, und blickte abermals aufgeschreckt in Richtung des Turmes.

Schnell zog der Bärtige die Pistole aus dem Gürtel, entsicherte sie, und lud sie durch. Es schien ein oft geübter, flüssiger Handgriff, und auf das Geräusch kam es jetzt nicht mehr an. Sorgfältig zielte er in die Richtung, aus der das Licht kam, und drückte dann langsam ab. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Abstände waren kurz, aber nicht übereilig. Mit dem ersten Schuss erschraken die Soldaten, beim zweiten hatte derjenige mit der AK-47 im Anschlag das Mündungsfeuer ausgemacht. Der dritte ließ tatsächlich das Glas des Scheinwerfers zerspringen und dessen Licht im kurzen Funkenregen verlöschen. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aber er wollte niemanden verletzen, so prekär die Situation auch war.

Der Soldat, der den Scheinwerfer bedient hatte, ging in Deckung, während der andere den Schützen ein Stück entfernt unter ihm jetzt, weit weniger zurückhaltend, unter Dauerfeuer nahm. Die Salve kam trotz der abrupten Dunkelheit ziemlich genau, und dieser musste hastig beiseite springen, um nicht getroffen zu werden. Baumstämme, Äste und Schnee wurden getroffen, die Kugeln pfiffen dicht vorbei. Eine zweite Salve lag allerdings schon wieder deutlich weiter daneben.

Von hinten näherte sich schnell die Streife, deren beide Hunde nun vermehrt bellten. Etwas wurde dort gerufen, ging aber in der Lautstärke der Schüsse und der Sirene unter. Licht aus zwei starken, batteriebetriebenen Feldhandlampen schien ihnen voraus. Die Schwangere beeilte sich jetzt doch ein wenig mehr, und der Flüchtige hinter dem Zaun machte ihr im Mondlicht nervöse Zeichen, nicht aufzugeben, aber gleichwohl vorsichtig zu sein.

Doch dann ließ die mobile Streife die beiden trainiert-bissigen Schäferhunde los. Diese wetzten wie von einer Tarantel gestochen weitläufig in jene Richtung, in der die Frau lediglich noch drei, vier Meter bis zum Zaun zurückzulegen hatte. Der Vollbärtige wandte sich in seiner Deckung um und versuchte, den Leithund anzuvisieren, doch die beiden sorgsam dorthin abgefeuerten Kugeln gingen an diesem knapp vorbei, da er die wechselnde Geschwindigkeit der Tiere auf dem zerfurchten und hier und dort glatten Boden nicht richtig einkalkulieren konnte. Die zähnefletschenden Vierbeiner stoben zu seinem Entsetzen unvermindert weiter vorwärts, dabei die auf sie abgegebenen Schüsse ignorierend, und erreichten seine Frau, gerade bevor sie am Zaun anlangte. Der Leithund sprang sie aus vollem Lauf heraus an und riss sie zu Boden, während der Mann dahinter ihr vergeblich einen Arm entgegenstreckte.

Der Vollbärtige konnte nun nicht mehr schießen – zu groß wäre die Gefahr gewesen, anstelle der Hunde seine eigene Frau zu treffen. Diese war niedergestürzt und wurde nun von beiden Tieren mit heftigen Bissen attackiert.

Seine Schüsse indes hatten den Posten auf dem Wachturm genau gezeigt, wo er sich befand, und eine weitere Salve wurde von dort aus auf ihn im Dunkeln abgegeben. Erneut versuchte er, im Unterholz Deckung zu finden, aber als er sich gerade in einer Richtung niederwerfen wollte, spürte er einen scharfen Schmerz im Rücken, unten, Mitte, fast direkt neben der Wirbelsäule. Ein zweiter Einschlag erwischte ihn höher, an der Schulter, als er bereits kurz aufschrie und stürzte. Die Pistole entglitt seinen Händen und verschwand in der Dunkelheit. Der Soldat oben hatte einfach weitergefeuert und schließlich mehr oder weniger zufällig getroffen. Einen Moment später flammte auf dem Wachturm ein kleinerer Ersatzscheinwerfer auf, und beleuchtete von neuem die Szenerie.

