Читать книгу Die Leuenhofer - Ida Bindschedler - Страница 5
Das Hochwasser.
ОглавлениеSeit ein paar Tagen regnete es unaufhörlich. Die ganze Nacht hindurch goss und rauschte es fort, und die alten Leute, die nicht mehr so fest schliefen, horchten auf. Immer noch! Immer noch, dachten sie; es wird doch nicht etwa ein Hochwasser geben, wie damals, wo es die Brücke von Ferlikon weggerissen und das ganze Dorf überschwemmt hat. Mein Gott! Und die Leute, die drunten in der Riedau wohnen: Kann es denn gar nicht mehr aufhören!“
Die Kinder, wenn sie schnell einmal erwachten, hörten das Rauschen und Plätschern auch.
„Du“, rief Gustav Brenner von seinem Bett dem gegenüber schlafenden, ältern Bruder zu – „vor der Schule rennen wir noch zur Ecke beim Doktorsgarten. Dort sieht man die Mauer, wo man angestrichen hat, wie hoch allemal das Wasser gestiegen ist.
„Glaubst du, dass es so hoch wird, wie vor 15 Jahren? Ich wollte, ich wäre damals dabei gewesen!“
Und in einer andern Ecke des Städtchens war in ihrer Schlafstube Sara Wiebold auch einen Augenblick erwacht.
„Wie das tut! Die Josephine bei Metzgers hat gesagt, beim letzten Hochwasser habe man keine Schule gehabt zwei Tage lang!“ Sara wollte sich ausdenken, was man alles unternehmen könnte an einem schulfreien Vormittag; aber ehe sie sich’s versah, war sie wieder eingeschlafen.
Am andern Morgen, als die Brennerbuben und noch andere zum Doktorsgarten kamen und über die Mauer hinüber sahen, bemerkten sie, dass die Illig seit gestern abend stark gestiegen war. Gelbbraun wälzte sich das Wasser daher.
Die Männer, die auch dastanden, machten ernste Gesichter und sahen zum Himmel hinauf, der mit einförmigem Grau verhängt war, und von dem es heruntergoss wie gestern und vorgestern. Die Leuenhofer aber rannten durch das Städtchen zur Schule.
Von den Dächern plätscherte es herunter, und es war sehr lustig, wenn man den Schirm unter solch einen Wasserfall hielt; das trommelte prachtvoll.
In der Schule erzählten die Kinder, die vom untern Städtchen kamen, in der Riedau fingen die Leute an auszuziehen; im Keller vom Schuhmacher Burnlich stehe schon das Wasser.
Weil Herr Schwarzbeck merkte, dass die Gedanken seiner Buben und Mädchen alle nur bei dem steigenden Wasser waren, so fasste er sie an diesem Zipfel. Er sprach mit ihnen von den starken Sommerregen und von der Illig und wo sie herkam und wo sie hinging und was sie früher schon für Schaden angerichtet. Und die Kinder durften auch sagen, was sie wussten, und dann gab es einen Aufsatz über das Gesprochene. –
Am Nachmittag kamen die Kinder noch aufgeregter in die Schule: Am Fabrikweiher oben seien die Leute schon den ganzen Tag bei der Arbeit, weil man Angst habe, der Damm breche durch.
Ja, und am Seckelweg haben sie eine Menge abgehauene Tannen; die hängen sie an Ketten und Stricken ins Wasser – damit das Wasser nicht den Weg fortreisst.
Ja, und von Ferlikon ist eine Frau gekommen, die hat gesagt, man habe schwere Wagen mit Sand und Steinen auf die Ferlikoner Brücke gestellt – weil das Wasser immer noch steige.
Als letzter aber kam der pausbackige Fünftklässler Hermann Steininger hereingerannt.
„Im Keller von meiner Grossmutter steht das Wasser schon so hoch!“ meldete er triumphierend und streckte den Arm aus.
„O, das ist schlimm“, bedauerte Herr Schwarzbeck.
„Ja, die Grossmutter hat geweint, und wir haben ihr geholfen, den Keller auszuräumen; die grosse Waschgelte ist geschwommen.“
Hermanns rundes Gesicht strahlte vor Vergnügen. „Ich bin hineingestiegen und habe mit einem Stecken gerudert und gestachelt. Im ganzen Keller bin ich herumgefahren.“
„Oh, oh“, riefen die Kinder, aber nicht wie Herr Schwarzbeck im Ton des Bedauerns. So in einer Waschgelte zu fahren wie in einem Schiff, das musste fein sein!
Dann aber brachte Herr Schwarzbeck die Kinder doch dazu, den Ernst und den Schrecken einer wirklichen Ueberschwemmung zu begreifen.
