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ОглавлениеKapitel 1
You have always been my safe home My whole world has moved on Anthrax – Safe Home
Mein VW-Bus zwinkerte mir zweimal zu, als ich auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung drückte. Dieser Bus war eines der wenigen Relikte meiner Vergangenheit, welches ich bewusst in mein neues Leben mitgenommen habe.
Vor einigen Monaten starb meine Ehefrau an einem Herzinfarkt und ich hatte mich neu erfunden. Ich befürchte, das klingt schrecklich pathetisch, aber im Großen und Ganzen muss man es so nennen.
Bereits vor dem Tod meiner Frau hatte ich zaghaft und halbherzig damit begonnen mich zu verändern, denn ich erkannte, dass ich meine Persönlichkeit den Zwängen der Gesellschaft, Arbeit und der Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten meiner Mitmenschen untergeordnet und somit beinahe gänzlich erstickt hatte.
Bei allem Dienen hatte ich vergessen, meine eigenen Leidenschaften, die mir Zufriedenheit und im besten Falle einen kurzen Augenblick des Glücks bescherten, zu kultivieren und auszuleben. Ich spreche dabei nicht davon, dass ich jemals glaubte, die Welt verändern zu können oder ein gefeierter und weltberühmter Fotograf oder Journalist zu werden; es zählten jeher die kleinen Momente: Die Spannung, wenn ich auf einem Ausflug in die Natur ein, an meinen eigenen Maßstäben gemessen, besonders schönes Foto aufgenommen hatte und mich entschied, es in einem Fotogeschäft ausdrucken zu lassen, um es anschließend gerahmt im Wohnzimmer an die Wand zu hängen und ein wenig Stolz und Befriedigung zu spüren, wenn ich es ansah. Keiner meiner Freunde, und noch nicht einmal meine Frau, würde beim Anblick dieses Bildes jemals so empfinden wie ich. Aber genau diese Momente im Leben sind entscheidend.
Im Laufe der Zeit erlosch diese Leidenschaft, weil sie mir keine Befriedigung mehr verschaffte, so wie es mir mit meinen anderen Hobbys ebenfalls erging. Alles was mir jemals Freude verschafft hatte, wirkte beinahe über Nacht wertlos und die Glut der Leidenschaft, etwas zu kreieren oder zu erleben, wurde unter dem alltäglichen Dilemma des Lebens erstickt. Ich vermute, dass mir eine Depression oder Midlife-Crisis in den letzten Jahren die Lebensenergie aussaugte.
Ich fühlte mich gefangen in meinem eigenen Käfig und die Erkenntnis der Absurdität machte mir das Leben schwer. Warum sollte man so viel Mühe und Energie in das Leben stecken, wenn es doch unweigerlich mit dem Tod endete?
Die Antwort war und ist ganz simpel: Genau aus diesem Grund! Oft genug wurde bereits umfassender, fundierter und intelligenter über den Sinn des Lebens nachgedacht, spekuliert, philosophiert, aber ich habe für mich herausgefunden, dass der Sinn ausschließlich darin bestehen kann, zu verstehen und zu akzeptieren, dass der Tod uns unweigerlich erwartet und dennoch nicht aufzuhören, seinen Träumen und Leidenschaften zu folgen! Unser aller Bestreben sollte darauf ausgerichtet sein, die eigene Persönlichkeit auszuleben und dabei so wenige Kompromisse wie möglich einzugehen.
Ich wollte lernen, meine Jahre sinnvoll zu nutzen und nicht unter dem selbsterwählten Joch der Arbeit oder der Gesellschaft zu einem Roboter zu verkommen und daher hatte ich meinen unerträglichen Job gekündigt. Tagein, tagaus den Fußabtreter, Kasper und Problemlöser für die Kunden zu spielen und deren Unverschämtheiten aus Servicegründen kommentarlos ertragen zu müssen, wurde irgendwann einfach zu viel und ich zog die Konsequenz. Bereits früh im Leben erkannte ich, dass es mir gefiel, anderen Menschen hilfreich zu sein, denn es war meine Natur, aber ich stellte mitunter meine eigenen Bedürfnisse zurück. Ich war gut in meinem Job, keine Frage! Sogar verdammt gut! Aber was die Menschen nicht sehen wollten oder, was ich als viel schlimmer empfand, als selbstverständlich hinnahmen, war die Hilfe, die ich ihnen über das Maß des Notwendigen hinaus zuteilwerden ließ. Dieser Punkt war einer unter vielen, aber vielleicht sogar der schwerwiegendste: Es hätte nicht wehgetan, einmal Danke zu sagen, mir für meine Mühe ein wenig Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen. Ich hätte nie verlangt, dass sie mir ein Denkmal errichten, sondern ein gelegentliches Danke und die Gewissheit, dass sie verstanden, dass ich mich in ihrem Sinne mehr angestrengt hatte, als es normal war.
Die Lektion, die mich die Jahre lehrten, war, dass man, wenn man seinen Job mit viel Herzblut ausfüllt, aber keine Wertschätzung zurückgegeben wird, schlussendlich ausblutet.
Statt Dankbarkeit waren Faulheit, Gier und Neid so oft an meinem Schreibtisch zu Gast, dass ich mir schon überlegte, einen Pfarrer zu bestellen, der die Menschen auf den Pfad der Tugend bringen sollte. Leider glaubte ich nicht an die göttliche Vergebung der Sünden und so blieb mir lediglich die Vermutung, dass die Menschen schlichtweg so sind: gierig, neidisch, faul und dumm. Es mag lediglich eine gefühlte Wahrheit sein, dass die Menschen immer dümmer werden, aber ich könnte hier jetzt so viele Beispiele aus meinem Arbeitsalltag aufschreiben, dass an dieser Theorie kein Zweifel mehr bestünde. Leider hatte ich über die vielen Jahre die Fähigkeit verloren, darüber zu lachen.
