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Kapitel 2: Kein schöner Land…

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Leipzig. Deutsche Demokratische Republik. Anfang Dezember 1988. Kein schöner Land…


Die Jahre waren, so schien es, im Eiltempo durch die beiden deutschen Staaten gerast. Hüben wie drüben wurde das Schicksal der Teilung der Nation von den meisten Deutschen inzwischen hingenommen. Die Welt drehte sich weiter, auch die Rüstungsspirale der Supermächte - und zu Beginn der achtziger Jahre, als der Nato-Doppelbeschluss die Menschen beunruhigte, neue politische Strömungen für den Frieden hervorbrachte und Regierungen veränderte, drohte die Welt zugleich ein einziges immer schnelllebiger werdendes Tollhaus zu werden.

Im Westen waren die Sozialdemokraten in der Staatsführung abgelöst – es gab nunmehr dort Kanzler Helmut Die Birne Kohl und eine christlich-liberale Bundesregierung, Privatfernsehsender, Homecomputer, C-Netz-Mobiltelefone und lange Schlangen an den Kaufhauskassen, weil jeder ein Mountainbike haben wollte. Im Osten gab es weiterhin den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und seine Spießgesellen, Schmuddel-Ede im Schwarzen Kanal, Schwarzbier, Broiler, grüne Ampelpfeile, Spreewaldgurken und lange Schlangen vor den Läden, falls es ausnahmsweise mal wieder Bananen geben sollte. Und ersten offenen Unmut sowie Protest gegen die Zustände. Und Witze. Ein viel zitierter aus jener Zeit, der einem bei lautem Erzählen durchaus längere Haft einbringen konnte, lautete: „Die USA, die Sowjetunion und die DDR wollen gemeinsam die Titanic heben. Warum? Die USA interessieren sich für den Goldschatz und den Tresor mit den Brillanten. Die Sowjetunion interessiert sich für das technische Know-how. Und die DDR interessiert sich für die Musiker, die beim Untergang fröhliche Lieder gespielt haben.“

Vom letzten Drittel des Jahrzehnts an begannen sich Glasnost und Perestroika von Gorbatschow sukzessive in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang auszuwirken, und selbst in der DDR glomm ein kleines, helles Licht in dunkler Nacht. Was genau für Veränderungen auf die Gesellschaft zukamen, und wie rasant diese dann schließlich am Ende von statten gingen, war indes noch nicht abzusehen.

*



Kein schöner Land in dieser Zeitals hier das uns´re weit und breitwo wir uns findenwohl unter Lindenzur Abendszeit…“

Aus dem hell erleuchteten hinteren Saal des alteingesessenen, mittlerweile aber mehr studentischen Lokals mit dem Namen Ellis Eck ganz in der Nähe des Georgi-Dimitroff-Platzes(4) klangen unverkennbar nacheinander die vier Strophen des Liedes Kein schöner Land in dieser Zeit. Der alte, Fröhlichkeit und Lebenslust intonierende melodische Text von Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio schien es dem wenige Stimmen zählenden Chor beiderlei Geschlechts sehr angetan zu haben. Zwar mochten die einen oder anderen Töne nicht gänzlich rein herüberkommen, doch war unverkennbar, dass es sich nicht um völlige Laien handelte, die hier aus vollem Halse sangen. Für die derart Begeisterten war der Gesang allerdings eher satirischer Ausdruck dessen, dass sie mit den Zuständen in ihrem schönen Land längst nicht mehr zufrieden waren. Vielleicht wollten sie aber auch trotzig ihre eigene Lebensfreude zum Ausdruck bringen – gestern hatte es ein schweres Zugunglück bei Görlitz mit acht Toten gegeben, einer davon wohl ein sehr entfernter Verwandter der hier Anwesenden, aber selbiges war wie alle solche Dinge nur kurz am Rande von Angelika Unterlauf in den 20-Uhr-Nachrichten der Aktuellen Kamera erwähnt worden.

Der angebliche Sangeskreis, zu dem sie sich trafen, bildete in Wahrheit allerdings lediglich den oberflächlich-naiven Deckmantel ihrer politischen Zusammenkünfte, für welche sich ansonsten bestimmt auch die allseits gefürchtete Staatssicherheit interessiert hätte. Es war indes nicht ihr erstes Treffen. Seit dem frühen Sommer fanden diese an den einen oder anderen Sonntagabenden statt, zu Anfang nur mit fünf, dann mit ein paar mehr Beteiligten. Inzwischen waren sie auf etwa ein Dutzend angewachsen und bei den einzelnen Treffen dann jeweils bis auf ein oder zwei von ihnen mehr oder weniger tatsächlich alle anwesend. Von wesentlich größerem Interesse für die Beteiligten waren somit heute auch die Berichte von der Tagung des Zentralkomitees gewesen, auf welcher Erich Honecker seine Ablehnung gegenüber der sowjetischen Reformpolitik deutlich zum Ausdruck brachte. Sie alle hier erwarteten eigentlich die Liberalisierung der bislang restriktiven Reisemöglichkeiten, nachdem Ungarn bereits seit Jahresbeginn seinen eigenen Bürgern die visafreie Ausreise erlaubte. Aber nach den klaren Worten des unbeugsamen Staatsratsvorsitzenden glaubten sie nicht mehr daran, dass eine für Monatsmitte groß angekündigte neue Verordnung an den bisherigen Praktiken der DDR etwas ändern und wesentliche Freiheiten bringen würde. Keine freien Reisen in den Westen…

In Berlin hatte es während der zurückliegenden Sommermonate gewalttätige Ausein-andersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei gegeben. Während des Kalten Krieges der Bands(5) schlugen sich vom Osten aus einem Michael-Jackson-Konzert vor dem Reichstagsgebäude Zuhörende mit Vopos und Bereitschaftspolizei. Die Straßenkämpfe fanden im Staatsfernsehen überhaupt keine Erwähnung und wurden im Radio heruntergespielt, die große Allgemeinheit erfuhr lediglich aus dem Westfernsehen oder aus Berichten von Verwandten in der Hauptstadt davon. Es war dieses nur eines der vielen Signale, die auf baldige größere Unruhen im Lande hindeuteten. Gewaltsame Unruhen! Die Menschen wollten sich das Jahrzehntelange Eingesperrt sein einfach nicht mehr gefallen lassen.

Brot und Spiele in Südkorea mit namhaften DDR-Größen und gefeierten Medaillengewinnern wie der Schwimmerin Kristin Otto, die allein sechsmal Gold holte, hatten zum Herbstanfang für eine kurze Weile von den politischen Geschehnissen abgelenkt, doch nun standen die Zeichen ganz offenbar wieder auf Sturm.