Während der Mann, zweimal von hinten getroffen, bäuchlings am Waldesrand im Unterholz lag und gerade keiner Bewegung fähig war, rang seine Frau verzweifelt mit den beiden Hunden, die sich in ihre Gliedmaßen verbissen hatten: Der eine in ihren rechten Unterarm, der andere in den linken Unterschenkel. Sie zappelte und schrie, während sie versuchte, wenigstens das Vieh an ihrem Arm loszuwerden.

Derjenige hinter dem Zaun war versucht, ihr zu helfen, doch dann sah er die beiden Soldaten der Fußstreife herannahen. Einer von ihnen hatte bereits sein bislang geschultertes Gewehr heruntergenommen und war stehengeblieben, um sauber zielen zu können. Der andere kam, die Lampe in der einen und seine Dienstpistole, eine alte Makarov, in der anderen Hand, schnell auf ihn zu. Er trug eine Schirmmütze, was auf einen höheren Dienstgrad hinwies. An einer Stelle glitt er etwas zur Seite aus, konnte sich aber noch fangen. Die plötzliche Bewegung hinderte seinen Untergebenen hinter ihm jedoch einen Moment, abzudrücken.

Der Familienvater sah es und überlegte nur kurz: Sie alle befanden sich eindeutig noch auf ostdeutschem Gebiet - auch wenn der Zaun hier stand, lag die tatsächliche Grenze doch ungefähr zweihundert Meter weiter westlich im Wald: Dort, wo die Schilder aufgestellt waren. Womöglich würde man keine Hemmungen haben, auch jenseits des Zaunes auf ihn zu schießen.

Die Schwangere blickte ihn tränenflehend an, aber er konnte nichts tun. Wenn er hier blieb, würde man nicht nur sie, sondern auch ihn festnehmen und für eine lange Zeit einsperren. Seine Frau! Seine Kinder! Aus der Traum vom Westen…

Er malte sich die drohenden Verhöre und das Gefängnis aus. Mit einem Ausdruck des Bedauerns ließ er den bislang aufgehaltenen Zaun los, drehte sich traurig um und verschwand im Wald. Das Gepäck blieb in der Eile zurück. Zwei einzelne weitere Schüsse fielen, was ihn dazu veranlasste, noch schneller zu laufen und sich nicht einmal mehr umzudrehen. Die Kugeln verfehlten ihn, sofern sie überhaupt gezielt abgegeben worden waren, und landeten in den Bäumen und in niederen Ästen. Als er die Landstraße erreichte, saßen alle anderen im VW Bully, die beiden feige überstürzt gestarteten jungen Männer hinten in der letzten Reihe. Der Wagen wäre gerade eben groß genug für alle, die mitfahren sollten, wenn man die Kinder und einen Teil des Gepäcks auf den Schoß nahm. Die Seitentür stand weiterhin offen, aber der Fahrer war inzwischen eingestiegen, hatte den Motor angelassen und die Scheinwerfer eingeschaltet. Er spielte nervös am Gas, sodass der Motor bereits im Leerlauf hochtourig runddrehte. Dessen Bruder war damit beschäftigt, von innen her die Schiebetür zu schließen. Offenbar war man im Begriff, abzufahren, notfalls auch ohne ihn - obwohl seine Frau genau das lautstark und handgreiflich zu verhindern versuchte, während sie in dem einen Arm ihre kleine Tochter hielt.

„Halt!“, rief er ihnen laut zu, und er Fahrer stoppte den bereits anrollenden Wagen noch einmal ab, damit er zusteigen konnte. Der Beifahrersitz des Bullys war für die Schwangere freigehalten gewesen und wirkte jetzt über alle Maßen leer.