Es erzählte ihnen von der tapfern Johanna Sebus, die ihre Mutter aus dem Wasser errettete und dann noch einmal durch das brausende, furchtbare Wasser watete, um auch die Nachbarin mit ihren drei kleinen Kindern zu holen.
Und dann schlug Herr Schwarzbeck sein Buch auf und las das Gedicht, in dem Goethe diese Heldentat geschildert hat. Das war schön.
„Du“, sagte Ottilie Eggenberg leise zu Eva, „das ist besonders schön, dass einmal ein Mädchen so tapfer war.“ Eva nickte; gespannt horchten sie weiter.
Wie das schaurig klang:
„Der Damm zerreisst, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.“
Und dann, wie Johannas Mutter voll Angst frägt:
„Verwegen ins Tiefe willst du hinein?“
Und Johanna entschlossen antwortet:
„Sie sollen und müssen gerettet sein!“
Wie furchtbar aber ging das Gedicht weiter: Johanna Sebus konnte die Familie nicht mehr retten. Die Wellen waren zu gewaltig. Ein Kind hielt sich noch am Horn der Ziege; dann versanken sie alle in der wirbelnden, schäumenden Tiefe. Und Johanna Sebus selbst, die tapfere hochherzige Johanna Sebus, war auch verloren; auch sie wurde von den wilden Wassern weggerissen und wurde nicht mehr gesehen.
Wie traurig war das und zugleich wie prachtvoll; so mutig, so heldenhaft möchte man auch einmal sein!
Von drei bis vier war Zeichnenstunde.
,,Herr Schwarzbeck, könnten wir nicht Johanna Sebus mitten in dem Wasser und das Haus der armen Frau zeichnen?“ fragten die Sechstklässler.
„Wär’s nicht doch schade für das schöne Gedicht und die grosse Sache, wenn ihr mit eurer kleinen Kunst daran ginget?“ erwiderte Herr Schwarzbeck.
„Versucht die Brücke von Ferlikon zu zeichnen. . . . Die Brücke von Ferlikon kennt ihr doch alle? – Nun stellt ihr ein paar Wagen darauf.“
„Ja, und unten das Wasser“, riefen die Buben und Mädchen. „Oder wie das Wasser schon über die Brücke läuft! Mit dem blauen Farbstift das Wasser. Nein, natürlich mit einem graubraunen!“
Mit Eifer ging es an die Darstellung der beschwerten Ferlikonerbrücke. Nur Hermann Steininger durfte, weil er gar so gern mochte, den Keller seiner Grossmutter zeichnen und sich selbst als kühnen Schiffer in der grossen Wassergelte.
„Wenn es schön wird, so schenke ich es der Grossmutter zum Andenken an die Ueberschwemmung“, sagte er vor sich hin, während er versuchte, die Kellertreppe anzubringen und die Grossmutter darauf mit ängstlich erhobenen Händen.
Herr Schwarzbeck ging durch die Bänke und half hier und dort. Aber die meisten Blätter fand er gut.
Fast hätte es den Kindern leid getan, als es vier Uhr schlug. Aber es war nun doch sehr fein, dass man hinaus konnte, um das Hochwasser in Wirklichkeit zu sehen.
Wo wollte man zuerst hin?
Die Sechstklässler liefen nun, was sie konnten, zum Städtchen hinein und die Fischergasse, die zur Riedau führte, hinunter. Wie es da aussah! Die ganze Riedau ein See! Ganz fremd kam den Kindern die sonst so gut bekannte Gegend vor. Keinen Weg sah man mehr. Nur Buschwerk ragte hier und dort aus dem gurgelnden Wasser und die alten Weiden noch. Die Illig aber, die sonst so ruhig und klar dahin floss, rauschte und toste wie im Zorn und warf Wellen, von denen der Schaum aufspritzte.
Am Ende der Riedau wurde das Ufer höher und blieb über Wasser; dort konnte man die wild sich daher wälzenden Fluten ganz in der Nähe ansehen. Es waren Leute da, Frauen, Burschen und junge Mädchen aus der Spinnerei; sie versuchten allerlei Holzstücke, Pfähle und Baumäste, die das Wasser mitführte, herauszufischen.
„Holla!“ schrien die Burschen, „da kommt ein fester Brocken! Haltet gut!“
Sie hielten sich zu dritt oder viert an der Hand. Der Aeusserste stand bis zu den Knien im Wasser und beugte sich weit hinaus und packte mit kühnem Griff den Ast. Aber viel Holz schwamm vorbei.