*

Die etwas dralle, aber freundlich wirkende Wirtin im vorderen Teil des Lokals hörte Gläser spülend dem kräftig gesungenen Lied eine Weile amüsiert zu, das halblaut an ihre Ohren klang, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck sehr ernst. Falls die Stasi herausfand, dass sie in ihrem Hinterzimmer volksfeindlichen Aktivisten regelmäßige Zusammenkünfte erlaubte, wäre es um Sie und um ihr Lokal geschehen. Mit ihren rund fünfzig Jahren gäbe es kaum mehr eine Alternative zu ihrem HO-freien kleinen Laden. Und überall konnten Spitzel lauern! Zwar mochte sie diese jungen Leute, aber sie war neben allem anderen die gesamte Woche über bis tief in die Nacht hinein auf den Beinen gewesen, und die Sperrstunde auch seit mehr als vierzig Minuten vorüber.

Die letzten Gäste aus dem Schankraum waren längst gegangen, nur der alte Densing, ein rund siebzigjähriger Kriegsversehrter mit nur einem Arm, schlief, auf einem der wackeligen Holzstühle sitzend, mit Kopf und Oberkörper auf dem robusten Eichentisch. Ein leeres Schnapsglas und ein fast leeres großes Bierglas standen dort neben ihm auf einem Brauerei-Ulrich-Deckel mit zahlreichen Strichen und Kreuzen. Sie ließ ihn schlafen und ging mit kurzen Schritten hinüber zur dicken Doppelglastür mit den grobkörnigen Scheiben, die den Saal vom übrigen Wirtshaus trennte. Kaum war die letzte Strophe des Liedes verklungen, zog sie die Tür auf.

„Ja´nu, Schluß für Heute!“, rief sie unbestimmt in sächsischem Tonfall hinein, und klatschte dabei kurz drei bis viermal in ihre großen, fleischigen Hände. Elf Personen befanden sich diesmal dort, fünf junge Frauen und sechs ebenso junge Männer, jeweils etwa um die neunzehn, zwanzig Jahre alt, zwei schon etwas älter, welche allesamt legere Freizeitkleidung der späteren achtziger Jahre trugen, dazu mehr oder weniger modischen Haarschnitt in verschiedenen Formen. Es war ein recht buntgemischter Haufen Studierender verschiedener Sektionen der nahen Karl-Marx-Universität, welche seit einigen Jahren nun bereits den Großteil ihrer Gäste bildete. Ansonsten gab es bei ihr nur wenig Stammpublikum, ältere Leute waren eher die Ausnahme und dann zumeist werktägliche Würfelspiel-Stammtischler, die nach der Arbeit kamen und auch nicht allzu lange blieben, weil ihre Frauen warteten.

Die Geschäfte im Lokal liefen mehr schlecht als recht, Geld war knapp, man trank eher noch ein Fläschchen zuhause oder, das allerdings im Sommer, in der Datsche unter Schrebergärtner-Kollegen, anstelle sich ins Wirtshaus zu verirren. Nur ganz selten gab es einmal etwas mehr bei einer größeren Feier zu verdienen. Wenn Sie an den Sonntagabenden zunächst Würzfleisch, Kochklopse oder Grillettas von der schmalen Speisekarte, später dann immer mal wieder neue Ladungen Bier für die Jungs oder Club-Cola mit Schuss für die Mädels in den fensterlosen Hinterraum brachte, klangen die Gespräche in der Regel kurz ab, um sogleich wieder Fahrt aufzunehmen, sobald sie gegangen war. Manchmal ließen sie dazu Westmusik aus einem alten Rekorder laufen, aber das war eher selten, auch wenn dies längst nicht mehr so geheim getan werden musste wie früher, als sie sich selbst kaum über deren Alter befand.

Sie wusste nicht, wer aus der Gruppe eigentlich der Anführer war, im Falle eines Falles wäre es auch egal gewesen. Vielleicht einer der beiden älteren Semester. Ein jüngerer, etwas größerer und fast schlacksiger Student mit vollem dunkelblondem Haar, der vor einer Weile zur Gruppe hinzugekommen war, fiel ihr jedoch auch diesmal wieder besonders auf. Wenn sie nicht sangen, sondern sich stattdessen über Politik unterhielten, debattierte er besonders energisch mit. Er wurde von den anderen scherzhaft stets mit Henry angeredet, was seinen Grund darin fand, dass er Henry Maske, dem gefeierten DDR-Boxsport-Goldmedaillengewinner im Mittelgewicht von Seoul vor gut zwei Monaten, vom Gesicht her einigermaßen ähnlich sah. Nur in den Armen hatte der Student es nicht ganz so; er wirkte ganz und gar nicht wie ein Schlägertyp – eher schon wie ein… Gentleman, wie sie persönlich fand.

*


Der diskussionsreiche Sonntagabend im Kreise seiner Studiengenossen war Henry indes erneut ein ebenso vielseitiger wie geistreicher gewesen. Sie hatten, wie nun schon fast immer an den Wochenenden, zunehmend erhitzt und kontrovers über Politik gestritten, gegessen, getrunken und zwischendurch und zum Schluss auch noch, zuletzt freilich durch den konsumierten Alkohol angeheitert, gesungen. Nachdem es seine Zeche bezahlt und die dicken, kurzen Winterparkas übergezogen hatte, begab sich das Grüppchen hinaus an die frische Luft, und die Wirtin konnte hinter ihnen erleichtert abschließen. Der alte Densing würde sicher wieder aufwachen, bevor sie mit der Kasse und dem Reinemachen fertig war. So war es immer. Jetzt, nach Mitternacht, waren die Straßen menschenleer und ruhig. In Anbetracht des morgigen Werktages gingen die Menschen eher früh schlafen, und Elli wollte nun auch sehen, das sie fertig wurde.

Sie verabschiedeten sich draußen ebenso herzlich wie kurz voneinander und gingen in verschiedene Richtungen davon, vier von ihnen Paarweise, die anderen allein. Längst fuhr keine Trambahn mehr um diese Uhrzeit, aber die Wege der meisten in ihre Buden nach Hause waren ohnehin eher kurz. Zwei oder drei von ihnen wohnten allerdings bei ihren Eltern draußen in Dölitz – diesen stand noch eine längere Fahrradtour oder ein Fußmarsch bevor, falls sie keine Mitfahrgelegenheit fanden.