Mann, nun mach voran! - Wo sind die Ruth und der Carl-Heinz geblieben?“, herrschte der schnauzbärtige Fahrer ihn über den Innenspiegel hinweg an, aber am Gesichtsausdruck des Angesprochenen konnte er dessen Antwort bereits ablesen, bevor dieser sie gab.

„Die haben es nicht geschafft!“, kam sie mit sehr zittriger, schneller Stimme. Kaum dass er ebenfalls im Wagen saß, half er selbst mit, die Schiebetür zu schließen, und es kam ihm dabei vor, als beteilige er sich an einem gemeinen Verrat. Wie um davon abzulenken, sah er mit grimmigem Gesichtsausdruck jene beiden Männer hinten an, die als erste losgelaufen waren, ohne Rücksicht auf die übrigen. Die zwei wandten die Augen betreten nach unten und blickten nicht zurück. Vielleicht war es wirklich so etwas wie einsetzende Reue, aber diese kam nun zu spät. Sie alle besaßen eine recht lebhafte Phantasie davon, was es bedeutete, einen Fluchtversuch zu unternehmen, dabei aber gefasst zu werden.

Die schmächtige Frau nahm ihren Mann jetzt liebevoll in den Arm. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien und weinte angesichts beider Elternteile nur noch leise aufgeregt vor sich hin. Auch der Junge war nun erwacht, rieb sich verstört die Augen und sah sich schüchtern um. Die zweite, etwas stämmigere und ältere Frau, die ihn hergetragen hatte, wirkte nur mäßig erleichtert. Sie hatten es geschafft, ja, aber nicht alle!

Deprimierte Stimmung breitete sich unter den Insassen aus, die später nur langsam dem Gefühl der Erleichterung wich, selbst die Grenze erfolgreich überwunden zu haben. Der Fahrer schaltete hörbar in einen höheren Gang, beschleunigte den Wagen so schnell es ging auf eine ansehnliche Geschwindigkeit, die deutlich über dem lag, was auf der glatten, schmalen Straße im Wald ratsam war, und binnen weniger als einer Minute wurden die Rücklichter des VW Bully immer kleiner und kleiner, bis sie in einer Kurve endgültig verschwanden. Vom westdeutschen BGS war weiterhin nichts zu sehen.

*


Am Grenzzaun hatte sich bereits die Fußstreife schnell laufend bei ihren Hunden eingefunden, welche einer jetzt am Halsband zurücknahm und mit knappen Befehlen beruhigte. Es folgten noch ein paar lautstarke Beller, wütendes Zähne fletschen und Knurren der Tiere gegenüber ihrem Opfer, dann waren sie beinahe ruhig. Die Frau wand sich wimmernd am Boden. In Arm und Bein waren durch die dort zerfetzte Kleidung hindurch deutlich blutende, tiefe Bissverletzungen zu erkennen, aber trotz starker Schmerzen hielt sie die Hände vor ihrem schwangeren Bauch überkreuzt, unterbewusst, phlegmatisch, wie um das Ungeborene darin zu schützen.

Der Offizier, der die Makarov aus der Koppel gezogen hatte, zielte damit auf ihren Kopf, während der zweite sein Gewehr wieder geschultert hatte und sich tätschelnd um die Hunde kümmerte. Der Finger lag am Abzug und krümmte sich bereits leicht.

„Nicht!“, bremste ihn der Untergebene, kurz aufblickend. „Die ist fertig!“

Die ist ein Republikflüchtling. Und möglicherweise eine imperialistische Spionin!“, fauchte der mit der Pistole. Er spuckte verächtlich aus, weiterhin auf sie zielend.

„Es muss trotzdem nicht sein. Verdammt, Otto! – Scheiß´ auf den Befehl!“, bat ihn der erste, jüngere, und der ältere steckte die Waffe zurück ins Holster, nachdem er sie gesichert hatte. Die beiden verband offenbar eine langjährige Freundschaft, sonst hätte es wohl kaum derartige Widerworte gegeben, denn die Hierarchie war eindeutig. Der Ranghöhere wirkte allerdings nicht sonderlich zufrieden.