Natürlich gab es auch die Menschen an meinem Schreibtisch, die meinen und den allgemeingültigen Moralvorstellungen entsprachen, bescheiden, sympathisch und liebenswert waren, aber sie stellten lediglich eine kleine Minderheit dar und konnten den Ekel, der über die Jahre meine Seele mit einem schwarzen, klebrig-stinkenden Schlamm verklebt hatte, nicht reinwaschen. Dieser Kampf gegen Windmühlen hatte mich über die Jahre so ausgelaugt, dass ich in meiner Freizeit nur noch vor mich hinvegetiert habe, empfindungsloser wurde und immer mehr das Interesse an den Mitmenschen verlor. Lediglich einer Handvoll Menschen gehörte meine Liebe und Loyalität und sie würden sich immer auf mich verlassen können, wie ich mich auf sie verlassen kann.
Meine Frau und ich hatten uns eine kleine Summe angespart, denn aufgrund der Tatsache, dass wir für unsere Arbeit lebten, fehlte uns die Zeit das Geld auszugeben. Ich wusste, dass ich, wenn ich mein bescheidenes Leben weiterleben würde, sicherlich einige Jahre mit den Ersparnissen auskommen könnte. Was geschah, wenn das Geld ausgegeben wäre, wusste ich allerdings nicht.
Mein altes Ich hätte sich zu jeder Sekunde des Tages den Kopf darüber zerbrochen, Tabellenkalkulationen aufgestellt und jeden Cent genauestens verplant. Heute war ich in dieser Angelegenheit entspannter, denn es würde immer eine Lösung geben und weitergehen. Es fühlte sich gut an, nicht an die Zukunft zu denken, sondern mit beiden Beinen im Hier und Jetzt zu stehen und zu schauen, wohin der Wind mich tragen würde.
Die Ereignisse der letzten Monate brachten mich auf die Idee, eine Fünf-Minuten-Regel einzuführen. Ich besaß schon immer das zweifelhafte Talent, bei Fragen, Problemen oder sogar alltäglichen Aufgaben, alles kaputtzudenken, da ich ein extrem entscheidungsunfreudiger Mensch war, unablässig die Vor- und Nachteile gegeneinander aufwog und mich so lange mit einer Entscheidung beschäftigte, bis ich manchmal nicht mehr wusste, worin überhaupt das Problem bestand. Dazu, und das mag noch viel schwerer gewogen haben, hatte ich immer Angst eine falsche Entscheidung zu treffen, wobei es sich um eine abstrakte Furcht handelte, denn auch wenn rückblickend einige Entscheidungen von meinem heutigen Blickpunkt nur schwerlich vertretbar erscheinen, haben sie mir nicht geschadet. Meine neue Regel war mir oft eine Hilfe, mich zu entscheiden, denn wenn ich nicht in tagelange, abstrakte Was-passiert-wenn-Gedankenspiele abdriftete, sondern in fünf Minuten einen Entschluss fasste, blieb die Entscheidung immer viel näher an meinem Bauchgefühl, anstatt zu einer Vernunftentscheidung zu werden.
Der VW-Bus war ein zu einem Campingbus umgebauter Transporter, der mit einem Bett, Aufstelldach, Kühlschrank, Schränken und einer Küchenzeile mit einer Koch- und Abwaschmöglichkeit ausgestattet war. Wir haben viele Reisen mit dem Bus unternommen und ich habe es geliebt, mit meiner Frau zusammen an fremden Orten unser Lager aufzuschlagen und die Atmosphäre der Natur und Menschen auf mich wirken zu lassen.
Nun war ich allein mit diesem Bus unterwegs und ließ mich treiben. Ich reiste an Orte, von denen ich glaubte, dass sie mir gefallen würden oder die wir bereits auf unserer gemeinsamen Urlaubswunschliste notiert hatten. Wenn es mir gefiel, blieb ich dort, solange ich es wollte; manchmal waren es einige Tage, manchmal aber auch Wochen. Ich versuchte stets, die Reisen mit Besuchen zu verbinden und meine wenigen, aber umso wichtigeren Freunde wiederzusehen. Heute war ich wieder bei meinem besten Freund Mike und seiner Frau Karin angekommen, um mit ihm auf ein Konzert zu fahren und anschließend einige Tage auf seinem Hof zu campieren. Der Sommer stand bereits in den Startlöchern, aber es war in den letzten Tagen kühl und feucht gewesen; daher bestand auch die Möglichkeit, dass ich die kommenden Nächte in ihrem Gästezimmer verbringen konnte.
Ich parkte direkt vor der Einfahrt zu ihrem Grundstück und rauchte eine Zigarette. Ich wollte die Vorfreude, ihn und Karin endlich wiederzusehen, noch ein wenig auskosten und nahm einen tiefen Zug. Mike war ein ganz besonderer Mensch für mich, denn wir kannten uns bereits seit der Grundschule und niemand, außer meiner Frau, stand mir jemals so nahe. Wir wussten fast alles voneinander und verstanden uns ohne Worte. Mike war es auch, der mich uneingeschränkt unterstützte, als ich ihm die Entscheidung mitteilte, dass ich mich in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürzen und somit gegen meine eigene Natur rebellieren würde. Er bot mir an, meinen Wohnsitz bei ihm anzumelden und meine wenigen Habseligkeiten, die ich bei der Wohnungsauflösung nicht an den Nachmieter verkaufen konnte oder in den Sperrmüll geben wollte, bei ihm im Keller zu lagern. Viel war es nicht, was ich bei ihm einlagerte; lediglich meine Schallplattensammlung, einige Bücher, Kleidungsstücke, aber auch persönliche Gegenstände wie Fotoalben und wichtige Dokumente. Somit war Mikes Haus zu meinem neuen Heimathafen geworden und der einzige Ort auf der Welt, an den ich, wenn auch unregelmäßig, immer wieder zurückkehren wollte.
Er war ein Mensch, den man ruhigen Gewissens als wortkarg bezeichnen musste, der gleichzeitig aber auch nicht still sitzen konnte und voller Tatendrang war. Er hat es ständig geschafft, dass sich neue Leute um uns scharrten, denn er war ein positiv geladener Menschenmagnet, bei dem sich jeder umgehend wohlfühlte. Oft genug sind diese Fremden aufgetaucht und wieder verschwunden, aber einige sind auch geblieben und erklommen die Evolutionsstufe von Bekannten zu Freunden.
Trotz seiner augenscheinlich positiven Grundeinstellung lebte eine tiefe Melancholie in ihm, die glücklicherweise nie zu einer Depression mutierte. Seine Melancholie wurde eher von der Nostalgie genährt, anstatt von Traurigkeit oder Verzweiflung und wir lebten diese Nostalgie, die mir ebenfalls nicht fremd war, gerne aus, wenn wir abends bei ihm im Garten an seiner Feuerschale saßen und mit einem guten Whisky auf uns anstießen.