Es war eine kalte Dezembernacht, aber weder fielen Regen noch Schnee, und so wurde es für alle eine trockene Heimkehr. Der genossene Alkohol hatte sie innerlich erwärmt, und bei den beiden Paaren half überdies eine gelegentliche gegenseitige intensive Umarmung während des nächtlichen Spaziergangs. Henry und zwei andere schwangen sich leicht angetrunken auf ihre am Haus abgestellten altertümlichen Herren-Fahrräder, und bald waren nur noch die leicht flackernden dynamogetriebenen Rücklampen zu sehen, die sich durch die südliche Vorstadt Leipzigs in ähnliche Richtungen entfernten. Sie mussten in ihrem Zustand aufpassen, nicht in die Schienenrillen der Tram im brüchigen Asphalt zu geraten.

Als Henry knappe zehn Minuten später von seinem Fahrrad wieder abstieg und es durch eine schmale beleuchtete Toreinfahrt zu dem Hinterhaus schob, in welchem er seine Studentenbude besaß, fühlte er sich recht heiter und zufrieden. Sie hatten das weitere Vorgehen besprochen, waren sich aber nicht richtig einig geworden. Proteste ja, aber Gewalt? Er schüttelte darüber unterbewusst auch jetzt nochmals den Kopf.

Die Abstimmung erfreute ihn allerdings auch weiterhin. Drei von ihnen waren der Meinung, dass sie durchaus auch ein wenig Randale machen sollten. Die anderen, vor allem auch vehement er selbst, vertraten die Ansicht, dass man erst einmal in Ruhe abwarten solle, was tatsächlich in der neuen Reise-Verordnung stehen würde. Und dann kam ja auch erst einmal Weihnachten…

Die kurzen Jahresendferien wollte er erstmals in diesem Jahr nicht bei seinen Eltern, sondern mit Sieglinde Stern im Harz verbringen. Siggi, wie sie sich von ihm gern nennen ließ, war seit wenigen Monaten seine feste Freundin, und es wäre ihr erster gemeinsamer Urlaub völlig ohne Aufpasser. Sie hatten sich während der letzten Sommerfrische auf Rügen kennengelernt. Sein Herz schlug höher, wenn er nur an sie dachte!

Henry eilte, kaum dass er das Fahrrad an einer Hofwand des Altbaus abgestellt hatte, zur Eingangstür. Bevor es ihm gelang, diese aufzuschließen, ließ er den Schlüsselbund in hektischer Erwartung zweimal fallen und musste sich bücken, um ihn wieder aufzuhaben. Dann aber ging er sogleich im Inneren die Stufen zur zweiten Etage hinauf, dabei auf der knarrenden alten Treppe bewusst um leise Schritte auf den Zehenspitzen bemüht. Die etwas mütterliche Hauptbewohnerin, die ihm das kleine Zimmer mit eigener Kochnische oben vermietet hatte, musste nicht unbedingt mitbekommen, wann genau er nach Hause kam. Er erledigte in der Toilette des winzigen Raumes auf der Halbetage noch schnell ein sich ihm aufdrängendes menschliches Bedürfnis. Etwas torkelnd aufgrund des genossenen Bieres gelangte er hiernach weiter nach oben und dort in den kurzen Flur, welcher die hiesigen Räumlichkeiten miteinander verband. Die Tür zu seiner Wohneinheit war nicht verschlossen und er konnte sofort eintreten, nachdem er die Klinke betätigt hatte.

Na endlich! - Du kommst spät!“, ertönte halblaut eine müde weibliche Stimme aus der Düsternis des Zimmers heraus, ohne über einen leichten ostdeutschen Einschlag hinaus eine besondere Mundart erkennen zu lassen. Es klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher neckisch, und sie besaß ein besonderes, warmes Timbre. Ein amüsiertes Lächeln schwang in ihren wenigen Worten mit.

Die jungendliche Frau auf dem Sofa hatte eine dünne mehrfarbig gemusterte Wolldecke bis beinahe an den Hals hochgezogen – es schien recht kühl hier, obwohl das alte Kohleöfchen in der Ecke noch vor sich hin bullerte - und blickte abwesend auf den Fernseher, in welchem ein alter DEFA-Spielfilm gerade mit dem Abspann zu Ende lief. Sie mochte zuvor dabei eingeschlafen, bei seinem doch nicht eben leisen Hereinkommen aber wieder aufgewacht sein, denn sie gähnte und reckte sich ein wenig, während sie sprach. Es wirkte recht aufreizend, sei es nun bewusst oder unbewusst.

Er schaltete das Licht der mehrarmigen Deckenlampe aus den Fünfzigern nicht ein, sondern bemühte seine unbebrillten auffällig hellgrauen Augen, sich an die mäßige Beleuchtung zu gewöhnen, welche von der Hoflaterne an der Hausfassade draußen herrührte. Die Vermieterin bestand darauf, dass diese die Nacht hindurch brannte, weil dies alle Arten von Ratten fern hielte, und die alten, geblümten dünnen Stoffvorhänge waren nur mäßig in der Lage, deren Schein draußen zu halten.

Der mit einem vornehmlich beigen, aber dabei gemusterten Teppich über den breiten hellen Holzbohlen ausgelegte Raum war nur spärlich eingerichtet: Außer der zum Bett ausziehbaren Couch, auf der sich Siggi räkelte, gab es an zwei Wänden hauptsächlich einfache selbstgezimmerte Regale, in denen Fachbücher über Politologie, Wirtschaftswissenschaften und russische Literatur lose beieinander lagen. Dort, wo die Wände nicht von Möbeln bestanden waren, zeigte sich eine alte, hellblaue Raufasertapete, die dringend eines neuen Anstriches bedurft hätte. Ein voluminöses holzgerahmtes Ölgemälde mit einem röhrenden Hirsch vor einer hügeligen Waldlandschaft verdeckte einen größeren sehr vergilbten Teil. Der Frühstückstisch für maximal zwei Personen mit zugehörigen wackeligen Stühlen nahm nur wenig des weiteren Platzes ein. Darauf befanden sich noch ein einsamer benutzter Teller und eine ebensolche leere Kaffeetasse, ansonsten war er sauber abgeräumt und gewischt. Auf dem Fußboden unter dem Fenster zeichneten sich die geschlossenen Umrisse einer alten Erika-Kofferschreibmaschine ab, die er noch nie so richtig benötigt hatte, und welche im Zimmer immer gerade dort stand, wo man darüber stolpern musste, wenn man unachtsam war. Ein Überbleibsel des Vormieters. Ein klobiges schwarzes Pressholzrack, wie bereits die Regale „Marke Eigenbau“, beinhaltete unterhalb des alten Raduga-12-Zoll-Fernsehers einen RFT-Plattenspieler, der noch älter war - und ganz unten in mehreren Fächern eine Auswahl an zugehörigen Aufnahmepressungen in farbenfrohen Hüllen, vornehmlich Jazz: Natürlich Manfred "Catcher" Schulze, auch einiges von der Band Synopsis mit Klaus Koch, sowie von amerikanischen Größen wie Scott Robinson und Anthony Braxton. Selbst einige bekanntere Bands aus dem alten Süden der USA vermochte man bei genauerem Hinsehen entdecken. Letztere Platten waren freilich nicht eben einfach zu bekommen gewesen; der Besitz allein konnte hierzulande immer noch zu Schwierigkeiten mit gewissen Dienststellen führen.