Ein Wachtposten war inzwischen von dem Turm herabgestiegen und zu dem Mann mit dem Vollbart geeilt, der im Unterholz lag. Bevor der Soldat ihn erreichte, versuchte der Verletzte vergeblich, seine Pistole zu ertasten, die irgendwohin weggerutscht war. Aber er konnte sie nicht finden. Stattdessen merkte er, dass er in den Beinen jedes Gefühl zu verlieren schien. Er konnte sie schon kaum mehr bewegen. Mindestens eine Kugel musste ihn deutlich schwerer getroffen haben, als er anfangs angenommen hatte. Trotzdem rollte er sich schmerzerfüllt auf den Rücken herum.

Der Grenzsoldat stand bereits direkt neben ihm, selbst die Kalaschnikow in den Händen und diese auf ihn gerichtet. Der Ersatzscheinwerfer des Turms tauchte die Szenerie gemeinsam mit dem Mond in ein diffuses Zwielicht. Der NVA´ler kam zu dem Schluss, dass von dem Vollbärtigen keine besondere Gefahr mehr ausging. Trotzdem blieb er sehr vorsichtig. Schließlich hatte man auf sie geschossen!

„Was ist mit meiner Frau?“, fragte der Liegende mühsam, während ihm die Sinne bereits zu schwinden begannen. Er brachte die Worte kaum richtig heraus. Sein Atem ging schwer und rasselnd, etwas Speichel und Blut liefen auf einer Seite des Mundes heraus und benetzten den Bart. Er musste husten. Der Blick war nach oben in den Himmel gerichtet, der sich eigentlich schützend über seiner Heimat ausbreiten sollte. Er nahm das gegenüber dem Scheinwerfer weichere Hellgelb des Mondes wahr und sah vereinzelte ferne, sehr ferne Sterne. Der Soldat wandte sich mit dem Kopf etwas um, ohne die Richtung des Waffenlaufs zu ändern, und konnte dort, im vollen Licht, erkennen, dass die Frau offenbar lebte und gerade von seinen Kameraden in Gewahrsam genommen wurde.

„Sie ist nicht tot.“, stellte er fest, sich wieder an den Mann auf dem Boden wendend.

„Tun sie ihr nichts. Sie kann nichts dafür!“, flehte er, und hustete erneut leicht.

„Sie lebt. Mehr können Sie nicht erwarten.“, sagte der Soldat ernst. Er sicherte und schulterte sein Gewehr und leuchtete den Mann am Boden dann mit seiner Taschenlampe an. Im starken Licht besaßen dessen Gesichtszüge eine gewisse Härte, die zuvor noch getragene Arbeitermütze war ihm vom Kopf gerutscht und lag neben ihm am Boden, sodass sein volles Haar zur Gänze sichtbar war. Kälte breitete sich im Leib des schwer Verwundeten aus, und dieser vermochte nicht zu erkennen, ob sie vom Kreislauf oder frostigen Boden herrührte, ebenso wenig, wie er das ihn schnell verlassende Blut von unter ihm schmelzendem Schnee unterschied.

Das Kind…“, begann er noch einmal; es klang sehr schwach. Doch in diesem Moment ereilte ihn ein plötzlicher Schmerz, und er verlor sehr schnell das Bewusstsein. Ein Zucken ging durch seinen Leib. Das letzte, was er wahrzunehmen glaubte, war der Nachthimmel über ihm, der sich in seiner Einbildung zunehmend rot färbte.

Ein Stück entfernt hatten die Soldaten der mobilen Streife die Frau hochgezogen und deren Hände mit geketteten Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Sie hielten sie leicht gepackt, und die Hunde wachten sorgfältig darüber, dass sie keine Gegenwehr leistete. Doch sie blickte nur stoisch, schmerzgeplagt und entsetzt in die Richtung, in welche sie gemeinsam gingen, wobei sie selbst mehr humpelte. Schon von weitem erkannte sie im Licht ihren Mann, der dort reglos im Schnee am Waldrand lag. Sie begann hemmungslos zu weinen und fiel bald kraftlos auf die Knie.