Ich schnippte meine Zigarette in den Gully und öffnete die Pforte. Vor mir lag nun der gepflasterte Weg, der steil nach unten auf einen großen Platz vor dem Haus führte, auf dem Mike und Karin ihre Autos parkten. Kaum hatte sich die Pforte geöffnet, erblickte ich Mike. Er hatte mich bereits kommen hören und wartete am Ende der Einfahrt mit zwei Flaschen Bier in der Hand. Er lachte und rief mir zu, dass ich den Bus gleich auf den Hof fahren solle.
»Ich denke, ich bin heut Abend dein Chauffeur?!«, fragte ich und hob die Arme, um meine Überraschung zu unterstreichen.
»Nee, nee! Ich bin der Fahrer, du hast immerhin die Tickets bezahlt.«
Ich lachte und ging ihm entgegen. Wir begrüßten uns herzlich und ohne viel zu reden; stattdessen stießen wir an und das Bier aus der Heimat schmeckte köstlich. Ein Bier schmeckt doppelt so gut, wenn man es mit Freunden trinken konnte.
Wir schlenderten zu seiner Gartenbank auf dem Rasen direkt hinter dem Haus und blickten auf den imposanten Garten hinab. Der Garten war mindestens zwanzig Meter lang, genauso breit und erstreckte sich über zwei Etagen vom Haus weg. Auf der gesamten Fläche standen sieben alte Apfelbäume verteilt. Meistens saßen wir auf dieser Bank und gingen die fünf Stufen zu der herrlich rustikalen, von ihm selbst gebauten Sitzecke an der Hecke zum Nachbargrundstück nur hinab, wenn wir die Feuerschale entzündeten und uns von den Flammen hypnotisieren ließen. Es war ein großartiger Ort, um sein Bier zu trinken, zu essen und die Nacht heraufziehen zu sehen.
Heutzutage legten die meisten Menschen keinen Wert auf große und automatisch arbeitsintensive Grundstücke, aber für Mike war dieser Garten wie geschaffen, denn er liebte es, sich mit ihm, als Ausgleich zu seinem Beruf, zu beschäftigen. Neben dem Haus gab es noch eine fünf Meter breite und fünfzehn Meter lange Fläche, auf der er kleine Steinwege angelegt hatte und allerlei Blumen und Früchte kultivierte, so dass wir im Spätsommer Weintrauben naschen konnten.
Wir saßen nebeneinander auf der Bank und ich ließ meine Blicke über die Apfelbäume schweifen und überlegte, ob es dieses Jahr eine gute Ernte werden würde.
Er drehte seinen Kopf zu mir und fragte: »Wie geht’s dir? Du warst lange nicht mehr hier.« In der Frage lag kein Vorwurf und ich nahm einen Schluck Bier und nickte gleichzeitig.
»Geht mir gut. Besser, als noch vor einem Jahr. Ich lerne langsam das Leben zu genießen.«
»Du meinst das Herumstreunen?« Er lächelte.
»Ja, das Herumstreunen. Es fühlt sich gut an, das zu unternehmen, wozu man Lust hat.«
Er nickte und seine Augen bekamen einen melancholischen Glanz. »Ich wünschte, ich hätte deinen Mut«, sagte er.
»Mut, Blödheit, nenn es wie du willst ... solange die Kohle reicht und der Bus den Geist nicht aufgibt, ist alles ok. Später sehen wir weiter. Kannst mich ja im schlimmsten Fall adoptieren.«
Wir lachten und stießen erneut an. Meine Flasche klang schon leer und er stand auf, um Nachschub zu besorgen. Ich nahm das nächste Bier dankend an, denn schließlich war ich meines Chauffeur-Postens heute Abend enthoben.
»Wie geht’s Karin?«, fragte ich.
»Ihr geht’s gut. Sie arbeitet viel, aber es läuft prächtig mit uns. Sie kommt leider erst spät nach Hause, da werden wir schon unterwegs sein. Spätschicht. Ich soll dich aber grüßen.«
»Morgen sehe ich sie dann aber, oder?«
»Vorausgesetzt, du bleibst einige Tage bei uns.«
»Klar, es wär’ mir eine Ehre. Aber nur, wenn ich euch nicht auf die Nerven falle ...«
»Quatsch! Machst du immer noch deine legendäre Lasagne?«
»Worauf du einen lassen kannst!«
»Dann bis du herzlich willkommen.«
Er fragte mich, was ich in den letzten zwei Monaten unternommen hatte und ich erzählte ihm, dass ich mich überwiegend an der Mosel aufgehalten und einen wunderschönen Frühling genossen hatte. Meinen Aufenthalt hatte ich mit kleineren Arbeiten finanziert. Ich lernte den Besitzer des Campingplatzes kennen und bei einem abendlichen Zusammensein mit Wein und guter Hausmannskost zeigte ich auf seinen Sitzmäher und erzählte ihm, dass ich ein solches Gerät noch nie gefahren wäre. Er meinte, dass ich jederzeit eine Runde drehen dürfe und so kam eins zum andern: Wenige Tage später fragte er, ob ich nicht Lust hätte, ihm bei den Vorbereitungen zur Hauptsaison zur Hand zu gehen und plötzlich hatte ich eine Aufgabe, die er mir mit großzügigen Rabatten bei den Übernachtungspreisen sowie der einen oder anderen Flasche Wein honorierte. Das waren die schönsten Momente, nachdem ich an der Kreuzung in Richtung Abenteuer und Unsicherheit abgebogen und gleichzeitig unabhängig war: Ich beschäftigte mich mit Tätigkeiten, nach denen mir der Sinn stand und wenn es sich dabei um Rasenmähen oder Glühbirnenwechseln handelte, dann war es gut so.
Mike wiederum erzählte mir, wie es in der Firma lief und dass sein Chef endlich erkannte, dass seine Arbeit mit einer Gehaltserhöhung zu wertschätzen sei. Das freute mich für ihn, denn eine finanzielle Unabhängigkeit machte sich früher oder später bezahlt, wofür ich, in einem weitaus bescheideneren Rahmen natürlich, ein gutes Beispiel war.