Auffälligstes Interieur war jedoch ein von einem passend geformten Stahlrohrständer festgehaltenes beinahe mannshohes goldfarbenes Evette-Schaeffer-Kontrabass-Saxophon. Es mochte beinahe hundert Jahre alt sein und befand sich in einer dem Fenster, dem Heizöfchen und der Kochnische abgewandten Ecke des Raumes, dort, wo die Temperatur auch während des Lüftens oder Kochens am stabilsten gehalten werden konnte. Das betagte, aber dem Anschein nach immer noch funktionstüchtige riesige Blasinstrument war, neben den Schallplatten und dem Fernseher, seiner Kleidung und dem üblichen Hausrat, der einzige Gegenstand, der ihm persönlich gehörte, denn Henry hatte einschließlich der Selbstbauregale möbliert gemietet.

Neben Sieglinde, auf einem niedrigen Kachel-Couchtischchen, standen eine halb-volle Flasche Rotkäppchen-Sekt und zwei Glasflöten, nur eine davon benutzt und mit etwas Restinhalt. Das verwendete Glas wies weiche Lippenstiftspuren auf, wie er erkannte. Ihr Lippenstift, ohne Zweifel, auch wenn die Farbe dort verblasste. Schon seit seiner frühen Jugend konnte er, wie man ihm zuweilen bestätigte, gut beobachten, und so betrachtete er auch die auf dem Sofa liegende junge, attraktive Frau zunächst trotz ihrer Reize weniger lüstern, als beinahe schon sezierend.

Siggi war lediglich ein halbes Jahr jünger als er selbst und vor wenigen Wochen erst großjährig geworden. Das eher schmale Gesicht wurde bis auf die Schultern herab umspielt von leicht lockigem, dichtem braunem Haar und betonte die Wirkung ihrer graugrünen, dabei etwas orangerot gesprenkelten Augen. Diese standen minimal schräg neben dem Ansatz einer neckisch spitzen Nase, was ihr insgesamt etwas recht katzenhaftes gab. Ihr Mund wirkte sinnlich, vielleicht ein wenig zu klein, befand sich jedoch in Übereinstimmung mit dem sonstigen Aussehen. Sie hatte sich insgesamt nur sehr wenig geschminkt, die Lippen wirkten allerdings voll und rot.

„Du bist betrunken“, stellte sie kurz kichernd fest, nachdem sie sich aus der Decke geschält hatte und behände aufgestanden war, damit sie einander umarmen und küssen konnten. Sie trug zu West-Jeans einen einfachen langärmligen Pulli, der sofort eine gewisse statische Elektrizität zwischen ihnen erzeugte.

Er fasste sie sanft beidseitig am Kopf und strich ihre Haare dort hinter die kleinen, anliegenden Ohren zurück, weil er wusste, dass ihr diese Berührung besonders gut gefiel. Erfreut bemerkte er dabei auch, dass sie die halbpfenniggroßen runden goldenen Ohrstecker trug, welche er ihr neulich zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte: Es waren teure kleine Dinger von acht Karat, die ihn nicht nur ein Heidengeld aus seinem ohnehin schmalen Budget, sondern – mit Zustimmung seiner einfühlsamen Mutter - auch Altgold in Form eines kleinen gleichreinen Kettchens aus dem Familienbesitz gekostet hatten. Leider gehörte er nicht zu der privilegierten Schicht, die im Intershop für Westdevisen leichter an so etwas herankamen. Aber für Siggi war ihm nichts zu teuer, und er wischte den Gedanken an die Ausgabe schnell beiseite. Beinahe schämte er sich innerlich dafür, dass er überhaupt darüber nachdachte. Henry rang sich ein leichtes, schiefes Grinsen ab.

Du wohl nicht?“, bemerkte er leise, ohne die Flasche auf dem Tisch weiter zu betrachten, aber ihren deutlichen Sekt-Atem spürend, bevor ihre Zungen sich berührten. Sie umarmte ihn um die Hüften, stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf etwas nach oben, denn mit ihren knappen 165 cm Größe ohne Schuhe hätte er sich sonst sehr weit zu ihr herabbeugen müssen. In einem leidenschaftlichen Spiel küssten beide eine kurze Zeit miteinander, bevor sie sich langsam mit einer geschickten Bewegung von ihm löste und betont körperberührend an ihm vorbeidrängte, um zur Kochnische hinüber zu gelangen.

„Und, was hat es gegeben?“, fragte sie dort angekommen mit unschuldiger Stimme. „Haben deine Sänger wieder vom Leder gezogen?“ - Sieglinde sprach weiterhin beinahe reines hochdeutsch. Er wusste allerdings, dass sie ursprünglich aus der Gegend um Gotha in Thüringen stammte. Dort lebten ihre Eltern vormals, zu denen sie, anders als er selbst inzwischen zu den seinen, einen recht intensiven Kontakt pflegte. Siggis Vater war nicht sehr begeistert gewesen, als sie ihnen im Anschluss an ihre Großjährigkeitsfeier verkündete, das Weihnachtsfest in diesem Jahr allein mit ihrem Freund verbringen zu wollen – verwehren konnten und mochten sie es ihr aber nicht. Ihre Eltern feierten ohnehin nicht groß Weihnachten. Das war für sie offenbar lediglich ein dekadentes, konsumorientiertes westliches Fest mit vorgeschobenem religiösem Hintergrund.

Sie öffnete den kleinen Kühlschrank und fand darin eine kaum angebrochene Schlager-Süßtafel, welche sie herausnahm. Viel mehr beinhaltete er auch nicht – etwas Margarine, ein bisschen Milch in einer Glasflasche, ein durchsichtiger Beutel mit noch ein paar wenigen Scheiben Aufschnitt und ein Töpfchen selbstgemachter Zwetschgenmarmelade von der Hauswirtin. Das Fachgestell für die Eier war leer.