Otto - derjenige, der sie lieber gleich erschossen hätte - langte nach seinem großen Funkgerät, das am Gürtel saß, um die Zentrale zu informieren, nachdem die Sirene auf dem Wachturm verstummte. Bald würden weitere Soldaten des 7. Grenz-sicherungskommandos ohne Begeisterung aus den warmen Stuben von Schierke hierher hinaus in die Eiseskälte kommen. Ein ganzer Zug war dort stationiert, denn schließlich handelte es sich beim Brocken um militärisches Sperrgebiet.

*


Obwohl es seitens einiger der erfolgreich in den Westen geflüchteten Personen alsbald eindeutige, in einem Fall sogar beeidete Zeugenaussagen bei westlichen Behörden gab und das Kanzleramt eine vorsichtige Anfrage startete, dementierte die DDR-Führung in Berlin zwei Wochen später scharfe Schüsse auf ihre eigenen Bürger an der Grenze am Gründonnerstag. Die neue, auf Verständigung abzielende Ostpolitik des westdeutschen Bundeskanzlers Willy Brandt sollte nicht strapaziert werden, daher beließ man es auch von Bonn her dabei und hakte nicht intensiver nach. In der DDR gab es keinerlei öffentliche Meldungen über das Geschehen. Das Ereignis an der Grenze war, wenn überhaupt, nicht mehr als eine Randnotiz in den Nachrichten der westdeutschen Presse. Im Radio und im Fernsehen gab es gar nichts hierüber zu erfahren. Die Wochen und Monate danach wurden in ihnen beherrscht von der misslungenen Apollo-13-Mission der Amerikaner, dem andauernden Vietnamkrieg, den erneuten Maiunruhen in Frankreich, einem Treffen zwischen dem stellvertretenden DDR-Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph und Willy Brandt, ferner dem letzten veröffentlichten Beatles-Album, der Fußball-Bundesliga-Meisterschaft von Borussia Mönchengladbach, von einem großen Erdbeben in Chile und dem Aufkommen der späteren Rote-Armee-Fraktion (RAF) in Westdeutschland unter Ulrike Meinhoff und Andreas Baader („Baader-Meinhoff-Bande“). Von ähnlichen Zwischenfällen der nächsten Jahre an der Grenze sprach man oft gar nicht offiziell.

1971 wurde Erich Honecker Staatsratsvorsitzender der DDR. Nahostkonflikt, Ölkrisen und Olympische Spiele mit dem Massaker von München folgten… - all dies nahm die Menschen gefangen. Nicht Einzelschicksale an der innerdeutschen Grenze. Aufgrund der sich erweisenden Unzuverlässigkeit der menschlichen Wachtposten an der die Deutschen trennenden Grenze wurden diese in jener Zeit auf der DDR-Seite völlig durch Selbstschussanlagen ersetzt, der Todesstreifen sukzessive verbreitert und durch mehrfache Stacheldrahtrollen, automatisierte Hundelaufanlagen sowie leichte Landminen unpassierbar gemacht.

Es waren ereignisreiche Jahre, und die Zeit schritt zügig weiter voran. Erst am 3. Mai 1974, also mehr als vier Jahre nach dem vertuschten Grenzzwischenfall, bestätigte der Nationale Verteidigungsrat der DDR zumindest inoffiziell den jetzigen und zukünftigen Einsatz von Selbstschussanlagen gegen so bezeichnete Republikflüchtlinge. Vier Tage hiernach trat im Westen Willy Brandt vor dem Hintergrund der Spionage-Affäre Guillaume(3) als Kanzler zurück.

Was weiter aus dem vollbärtigen Mann und seiner schwangeren Frau wurde, die vergeblich versucht hatten, zusammen mit den anderen in den Westen zu gelangen, wurde nie offiziell bekanntgemacht.


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Geheimauftrag für Sax (3)

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