Ich stand auf und deutete in Richtung des Busses. Er nickte und verstand. Viele Worte brauchten wir noch nie und das liebte ich an unserer Freundschaft. Wir konnten zusammen schweigen und uns gleichzeitig wohlfühlen. Ich ging die steile Einfahrt hinauf und fuhr meinen Bus auf den gepflasterten Hof, der so großzügig bemessen war, dass ich neben ihren Wagen parken konnte, ohne sie zu behindern. Die Schiebetür zeigte zum Garten und ich freute mich darauf, morgen früh als Erstes die alten Apfelbäume zu sehen und die Vögel zu hören. Ich entschied mich dagegen, das Innere des Busses jetzt schon in mein Schlafzimmer zu verwandeln, denn das war eine Sache von wenigen Minuten und ich ging davon aus, dass ich heute Nacht mit einigen Bierchen und Jack Daniel’s-Cola intus noch in der Lage war, diese Aufgabe zu bewerkstelligen. Da Mike heute fahren würde, könnte ich zwar ein paar Getränke zu mir nehmen, aber ich wollte mich etwas zurückhalten, denn ich empfand es als unhöflich, wenn der Beifahrer nicht mehr Herr seiner Sinne war, während der Fahrer sich durch die Nacht kämpfen musste. Außerdem wurden bei Fahrten durch die Nacht oft die besten Gespräche geführt.
Ich ging an die Heckklappe, öffnete sie, klemmte mir einen schweren Karton unter den Arm und kehrte zur Gartenbank zurück, auf der Mike noch immer saß und die letzten Sonnenstrahlen genoss.
»Hier, für euch!« Ich strecke meine Arme aus und überreichte ihm den Karton.
Er schüttelte den Kopf: »Das musst du doch nicht«, murmelte er mechanisch und öffnete den Karton. Zum Vorschein kamen sechs Flaschen feinster Moselwein, direkt vom Winzer.
Er blickte mich irritiert an. »Seit wann sind wir Weintrinker? Ich denke, alles außer Bier und Whiskey ist für Hipster reserviert?!«
Ich lachte, weil er ziemlich verwirrt aussah und wir über Weintrinker tatsächlich liebend gerne lästerten. »Wenn du dich längere Zeit an der Mosel aufhältst, wirst du früher oder später von netten Menschen sanft gezwungen, den Wein zu probieren, und ich verspreche dir, dass diese Fläschchen ein komplett anderes Geschmackserlebnis sein werden, als du es bisher mit Wein in Verbindung gebracht hast! Mit der Jauche, die man im Supermarkt als Mosel-Wein anbietet, hat das nichts zu tun. Bei den Winzern vor Ort wird nichts gepanscht, sondern der Winzer nimmt das, was die Saison ihm beschert. Dieser Jahrgang in deinen Händen sei der beste seit vielen Jahren, sagen sie. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich weiß, dass ich mich unsterblich in den Wein verliebt habe.«
Er schüttelte den Kopf, lachte und stellte die Flaschen ab. »Passt eine davon morgen zu deiner Lasagne?«
»Von den Fläschchen harmoniert jede mit allem. Du wirst dir die Lippen danach lecken!«
Ich blickte auf mein Smartphone, um zu sehen, wie spät es war und sagte: »Ich glaube, wir sollten langsam los.«
»Ääh, wir müssen noch ein wenig warten, denn es kommt noch jemand mit!« Nicht wirklich überrascht schaute ich Mike an und er fügte beinahe entschuldigend hinzu: »Ich habe einem Arbeitskollegen erzählt, dass mein bester Freund zu Besuch kommt und wir auf dieses Konzert fahren werden. Er ist wirklich nett, vielleicht ein bisschen freakig, aber er kennt die gleichen obskuren Metal-Bands wie du ... ihr dürftet euch prächtig verstehen.«
Das könnte in der Tat interessant werden, dachte ich.
Ich hatte jahrelang für ein Online-Musikmagazin Alben rezensiert und Konzertberichte geschrieben und dabei schnell herausgefunden, dass es unter der Oberfläche so viel mehr gibt, als man als normaler Musikbegeisterter wahrnimmt. Massentaugliche Mainstream-Labels und Festivals eigneten sich für den Einstieg, aber über die Jahre hinweg begeisterte mich der Untergrund immer mehr. Ein ganzes musikalisches Universum existierte unterhalb dieser Oberfläche, in der neue Alben nicht ausschließlich kommerzielle Produkte waren, sondern Ausdruck der Individualität und Kreativität der Künstler. Wer als Künstler auf kleinen Labels oder als Eigenproduktionen Musik veröffentlichte, war sich bewusst, dass es nicht tausende Menschen geben würde, die die Musik hören, aber das war bestenfalls auch nicht der Anspruch. Der Anspruch musste sein, dass man seine Kunst erschuf und Teil der Welt werden ließ, wenn auch mit dem Wissen, dass die Welt sich ohne sie genauso weiterdrehen würde. Untergrund-Labels wie zum Beispiel Ván oder Infernö Records unterstützten diese Künstler mit einer Hingabe und Leidenschaft, die ihresgleichen suchte. Natürlich waren Plattenfirmen darauf angewiesen Geld zu verdienen, aber der Weg dorthin war entscheidend und viele Untergrund-Labels boten den Fans Veröffentlichungen an, die im Hinblick auf die Qualität und Aufmachung den Mainstream-Produkten weit überlegen und trotzdem fair kalkuliert waren. Schnellen Reichtum würden weder die Bands, noch die Labels auf diesem Wege erzielen können, aber man erschuf gemeinsam ein Gesamtkunstwerk und dafür wurden die Labels genau so verehrt wie die Bands selbst.
Diese Do-it-yourself-Attitüde, die Hingabe und Kreativität des Untergrunds hatte mich nachhaltig geprägt, harmonierte sie doch mit Camus’ Grundsatz, dass ein Künstler zu der Einsicht kommen solle, dass sein Kunstwerk nicht sein müsse und genau diese Erkenntnis es ihm ermögliche, sich mit Leidenschaft auf die Erschaffung zu konzentrieren. Das war die absolute Freiheit und Auflehnung gegen die Absurdität des Lebens.