„Auch ein Stück?“, fragte sie, bevor er antworten konnte, und hielt die Tafel dabei etwas in die Höhe. Er verneinte es, also brach sie lediglich eines für sich selbst aus der geöffneten Packung heraus, um den Rest dann wieder in dem kleinen Fach innen in der Tür zu verstauen. Kauend und schmatzend stellte sie bereits die nächste Frage, bevor er noch auf ihre erste der Sänger wegen eine sie zufriedenstellende Antwort zu finden vermochte. „Ist alles klar mit unserer kleinen Reise? Ich freue mich schon so sehr darauf!“

Siggi konnte, wenn sie es wollte, ohne Unterbrechung in einem fort quasseln, wenn man sie ließ. Bei allen Fragen, die noch folgten, setzte sie zudem automatisch ein „Ja“ seinerseits voraus, wenn er nicht schnell genug das Gegenteil zum Ausdruck brachte. Den Fernseher hatte sie unterdessen nebenbei längst ganz abgestellt und damit begonnen, sich in seinem Beisein auszukleiden, während er bis auf die Unterhose dasselbe tat und sich im Waschbecken der Kochecke noch die Zähne putzte. Unter ihrer Oberbekleidung kam sogleich sehr aufreizende Unterwäsche zum Vorschein, wie sie nur aus einem Westladen stammen konnte und auch dort nicht eben günstig zu erwerben war. Wahrscheinlich hatte sie sich das nicht von Kosakendollars, sondern tatsächlich von etwas richtiger Mark gekauft, welche sie von ihrem Onkel aus dem Westen zum gleichen Anlass erhalten hatte, wie von ihm die Ohrringe. Endlich achtzehn – das war schon etwas ganz Besonderes…

Die bordeauxrote Dessous-Garnitur mit schwarzen Rüschen kontrastierte augenfällig zu ihrem immer noch etwas von der letzten Sommerfrische sonnengebräunten, gutgebauten Körper: Sie besaß eine schlanke, dennoch weibliche Figur, dünne aber nicht dürre Arme und Beine mit jedoch recht strammen Oberschenkeln, einen kaum wahrnehmbaren Bauchansatz sowie fest sitzende, etwas mehr als apfelsinengroße runde Brüste, die von der Reizwäsche betont wurden. Ein dünnes, langes Gold-kettchen mit einem kleinen herzförmigen Anhänger baumelte von ihrem Hals herab bis beinahe in deren Zwischenspalt. Aus dem winzigen Stoffdreieck vor ihrer Scham drängelten sich links und rechts ein paar kurze Härchen hervor – anders als unter den Achseln hatte sie sich dort nicht gänzlich rasiert.

Er konnte die Augen kaum von ihr lassen, während er das alte Sofa mit wenigen oft getanen Handgriffen auseinanderklappte und zum Doppelbett für den Rest der Nacht umfunktionierte. Die zugehörigen Decken und Kopfkissen befanden sich im Kasten darunter. Das eigene Verlangen war ihm sehr deutlich zu spüren. „Gibt es etwas besonderes zu feiern?“, fragte er etwas heiser, nachdem sie endlich zu reden aufgehört hatte. Ihr Aufzug kam sicher nicht von ungefähr.

„Ja… uns!“, erwiderte sie ihm, zart hauchend. Dann fielen sie leidenschaftlich übereinander her, dabei verspielt und unbeschwert, wie es nur die Jugend vermag. Als die Hauswirtin in der Nacht durch eindeutige Geräusche aus der Studentenbude über ihr in ihrem leichten Schlaf kurz gestört wurde, dachte sie wohl bei sich, dass sie doch einmal ernsthaft mit dem jungen Mann würde reden müssen, aber sie lächelte dabei…

*

Das etwa vierzehn Meter breite und sieben Meter hohe Bronzerelief Aufbruch, im Volksmund auch einfach als Marx-Relief bezeichnet, drohte sinnbildlich die sich darunter befindliche Schar an jungen Studenten und Studentinnen zu erschlagen, die gerade durch den Eingang in das langgestreckte mehrstöckige Universitätsgebäude strömten. Viele Tonnen schwer, stellte das monströse von Frank Ruddigkeit, Klaus Schwabe und Rolf Kuhrt geschaffene Kunstwerk im Stil des sogenannten sozialistischen Realismus eine einzige Lobpreisung des herrschenden ideologischen Geistes dar. Es nahm oberhalb des Vordaches annähernd zwei Etagen ein.

Beinahe zwei Wochen waren seit dem letzten Treffen der Sängergruppe und der ausgelassenen Nacht Henrys mit Sieglinde vergangen, und das Wochenende stand bereits erneut vor der Tür. Alle redeten fast nur davon, was sie in den vorlesungs-freien Tagen zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr anstellen wollten.

„Habt ihr es schon gehört?“, fragte allerdings gerade einer der männlichen Studenten aus einem etwas älteren Semester, leicht aufgeregt, der mit einigen anderen zusammen durch die Flure lief. Er wirkte groß und trug recht lange blonde Haare. Henry, mit im Pulk, wurde aufmerksam. Ihn kleidete wie viele Anwesende die blaue FDJ-Kleidung, nicht unbedingt mehr aus völliger Überzeugung, sondern weil die Mitgliedschaft in der Parteiorganisation nach wie vor Hindernisse aus dem Weg zu räumen half. Ein Austritt käme nicht in Frage, schon der Eltern wegen! Er blickte den älteren freundschaftlich von der Seite her an, denn jener gehörte ebenfalls zu den Sängern; war sozusagen als Mitbegründer bei den ersten Fünf gewesen.

„Nein, was denn?“, fragte er, während sie im Strom der zahlreichen jungen Leute mitschwammen, die mit schweren Umhängetaschen zu ihren Vorlesungen eilten.

„Die neue Verordnung ist raus. Keine Reisefreiheit!“ – er wirkte sehr enttäuscht.

„War wohl fast abzusehen, oder? - Nach Erichs Rede vorletzte Woche, meine ich.“

„Ja, genau, ich habe es euch ja gesagt gehabt. Und was tun wir jetzt, deiner Meinung nach? Das geht doch nicht so weiter!“ Er war einer der radikaleren unter ihnen.

„Weiß ich auch noch nicht. Aber im neuen Jahr müssten wir mal darüber reden…“

Reden, reden, reden… ich kann es nicht mehr hören! Wir müssen endlich aufwachen, Genosse, und etwas unternehmen.“

„Was meinst du damit?“

„Nicht hier. Zu viele Zuhörer! Heute Abend bei Elli.“

Letzten Sonntag war ihr Treffen ausgefallen, weil die Hälfte keine Zeit fand. Studium, dazu weihnachtliche Vorbereitungen mit der Familie, FDJ-Aktionen oder auch andere Freizeitinteressen. Vielleicht lag ihnen auch noch die vorherige kontroverse Debatte um zukünftige Aktionen der kleinen Gruppe im Magen.

„Na gut. Mobilisieren wir die anderen. - Kann ich Siggi mitbringen?“, fragte Henry. Sieglinde hatte ihm schon vor einer Weile in den Ohren gelegen, dass er sie doch zu ihren Treffen mitnehmen solle, aber er hatte stets bestimmend abgewinkt, solange sie noch nicht achtzehn war. Diese Begründung war jetzt weggefallen, und auch seine Mahnung, dass es viel zu gefährlich sei, wegen der Stasi überall, und er sie nicht in Gefahr bringen wolle, zog beim letzten Mal kaum noch.

Der andere überlegte kurz und machte dabei ein eher verdrießliches Gesicht. „Na schön, von mir aus.“, nickte er schließlich und fügte dann mit fester Stimme keinen Wiederspruch duldend hinzu: „Aber sie stimmt nicht mit ab!“

Alles, was die Gruppe vereinbarte, wurde stets mehrheitlich entschieden. Ganz demokratisch eben. Der Altsemester wollte keine weitere zurückhaltende Stimmbe-rechtigung, die womöglich ein Patt bedeuten würde, oder noch eine, die seiner Vorstellung von den zukünftigen radikaleren Aktivitäten der Sänger entgegenstand.

„Gut, dann sagen wir den anderen Bescheid. Ich denke, es sind heute alle hier. Wird aber trotzdem schwierig, so kurzfristig – mal sehen, wen ich finden kann. Jens ist mit mir zusammen später in der Wirtschaftsvorlesung.“

Im Gegensatz zur Bohnenstange Henry war sein vor kurzem neu gewonnener bester Freund Jens Ostrau, den er dem Altsemester gegenüber hier erwähnte, ein kleinerer, aber kräftiger junger Mann von gegenwärtig zwanzig Jahren aus einer Großfamilie schlesischen Ursprungs, der schon früh in seinem Leben sehr auf seinen Körper geachtet hatte. Er wirkte sportlich, trainiert, verfügte über eine für sich einnehmende Ausstrahlung und eine kultivierte, auch in der Freizeit mundartfreie deutliche Aussprache. Mit dessen klangheller, fast schon etwas zu weiblichen Stimme, die ein wenig an Annie Lennox von den Eurythmics erinnerte, hätte Jens sich gut als Frontsänger in einer Pop-Band einen Namen machen können. Und tatsächlich konnte er deren Vorjahreshit Sweet Dreams beinahe perfekt nachahmen, wenn er wollte. Jens´ Kinn war kantig, männlich, aber wie das gesamte Gesicht bartlos; der Kopf verbreiterte sich nach oben hin leicht trapezartig und wurde von einer vollen dunkelbraunen Haartracht bedeckt, die allerdings vorn und hinten recht kurz gehalten sowie mäßig gescheitelt war. Zum Lesen benötigte er aufgrund einer geringfügigen Weitsichtigkeit für seine runden Augen undefinierbarer Farbe eine Brille, die er aber bei allen anderen Gelegenheiten einer gewissen Eitelkeit folgend versteckte.

Henrys Freund nahm das Leben und alles was damit zusammenhing sehr ernst, lächelte aber oft und besaß einen schier klamaukhaften Sinn für Situationskomik, den er auch während der Treffen der Sänger immer mal wieder einsetzte, um allzu aufgeheizte Stimmungen zu durchbrechen. Sein Gesichtsausdruck wirkte stets offen und ehrlich, und so, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Er war nicht wirklich extrovertiert, aber doch mitteilsam und dabei äußerst sprachgewandt. Sie hatten sich bereits in den Sommerferien vor dem Studienantritt kennengelernt, aber nicht auf Rügen, sondern hier in Leipzig, und schnell festgestellt, dass sie eine Menge Interessen teilten: Die Liebe zum Jazz und ein bestimmter Frauentyp waren nur zwei davon. Im Augenblick hatte er aber keine feste Freundin; vielleicht war er sogar ein wenig neidisch auf die Beziehung, welche Henry und Sieglinde pflegten. Obwohl er das sicher nicht musste, denn er besaß ein sehr attraktives Erscheinungsbild; ohne große Mühe hätte er wohl fast jede haben können. Es gab drei oder vier hübsche Studentinnen desselben Jahrgangs, die es sogleich bei ihm versucht hatten, aber diesbezüglich erwies er sich als resistent, denn sie passten nicht in das von ihm bevorzugte Beuteschema, das den Intellekt und die Spontanität über das Aussehen stellte. Daher hatten diese sich anderen Studenten zugewandt, eine davon ging jetzt mit einem der weiteren Sänger.

Wenn man Jens mit dem etwas radikal eingestellten Altsemester verglich, der permanent auf Randale aus zu sein schien, wirkte ersterer beinahe wie ein Fels in der Brandung. Alle drei zusammen bildeten sie ein äußerlich ungleiches Trio und inzwischen so etwas wie den harten Führungskern der Sonntagsrunden. Obwohl Henry erst etwas später dazu gestoßen war, wurde er dank Jens´ Fürsprache gleich von allen angenommen und respektiert.

Die letzte Glocke kündete deutlich vom baldigen Vorlesungsbeginn. Der langhaarige Altsemester nickte Henry kurz zu, bevor er mit dem Strom der Kommilitonen über den weiteren Gang entlang entschwand, von dessen Wänden herab die gerahmten Portraits zahlreicher bekannter Parteifunktionäre wie zum Spießrutenlauf einluden. Sie schienen alles und jeden streng zu beobachten. Schnell verschwanden alle in den Vorlesungsräumen. Zwei, drei verspätete hetzten gerade noch die nahe Treppe hinauf und fanden ihre Ziele.

Henry betrat etwas nachdenklich zusammen mit den Letzten den auf seinem Plan vermerkten mittelgroßen Saal und nahm wie die anderen, welche denselben Kurs besuchten, hinter einem der Tische Aufstellung. Der große Raum war recht voll, nur wenige Plätze in den hinteren Reihen blieben leer.

„Freundschaft!“, schnarrte die Stimme Professor Thalheims auch schon durch den Saal zu den stehenden Studentinnen und Studenten, kaum dass er ihn betrat und die Tür hinter sich schloss. Sein Blick wirkte dabei recht grimmig, und seine Stimme war geprägt von einem schnarrenden altpreußischen Befehlston. Wenn man ihn genau betrachtete, bekam man den Eindruck, einer Kopie von Friedrich Engels gegenüber zu stehen. Zumindest trug der Professor denselben Bart wie der Philosoph, als jener Mitte vierzig war, und einen alten Anzug, der den Muff der alten Ideologie wiederspiegelte. Sein Gesicht wirkte jedoch mehr hager, die Stirn lag etwas höher, und die Haare waren um die Ohren herum sorgsam kurz geschnitten. Beinahe alle im Raum hingegen trugen die blaue FDJ-Uniform mit der aufgehenden Sonne am linken Ärmel. Es gab nur wenige Ausnahmen - bei denjenigen, die sich im Allgemeinen dem Spott der anderen während der Pausen ausgesetzt sahen.