Diese Idee wiederum ließ sich auch problemlos auf das Leben eines Nichtkünstlers übertragen, denn sie beschrieb nichts weiter, als dass man das tun solle, was das Herz einem sagt und nicht auf die Meinungen anderer hören sollte.
»Wenn noch jemand mitkommt«, ich grinste Mike teuflisch an, »könnte er uns doch chauffieren! Dann schnappen wir uns einen Wein und haben Spaß!«
»Ich weiß nicht, lass mich lieber fahren. Er ist nett, aber auch ein wenig verpeilt. Ich denke, er kifft gerne und ich habe keinen Bock drauf, von einem Kiffer umgebracht zu werden.«
Mike war immer viel zu vernünftig, aber er hatte natürlich Recht. Safety first!
Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Pforte und ein schlaksiger Typ trat durch hindurch. Er war bestimmt zwei Meter groß und wirkte beinahe unterernährt; er trug eine enge, schwarze Jeans, eine schwarze Lederjacke, schwere Lederstiefel und ein T-Shirt der Band Urfaust. Ich kannte niemanden in meinem Freundeskreis, der Urfaust zu schätzen wusste und er sammelte umgehend Pluspunkte bei mir, obwohl ich gelernt hatte, dass gemeinsame Interessen nie ein Garant waren, dass man sich sympathisch war. Seine Haare waren eine unglaubliche Lockenpracht, voluminös und schulterlang. Ich war für einen kurzen Moment fast neidisch auf diese Locken und wünschte mir, dass meine Frau sie sehen könnte. Ich war mir absolut sicher, dass sie ihn als Erstes, und damit meine ich noch vor der Begrüßung, fragen würde, ob die Haare echt seien und ob sie sie mal anfassen könne. Meine Haare hingegen quittierten peu à peu ihren Dienst und ich musste mir gut überlegen, wie lange ich noch einen Undercut mit Tolle tragen konnte, bevor die Glatze am Hinterkopf zu dominant wurde und es dann erbärmlich aussah.
»Moin Mike, alles frisch bei dir?«, rief er zur Begrüßung und als er mich sah, gab er mir die Hand. »Ich bin der Bambus. Du darfst mich auch gerne Heiliger Vater nennen.«
»Äh, ich denke, Bambus wird’s tun. Ich bin ...«.
Gerade, als ich mich vorstellen wollte, wandte er sich wieder an Mike. »Biste fit für den Abend? Ich hab’ mich schon mal in Stimmung gebracht und davon Hunger bekommen. Halten wir zwischendurch noch mal kurz beim Döner? Ich könnt’n Schwein fressen.«
Ich war beeindruckt von dem Tempo, mit dem er sprach und es schien gar nicht zu einem Kiffer zu passen, eher zu einem Speedfreak. Mike hatte offensichtlich eine gute Entscheidung getroffen, als er beschloss, unsere Gesundheit nicht in die Hände von Bambus zu legen. Da wir nun eine ungeplante Pause haben würden, die mir allerdings nicht ungelegen kam, da ich selber auch Hunger verspürte, machten wir drei uns ohne Begrüßungsbier für den Gast auf den Weg.
Die Fahrt zum Konzert dauerte normalerweise eine Stunde, aber bevor wir auf die Bundesstraße fuhren und die Reise richtig losging, hielt Mike bei unserem Stamm-Döner an. Er bestellte eine Cola, ich einen Döner und Bambus verlangte nach zwei Dönern, extra-scharf. Ich blickte Mike an, aber er grinste nur und schüttelte den Kopf. Wir suchten uns einen Tisch in der Ecke des Imbisses aus und ich fing an, meinen Döner zu essen. Ungefähr, als ich bei der Hälfte angekommen war, nahm Bambus einige Schlucke aus Mikes Colaflasche und stieß einen markerschütternden Rülps aus. Ich erschrak dermaßen, dass mir beinahe mein Döner aus der Hand fiel. Yilmaz, der Besitzer des Döner-Grills, schimpfte auf türkisch mit uns und die zwei anderen Gäste wandten sich leicht angewidert ab.
Mike grinste, schüttelte peinlich berührt den Kopf und Bambus rief völlig ungeniert: »Sorry! Das musste raus, sonst passt der zweite Döner nich’ mehr rein!« Dabei blickte er sich beinahe triumphierend um und wir drei lachten.
Bambus verschlang den zweiten Döner genauso schnell wie den ersten und trank den Rest von Mikes Cola. Mike und ich schauten uns in die Augen und in Erwartung einer weiteren unappetitlichen Ruhestörung konnten wir ein Lachen nicht unterdrücken, aber Bambus machte nur ein kleines Bäuerchen hinter vorgehaltener Hand, tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und sagte vornehm: »Verzeihung, meine Damen.« Wir brüllten vor Lachen.
Als wir uns beruhigt hatten, fragte mich Bambus: »Wat denn, wat denn? Nur ein’ Döner?! Da geht doch noch was rein!«. Dabei trommelte er auf meinem, in den letzten Monaten stark angeschwollenen, Bauch herum.
»Gehst du gleich Kotzen oder joggst du die nächsten 80 Kilometer?«, fragte ich ihn und er lachte.
»Nö. Ich habe eine göttliche Gabe: Ich fresse wie ein Scheunendrescher und bin schlank wie ein Bambus. Du, mein neuer Freund, siehst dagegen ein wenig wie ein fauler Panda aus.« Er sprach laut mit einer theatralischen Stimme weiter: »Darum seist du fortan bei Freund und Feind«, er schob eine dramatische Pause ein, holte Luft und sprach mit noch lauterer Stimme, die Yilmaz wieder wachsam werden ließ, »dicker, fetter Panda geheißen!« Dabei nahm er meinen Kopf in seine Hände, schüttelte ihn und zwickte mir abschließend grinsend in die Wangen. Das war eine so surreale Szene, dass ich mir vor Lachen fast in die Hose pinkelte. Auch Yilmaz lachte und die anderen Gäste grinsten ebenfalls. Es dauerte fünf Minuten, bis wir uns alle soweit im Griff hatten und nicht bei jedem Blickkontakt wieder loswieherten.