„Freundschaft!“, antworteten die Vorlesungsbesucher sofort wie aus einem Munde. Henry formte das Wort mit den Lippen, ohne es wirklich auszusprechen. Dann nahmen sie Platz, und es begann eine der üblichen langweiligen Stunden mit Thalheim, der ihnen russische Literatur näher zu bringen versuchte.

*


Am Abend fanden sich alle Sänger ausnahmslos bei Elli ein, und auch Sieglinde war zum ersten Male mit von der Partie. Die Wirtin machte eine Bemerkung, dass heute doch gar nicht Sonntag sei, aber der ältere Semester, der das Treffen angeregt hatte, entgegnete nur, beinahe unwirsch, dass die Ereignisse es notwendig machen würden.

Die Debatte verlief wesentlich hitziger als noch letzthin, und diesmal gab es bereits fünf Stimmen für gewaltsame Aktionen. Henry, dazu sein bester Freund Jens, mit dem er gemeinsam Wirtschaft studierte, eines der Pärchen sowie weitere zwei der sonst auch immer anwesenden jungen Frauen waren dagegen. Sieglinde wurde nicht gefragt, und der ältere, der sich als eine Art Rädelsführer zu profilieren suchte, fuhr ihr unwirsch ins Wort, als sie sich trotzdem bei der Stimmabgabe äußerte.

Alkohol floss, und beinahe hätte es auch mal Handgreiflichkeiten gegeben. Jens und die Frauen beschwichtigten, nicht minder wortreich, aber weniger aggressiv. Danach setzten sie ihre Unterhaltungen fort, als sei nichts gewesen. Die Argumente, die sie austauschten, reichten von jugendlich-naiv über provokant bis hin zu sachlich und fundiert. Zeitweilig gab es Stimmengewirr, wenn sie sich nicht einig wurden, wer nun gerade reden sollte. Praktizierte Basisdemokratie sieht eigentlich anders aus. Irgendwann hatten sie dann genug geredet und waren müde. Sie tranken aus, kleideten ihre dicken Jacken an, zahlten und gingen, während der alte Densing an seinem Tisch schlief. Wie immer. Die Wirtin sah ihnen etwas besorgt nach.

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Draußen, ein Stück die Straße herunter, stand ein unbeleuchtetes Fahrzeug am Straßenrand. Die hohe Laterne darüber hatte irgendwann aufgegeben oder war gar absichtlich sabotiert worden. Zumindest fehlte wohl das Material, sie zu reparieren. Bei dem Wagen handelte es sich um einen betagten dunkelblauen Volvo 164, einem aus der letzten Baureihe von 1974 oder 1975, und niemand war darin genau zu erkennen, obwohl er sichtbar mit zwei Personen besetzt war. Nur gelegentlich glomm auf der Beifahrerseite die Glut einer Zigarette auf und zeigte im schwachen Schein der Glut für jeweils etwas mehr als eine Sekunde eine wuchtige untere Gesichtshälfte mit vier oder fünf hauchdünnen, zueinander in keinem besonderen Verhältnis stehenden, kurzen Narben am Kinn. Obwohl es nicht das einzige Fahrzeug war, das in der Straße parkte, unterschied es sich in ein paar kaum wahrnehmbaren Details von den anderen. Dazu gehörten eine Funkantenne am Heck und ein Funksprechsystem unter dem Armaturenbrett. Die Kälte im Wagen versuchten die Männer durch dicke Winterjacken und gelegentliches aneinander reiben der eigenen Hände von sich fernzuhalten, denn es gab keine Stand- oder Sitzheizung. Nicht dass der Wagen keine besäße, sie war lediglich defekt. Wie so vieles in diesem Staat – und Ersatzteile eben Mangelware. Hatten sie bisher nur wenige Worte wechselnd nebeneinander gesessen, wurde jener mit den Narben aktiver, als sich bei der Gaststätte etwas regte.

„Operativer Vorgang Sänger. 23 Uhr 22: - I.M. Jakobus verlässt mit allen anderen Sängern das Lokal.“, sprach er leise mit dunkler, kratziger Stimme in ein primitives Handdiktiergerät. Er bediente es einhändig, während die andere seiner großen und gewaltig wirkenden Pranken weiterhin die fast völlig aufgerauchte Zigarette hielt. Es war die siebente oder achte, der Aschenbecher voll mit den Stummelresten und die Fenster des Fahrzeuges inzwischen nicht nur durch die Atemluft seiner Insassen hier und da beschlagen. Es stank nach billigem süßlichen Tabak aus Albanien.

Seinem Kollegen auf der Fahrerseite missfiel der Geruch der Kruja´s, aber er konnte nichts dagegen unternehmen, denn der Raucher bekleidete auch in Zivil den Rang eines Leutnants und war damit der deutlich Ranghöhere von ihnen beiden. „Sollen wir wem folgen?“, fragte der Untergebene am Steuer. Er war deutlich jünger als sein Vorgesetzter, ovalgesichtig, und besaß einen geradezu klischeehaft sächsischen Tonfall, noch viel ausgeprägter als die Wirtin des Lokals.

„Da wird heute nicht mehr viel passieren, und Jakobus wird der Dienststelle morgen ohnehin Bericht erstatten“, wurde die Frage vom Vorgesetzten verneint. Dieser drückte den Rest seiner Zigarette im Ascher aus und rieb sich einmal mehr die Hände warm, bevor er erneut nach dem Diktaphon griff. „23 Uhr 25: Die Aktivisten verabschieden sich auf dem Gehsteig vor Elli´s Eck voneinander und gehen ihrer getrennten Wege.“

Er fügte im typischen Stasi-Vokabular einige Details hinzu, wer genau mit wem sich in welcher Richtung entfernte. Sie warteten, bis alle verschwunden waren, bevor der Leutnant ein letztes Mal das Diktiergerät benutzte und eher gelangweilt ergänzte: „23 Uhr 30: - Wir machen Feierabend.“

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Das Jahresende 1988 war für die Weihnachtsferien ein studentenunfreundliches, da der Heilige Abend auf einen Samstag fiel. Der zusätzlichen freien Tage waren es somit denkbar wenige. Trotzdem freuten sich Henry und Sieglinde auf ihre gemein-same Harzer Woche. Während Siggi sich persönlich von ihren Eltern verabschiedete, reichte ihm ein längerer Anruf im Brandenburgischen. Henrys Verhältnis zu den seinen war, zumindest gegenüber dem Vater, beginnend mit der Pubertät, stets ein angespanntes gewesen, und sowohl er selbst als auch dieser waren nicht übermäßig traurig gewesen, als er sich beinahe gänzlich abnabelte, sobald es ging. Seine Mutter wirkte dabei schon deutlich emotionaler.

Der Zug brachte sie zunächst ins historische Quedlinburg an der Bode, und eine alte verspätete Rakete(6) dann weiter bis nach Blankenburg. Dort in der Nähe befand sich ein beliebtes Winterziel von Jugendlichen und Studierenden. Silvester feierte das gesamte FDJ-Haus mit Umarmungen und Knutschereien, die Politik wurde in den Gesprächen außen vor gelassen, man erfreute sich einfach der schönen Zeit und suchte nicht die kontroverse Debatte. Es gab später ausgelassene Ferienfotos, die Ihn oder Sie oder sie beide zeigten, oder im Kreise anderer Feriengäste, nach der Sauna im eisigen See tollend oder bei abendlicher Gemeinsamkeit am Feuer. Es gab auch solche, die beide sehr leicht bekleidet zeigten, Siggi zuweilen sogar frivol barbusig, oben herum nur mit dem Kettchen und den Ohrsteckern bekleidet, und die entstanden waren, als sie fast mit sich allein waren. Aber auch nur fast. Prüderie war allen ein Fremdwort.

Bereits mit dem ersten Tag im neuen Jahr ging die ebenso entspannende wie kurzweilige fröhliche Woche zu Ende, und am Mittag brachte sie der Zug zurück nach Leipzig. Nach den unbeschwerten Tagen holte sie der Uni-Alltag sehr schnell ein, sie waren beschäftigt mit dem straffen Lehrstoff des ersten Winters; so blieb nicht viel Zeit für großartige eigene politische Aktionen.

Die wenige Freizeit, die sie sich leisten konnten, verbrachten sie im früheren Schorsch´l, einer angesagten Konsum-Nachtbar in Connewitz, die ihre besten Tage zwar hinter sich hatte, zu Messezeiten aber immer noch gut besucht war. Gelegentlich stand auch Eislaufen auf dem Programm, oder man traf sich zu Studienzwecken in privater Runde bei dem einen oder anderen zuhause. Alle Zeit war die Stasi immer mit von der Partie, ohne dass der Freundeskreis es besonders wahrnahm – sei es in Gestalt von I.M. Jakobus, Beschattern in Fahrzeugen oder anderen Spitzeln und Zuträgern. Sie befanden sich mitten unter ihnen, auch in den Familien. Es gab kein vertraulich gesprochenes Wort! Es gab nichts, das geheim gehalten werden konnte! Es gab nur absolute Überwachung - und angesichts der Vielzahl von in den Hinterzimmern und Stuben mehr und mehr Aufbegehrenden unendlich viele Daten, deren Verarbeitung man im Ministerium nicht mehr Herr wurde. Ihr Papier füllte Aktenordner, Regalböden, Schränke und zahlreiche Kammern ganzer Gebäude. Und die erfassten Daten wenig später auch jene Speichersysteme der neuartigen Robotron-Computer.

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Das Jahr 1989 war beinahe durch die Hintertür hereingekommen, und der Wind der Veränderung in seinen Ausläufern allerorten deutlich zu spüren. Es gab viele, die dies begriffen. Aber es gab auch genauso viele, welche die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollten oder nicht verstehen konnten.

Die Mauer wird auch in fünfzig, hundert Jahren noch bestehen!“, verkündete Erich Honecker vollmundig am 19. Januar. Es hallte in Aller Ohren wider. Während sich vor dessen Nase stärker werdender Protest wegen der weiterhin bestehenden Reisebeschränkungen regte, begann die eigentliche Revolution im Kleinen, und es weitete sich unaufhaltsam aus. Allerorten formierten sich neue Gruppen, um für freien Grenzverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch um für die Verbesserung der Versorgungszustände im eigenen Lande einzutreten. Reisen ins westliche Ausland blieben gleichwohl nach wie vor den Reisekadern, also linientreuen, besonders ausgesiebten Bürgern aus besonderen Gründen vorbehalten. Offiziellen, oder auch Sportlern, die den sozialistischen Geist in der Welt verbreiten sollten. Oder Rentnern, welche ihren Teil zur Blüte des Sozialismus längst beigetragen hatten und nunmehr entbehrlich schienen, falls sie tatsächlich ihren Aufenthalt dort eigenmächtig unbegrenzt zu verlängern gedachten.

Immer mehr Menschen allen Alters stellten formelle Ausreiseanträge, was zumeist allerdings eher zu erheblichen Schikanen der Betreffenden durch die Behörden oder am Arbeitsplatz führte. Nicht befördert zu werden, war noch die geringste davon. Dort, wo die Staatsmacht der Meinung war, dass es besser war, diese in den Westen zu entlassen, als Gefahr zu laufen, die Anzahl energischer Protestler im eigenen Land zu erhöhen, wurden jene Anträge zuweilen positiv beschieden. Es war nicht mehr gänzlich unmöglich, das Land legal zu verlassen, der Eiserne Vorhang bekam erste Risse, auch hier in der DDR – wertvolle Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft sowie der elitäre Nachwuchs, insbesondere Facharbeiter oder Wissenschaftler, waren hiervon jedoch strikt ausgenommen. Natürlich wollte die Führung den Arbeiter- und Bauernstaat nicht innerlich ausbluten lassen.

Jürgen Sparwasser, der während der Fußballweltmeisterschaft 1974 das entschei-dende Tor gegen den Klassenfeind, die Bundesrepublik Deutschland, erzielte, hatte sich 1988 bereits selbst in den Westen abgesetzt. Wenn das jetzt bereits auch verdiente Sportler des sozialistischen Vaterlandes taten, musste es um den inneren ideologischen Zusammenhalt schlecht bestellt sein, so dachten viele.

Zahlreiche Menschen hielten es daher ebenfalls nicht mehr aus und versuchten, das Land auch ohne Genehmigung unter Lebensgefahr zu verlassen, wenn man ihnen die offizielle Ausreise versagte. Nicht immer, eigentlich sehr selten seit den letzten fünfzehn Jahren, ging das gut aus.

In den vergangenen Jahrzehnten hatte es bis dato bereits etwas über achthundert bestätigte Todesfälle an der innerdeutschen Grenze gegeben, weit über zweihundert davon allein als Mauertote in Berlin.


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Geheimauftrag für Sax (3)

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