Solche Tage sind unbezahlbar, dachte ich zufrieden. Es war wunderbar, auf die Etikette zu pfeifen und nur eine gute Zeit haben zu wollen. Ein bisschen Chaos im Leben tat mir gut und dafür war man nie zu alt. Ich hatte ein gutes Gefühl bei Bambus, denn er holte die Menschen scheinbar gerne aus ihrer Komfortzone heraus und schien sich einen Dreck darum zu scheren, was andere von ihm hielten. So wäre ich früher auch gerne gewesen.
So war ich aber leider nicht. Ich war das graue Gesicht in der Menge, welches sich gehorsam in das kleinbürgerliche Leben eingegliedert hatte und ein funktionierendes Teil der Maschine geworden war.
»Ich mag deinen Style«, sagte Bambus zu mir. »Du stehst sicher volles Brett auf Saxon, wa? Von wegen Denim and Leather und so ...«
Ich grinste, denn ich hatte nicht viele Freunde, die Saxon kannten und mit Denim and Leather in Verbindung brachten. »Nee, ich glaube, Peter Pan Speedrock haben meinen Look geprägt.« Jeans und Lederjacke, dazu Doc Martens und Bandshirts. Das war mein Stil, seitdem ich sechszehn war. Ich liebte es, mich auf diese Art zu kleiden und würde diesen Stil nicht ändern, denn das war ich. Die sogenannte Mode war mir schon immer egal gewesen und würde es auch immer sein.
»Und deinen Backenbart hat du dir beim Planet der Affen abgeguckt, oder?« Er grinste verschmitzt.
»Schon wieder falsch, lieber Dönervernichter; daran sind die alten Hammer-Filme Schuld ... du weißt schon: Christopher Lee, Peter Cushing und Michael Ripper.«
»Ach, diese Schinken sind doch öde. Null Action. Bei einem guten Film muss richtig die Post abgehen!« Wenigstens da waren wir uns uneinig.
»Ich bleibe noch einige Zeit bei Mike und vielleicht können wir uns ja mal auf einen Film treffen ... danach wirst du dir die Finger nach den alten Schinken lecken!«
»Wenn ich mir vorher einen Joint gebaut habe, möglich.«
Okay, Mike hatte Recht: Er zog ganz offensichtlich gerne einen durch. Ich hatte kein Problem damit; kiffen konnte auch nicht gefährlicher sein, als zu trinken. Als ich jünger war, hatte ich es probiert und es war das perfekte Schlafmittel für mich gewesen. Ich hatte mich sogar ein Mal selbst erwischt, dass ich nach einem Joint im Schlaf lächelte ... daran konnte also nichts falsch sein. Vielleicht würde ich ihn bitten, mir ein paar Gramm Gras zu besorgen, damit ich mich auf meinen zukünftigen Reisen abends in den Schlaf rauchen konnte. Fragen kostet nichts.
Mike blickte auf die Uhr und nickte Richtung Tür. »Wir müssen langsam los, sonst verpassen wir die Vorband.« Wir räumten unseren Tisch auf und winkten Yilmaz zum Abschied.
Er rief uns lachend hinterher: »Bis zum nächsten Mal! Aber bringt eure Manieren dann bitte wieder mit!«.
Wir lachten und ich ging direkt in den Tankstellenshop, der neben dem Döner-Imbiss lag, wo ich mich mit zwei Dosen Beck’s und einer Packung Zigaretten eindeckte, während die beiden anderen meine Einladung ablehnten, dass ich ihnen etwas mitbringen könnte.
Wir erreichten Mikes Mazda CX-5 und da Bambus auf dem Beifahrersitz Platz nahm, stieg ich hinten ein. Mike startete den Motor mit einem Knopfdruck und die Reise ging weiter.
Ich zog mein Smartphone aus der Jackentasche und checkte die E-Mails, als Bambus sich zu mir umdrehte und fragte: »Wie alt bist du eigentlich? Auch so um die vierzig, wie Mike?«
»Zweiundvierzig, genau genommen.«
Er riss theatralisch die Augen auf und sagte mit hoher Stimme: »Zweiundvierziiig?« Er zog die letzte Silbe lang und seine Stimme überschlug sich. »Jungs, ihr seid die klügsten Menschen, die ich kenne ... ihr wisst schon ... zweiundvierzig!« Mike suchte meinen Blick im Rückspiegel und wir beide lachten wieder, obwohl wir keine Ahnung hatten, was er meinte.
Bambus sprach erneut mit seiner dröhnenden Theaterstimme: »Zweiundvierzig! Die Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest!« Na klar, Per Anhalter durch die Galaxis.
»Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen ...«, lachte ich.
»Weil du blöde bist«, antwortete Bambus und zwinkerte mir zu. Ich konnte ihm nicht böse sein, denn er meinte es nicht böse.
»Weißt du eigentlich, dass du eine unglaubliche Stimme hast?«, fragte ich ihn.
»Jap. Ich weiß. Ich war der King bei den Schulaufführungen und ich habe sogar bei uns im Ort in der Laienschauspielgrupppe mitgespielt. Die brauchen immer einen, der den ganzen Schlunz aus der Mittelmäßigkeit herausreißt. Du Mike, sag mal, ist das ein Biogas-Auto?«
Mike schüttelte den Kopf und blickte Bambus argwöhnisch aus den Augenwinkeln an.
»Schade, ich glaube, ich hätte eine halbe Tankfüllung für dich.« Kaum hatte er ausgesprochen, hob er sein Bein und ließ einen dröhnenden und langen Furz ertönen.
»Au Mann, du Sau!«, schrie Mike und hielt sich die Nase zu. Bambus schlug sich vor Lachen auf die Schenkel und auch ich musste grinsen. Allerdings nur so lange, bis der Geruch vom Gebläse in den Fond des Wagens geweht wurde.
»Du Schwein!«, keuchte ich. »Das müffelt ja nach Verwesung!« Ich drückte den Knopf, der die Seitenscheibe herunterfahren ließ und streckte meinen Kopf aus dem Fenster, um der Geruchsbelästigung im Inneren zu entgehen.
»Kotz- oder Furzgeschichten sind immer noch die besten Garanten für einen amüsanten Abend« meinte Mike lachend. Das stimmte zweifellos.
Es gab vor Jahren einen mittlerweile legendären Sommerabend in Mikes Garten, an dem wir alle Fünfe haben gerade sein lassen und ich dem Whisky sehr zugetan war. Plötzlich, es war schon zu fortgeschrittener Stunde, von einer Sekunde auf die nächste, brach mir kalter Schweiß aus und ich hatte Angst, einen Herzinfarkt zu erleiden. Ich konnte gerade noch von der massiven Holzbank im Garten aufstehen, einen Schritt nach rechts machen und alles vor die Hecke kotzen, was sich in meinem Magen befand. Danach ging es mir etwas besser und ich habe mich wortlos auf den Heimweg gemacht. Am nächsten Morgen hatte ich den Säuferblues und musste Mike anrufen, um mich zu entschuldigen und zu fragen, wann ich die Kotze aus seinem Garten entfernen solle. Da hatte er gelacht und gesagt, dass er sich mit einer Gießkanne bewaffnet um meine Kotze kümmern wollte, das aber nicht nötig gewesen war.
»Um die Kotzlache haben sich grob geschätzt dreißig Schnecken versammelt, die deine Kotze aufgefressen haben. Du kannst dich also wieder hinlegen.«
Wann immer wir diese Geschichte, die mir die Titel ›Herr der Schnecken‹ oder wahlweise ›der Schneckenflüsterer‹ eingebracht hatte, zum Besten gaben, endete sie mit einer Professor-Grzimek-Imitation: ›... und so entdeckten wir also, dass sich die gewöhnliche Garten-Wegschnecke durchaus von Kotze mit Whisky und Bratwurst ernähren kann.‹
Mike schaute mich wieder durch den Rückspiegel an und lächelte: »Hast du auch gerade an deine Schneckenfütterung gedacht?« Ich nickte.
»Das war ein geiler Abend«, meinte er grinsend. Damit hatte er recht. Dieser Abend gehörte zu den wunderbaren Momenten, an denen wir uns einfach nur in der Gegenwart wohlgefühlt hatten und ich nicht an die absurde Idee des Lebens denken musste; dieses Leben ohne Ziel und erkennbaren Sinn; dieses Leben im Hamsterrad. Ehe man sich versah, war die Zeit abgelaufen und man hatte nichts weiter geschafft, als seine Steuern zu zahlen, dem Arbeitgeber ein guter Lakai zu sein und zu warten, bis man endlich die Rente durchbekommt, damit man mit siebenundsechzig versuchen konnte, alles zu unternehmen, was man eigentlich schon mit dreißig hätte tun sollen. Lächerlich!
Ich hatte neben meiner langweiligen und zermürbenden auch eine jüngere und ungleich spektakulärere Vergangenheit, als sich vor ca. zehn Monaten einige Ereignisse überstürzten, auf deren Höhepunkt meine Ehefrau verstarb und ich mein altes Leben hinter mir ließ. Nachdem ich diesen Schritt gemacht hatte, fühlte ich mich bedeutend besser und hatte mich verändert. Ich konnte das Leben wieder halbwegs genießen, war kreativ und nutzte meine Reisen zum Fotografieren und Schreiben. Momentan schrieb ich an den Orten, die ich besuchte, meine Gedanken in einer Art Reisebericht auf und überlegte, die Texte und Fotos im Internet oder sogar als Buch zu veröffentlichen. Da kam mir mein Tagebuch wieder in den Sinn ...
»Ähem, Mike«, ich beugte mich nach vorne und schaute zwischen den beiden Sitzen hindurch meinen besten und ältesten Freund an. »Hast du zufällig mein Notizbuch gefunden? Es hat Taschenbuchgröße und einen wunderschönen braunen Ledereinband.«
Dieses Buch hatte mir meine Frau vor vielen Jahren geschenkt, weil sie wusste, dass ich gerne ein Notizbuch hätte, in das ich meine Gedanken und Ideen notieren konnte. Ich hegte seit Jahren den Wunsch, ein Buch zu schreiben, hatte die Kladde dann allerdings als Tagebuch benutzt.
»Alter, nenn mir einen Grund, warum ich in deinen Kartons rumwühlen sollte? Keine Ahnung. Ich hab’ das Buch nicht gesehen.« Ein Blick in seine Augen verriet mir, dass er nicht log, denn hätte er das Buch gefunden, wäre seine Reaktion sicherlich anders ausgefallen.
»Okay, hätte ja sein können.«
Bambus drehte seinen Kopf zu mir, während er offensichtlich einen Joint bastelte. »Was hast du denn für wichtige Geschichten aufzuschreiben? Weibergeschichten? Oder musstest du deinen Weltschmerz in dieses Büchlein schreiben, weil du ein trauriger, kleiner Panda bist?!«
Während Bambus über seine Bemerkung kicherte, wurde ich blass, denn Unrecht hatte er nicht. Ich hatte das Tagebuch tatsächlich benutzt, um mir alles von der Seele zu schreiben, was mich zu diesem Zeitpunkt am Leben angeekelt und bewegt hatte.
Ich setzte ein Grinsen auf und sagte leise: »Ja, sowas in der Art« und sank zurück in den Sitz.
Morgen würde ich in meinen Kartons nach dem Buch suchen, aber heute darüber nachzudenken, machte keinen Sinn, denn von diesem Rücksitz aus konnte ich nichts tun, was die Situation veränderte. Ich lächelte über die Einsicht. Es war ein neuer Wesenszug von mir, denn früher wäre mir der Abend verdorben gewesen, obwohl ich achtzig Kilometer von der Möglichkeit entfernt war, etwas daran zu ändern. Heute konnte ich mich aber zurücklehnen und öffnete eine Dose Beck’s.
»Tadaa«, dröhnte Bambus’ Theaterstimme vom Beifahrersitz und er hielt das Prachtexemplar eines Joints in die Höhe. »Jungs, wenn wir diesen Torpedo versenkt haben, wird der Abend noch besser! Das wird ein Konzert, das wir nie mehr vergessen werden!«
Mike schüttelte den Kopf. »Alter, ich muss fahren. Ihr könnt euch gerne die Birne zudröhnen, wenn wir da sind, ich gönne euch den Spaß, aber ohne mich!«
Er wirkte ärgerlich; vermutlich, weil die Chance, dass der Abend eskalieren würde, just um gefühlte eintausend Prozent gestiegen war und er gegen seinen Willen zur Mutter der Kompanie degradiert wurde.
Ich grinste, war mir allerdings nicht sicher, ob ich wirklich einen Joint rauchen sollte, denn ich hatte schon einige Biere intus und meine kurze Kifferepisode hatte mich gelehrt, dass man entweder Alkohol trank oder kiffte. Beides zusammen war der Garant für einen Filmriss universalen Ausmaßes.
Bambus fummelte umständlich ein Zippo aus seiner Jackentasche, klappte es auf und Mike knurrte ihn an: »Hör mit dem Scheiß auf! Das ist ein Nichtraucherauto!« Das klang so spießig, dass Bambus und ich uns vor Lachen kringelten.
»Ja, lass die Lunte aus, wir sind in zwanzig Minuten da, dann ziehen wir das gute Stück weg«, versuchte ich beiden Parteien gerecht zu werden. Typisch. Es steckte einfach in mir drin und außerdem war ich immer noch nicht überzeugt, ob ich tatsächlich mitrauchen sollte.
Bambus ließ unbeeindruckt die Fensterscheibe mit einem Knopfdruck hinuntergleiten. »Keine Panik, der Fahrtwind wird den Qualm raussaugen, wenn wir aus dem Fenster pusten.«
Bevor Mike etwas erwidern konnte, flammte das Zippo auf, Bambus steckte sich den Joint in den Mund und zündete ihn an. Sofort verbreitete sich der Rauch im Auto und ich wusste, dass Mike innerlich kochte.
»Aaaah! Das ist fein!« Bambus stieß den inhalierten Qualm langsam und genüsslich aus. Das Gras roch sehr intensiv.
»Karin bringt mich um, wenn die Karre nach Pot stinkt.« Mike tat mir leid, aber gegen einen Bambus, der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, kam man nicht an.
»Hey Panda, für dich!« Bambus verrenkte sich auf seinem Sitz und reichte den Joint über die linke Schulter nach hinten.
Ich nahm den Joint und einen tiefen Zug und augenblicklich durchströmte mich ein wohliges Gefühl der Entspannung. Ich würde ihn auf jeden Fall fragen, ob er mir ein paar Gramm besorgen könnte! Ich behielt den Rauch so lange in meinen Lungen bis sie brannten und stieß ihn dann hustend aus.
»Hier ...«, keuchte ich und hielt den Joint zwischen den Sitzen empor und Bambus nahm ihn an sich.
Mike drehte seinen Kopf weg und ich bedauerte bereits, dass ich bei diesem Spaß mitmachte; es kam selten vor, dass ich etwas unternahm, was ihn auf die Palme brachte. Bambus inhalierte erneut und atmete geräuschvoll aus; er bemühte sich dabei tatsächlich, den Rauch aus dem Fenster zu pusten. Ich lehnte mich auf meinem Rücksitz zurück und schloss die Augen. Egal, wie ich mich morgen fühlen, geschweige denn, wo ich aufwachen würde; jetzt zählte nur der Moment und der war grandios. Gute Freunde, leicht bedröhnt und vor allem entspannt. Die Geräusche um mich herum klangen weit weg und ich döste ein.
Unvermittelt drangen laute Stimmen in mein Bewusstsein; ich öffnete die Augen und sah, wie Bambus sich zu Mike hinüberbeugte und mit dem Joint vor seiner Nase hin und her wedelte. Er lachte, aber Mike war stinksauer und bat ihn in einem scharfen Ton, mit dem Unsinn aufzuhören, sonst würde er ihn auf der Stelle hier mitten am Arsch der Welt aussetzen. Die Stadt war noch gut zehn Kilometer entfernt und wir befanden uns auf der Schnellstraße.
Vielleicht lenkte Bambus deshalb ein oder er hatte einfach die Lust verloren, Mike zu ärgern; jedenfalls murmelte er: »Is’ ja schon gut, beruhig dich!«
In diesem Moment fiel ihm der Joint mit der mächtigen Glut aus der Hand, direkt in Mikes Schoß.
Mike schrie wütend auf, Bambus rief: »Ach du Scheiße« und ich war hellwach, schnallte mich ab, ergriff den Fahrersitz und rutschte instinktiv nach vorne, um zu helfen. Mike versuchte den Joint, der genau zwischen seine Schenkel gefallen war, aufzusammeln, aber weil er instinktiv seinen Hintern angehoben hatte, war der Joint noch unerreichbarer als vorher und Bambus fingerte gleichzeitig zwischen Mikes Beinen herum, sodass sie sich gegenseitig behinderten. Ich roch bereits den schmelzenden Kunststoff des Sitzbezuges und Mike riss mit der linken Hand zu hart am Lenkrad; vor Schreck schrie ich laut auf, während der Mazda ungebremst mit Tempo 100 in Richtung der Betonbegrenzung in der Fahrbahnmitte schoss. Ich spürte den Aufprall und instinktiv steuerte Mike nach rechts, aber aus irgendeinem Grund bremste er nicht und ich merkte, wie wir die Leitplanke durchbrachen.
Alle fünfzig Meter stand ein riesiger, alter Baum am Straßenrand und ich hörte mich »Brems!« schreien, aber wir wurden nicht langsamer. Geschockt blickte ich durch die Frontscheibe und sah im Scheinwerferlicht, wie wir auf einen der stattlichen Bäume zurasten, der vielleicht noch zwanzig Meter entfernt war. In diesem Moment wusste ich es. Es ist aus. Mit etwas Glück bin ich sofort tot; wenn ich Pech habe, werde ich ein sabbernder Haufen Hackfleisch. Nun wäre wohl die Zeit für den Kurzfilm gewesen, der mir mein Leben vor Augen führte; aber stattdessen meldete sich mein altes Ich und ich dachte: Hätte ich mal die Patientenverfügung fertig gemacht.
Ich blieb innerlich vollkommen ruhig. Vielleicht war das der Trick: Wenn man ganz genau weiß, dass man sterben muss, hilft kein Jammern und Wehklagen; ich war davon so überzeugt, wie ich wusste, dass für die meisten Menschen morgen früh die Sonne aufgehen würde. Nur nicht für uns. In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubender Krach von zerberstendem Glas, sich verformendem Stahl, splitterndem Holz und menschlichen Schreien. Ich wurde aus meinem Sitz gehoben und es wurde schwarz.