,,Wie schade!“ sagten ein paar alte Frauen. „Das schöne Holz! Im Winter wäre man so froh darum. Man kann ja fast keines mehr kaufen, so teuer, wie es jetzt ist. Dort kommt wieder eines. Das täte es grad für einen Kaffee!“
Einige der Leuenhofer Buben hatten schon eine Kette gebildet, wie sie es bei den Burschen sahen und glücklich fasste Felix Kleinhans die Beute. Beinahe hätte statt seiner Ottilie Eggenberg das Holzstück erwischt. An einem überhängenden Busch hatte sie sich gehalten und sich keck über das Wasser hingebeugt.
„Geh da weg“, sagte Felix; „das ist nichts für Mädchen!“
„Jawohl! Das können wir auch“, erwiderte Ottilie; dann aber lief sie auf der schmalen Böschung flussabwärts.
Ottilie war ein kräftiges Mädchen mit dicken, braunen Zöpfen. In der Schule und im ganzen Städtchen hatte man Ottilie Eggenberg besonders gern. Sie war immer lustig, immer freundlich, und wenn eines ein mürrisches oder betrübtes Gesicht machte, gab sie nicht nach, bis sie es zum Lachen gebracht hatte. Etwas wild und übermütig war sie manchmal auch. –
Jetzt stand sie an dem brausenden Wasser und sah sich um. Ein altes Schiff war da angebunden. Mit jedem Anschlag der trüben Wellen wurde das Schiff so heftig an die Pfähle geworfen, dass man dachte, es gehe in Stücke. Aber das schreckte Ottilie nicht. Sie sprang hinein. Vom hintern Ende des Schiffes aus konnte man, was daherschwamm, erwischen. Das Wasser trieb das Holz gerade gegen diese kleine Bucht. Netti Tobel und die andern Mädchen waren Ottilie nachgelaufen, und zwei alte Frauen kamen auch hintendrein.
„Nein, wie die kühn ist!“ sagten sie, als Ottilie eben einen festen Ast herausschwang; sie reichte ihn Netti Tobel, die ihn einer der Frauen übergab. „Und geschickt wie ein Flösserknecht! Das Schiff wird doch gut angebunden sein! Gib acht! Es ist nicht gesagt, dass wir jedes Stück haben müssen.“
Aber Ottilie wurde immer eifriger und kecker. Es war, als ob alles dran hinge, dass sie sich nur keinen Ast entwischen liesse.
„So, das gibt wieder einen Kaffee“, sagte sie lustig und warf Netti einen neuen Ast zu. Sie troff von Nässe und stand im Wasser bis über die Knöchel. Aber lachend streifte sie ihre Haare zurück und sah nach weiterer Beute aus.
„Achtung! Dort kommt ein feines Brett. Das gibt eine Pfanne voll Erdäpfel, Frau Hunziker.“ Mit Anstrengung zog Ottilie das Brett herein.
„Hei, und dort kommt eine braune Mehlsuppe“, schrie sie im Uebermut.
Alle lachten, und die Frauen rühmten, wie das doch ein witziges Kind sei und ein gutherziges, dass es sich so mühe um das Holz. Es ist ja wahr, für jedes Stücklein ist man dankbar.
Aber die braune Mehlsuppe steuerte weit draussen vorbei.
„Wenn das Schiff nur nicht so nah an den Pfahl gebunden wäre! Ich sollte weiter hinauslangen können.“ –
Netti zog an dem Strick; aber schon war Ottilie dran und lockerte ihn. Das Schiff schwankte heftiger. Ottilie konnte sich kaum auf den Füssen halten.
„Komm lieber jetzt heraus“, rief Frau Hunziker. ,,Du wirst zu waghalsig. Es ist genug. Hörst du.“ –
Da – entsetzt schrien die Kinder auf – das Schiff riss sich los, drehte sich und wurde von den trüben Wellen erfasst.
Ottilie war im Schiff umgefallen und hielt sich am Rande: „Netti“, schrie sie, „Netti – Frau Hunziker!“
Aber die wilden, tosenden Wellen führten den Kahn weg.
Herzzerreissend ertönte das Angstgeschrei des Mädchens: „O, o – Vater – Mutter.“ –
Und herzzerreissend war das Jammergeschrei der Kinder und der Frauen.
„Ottilie, Ottilie – zu Hilfe, zu Hilfe!“ schrien und schluchzten die Kinder.
Das Schiff wurde von den Wellen hin- und hergeschleudert; aber unaufhaltsam ging es abwärts; man konnte nur noch undeutlich erkennen, dass Ottilie am Boden kauerte.
„ Vater – Mutter“, ertönte es noch von weitem her, dann schoss das Schiff um ein Buschwerk und verschwand.
„Um Gottes willen, um Gottes Barmherzigkeit willen! Lauft, lauft Kinder, ruft Leute her!“ –
Schon waren die Burschen und die Leuenhofer Kinder herbeigeeilt. Aber wohin sollte man laufen? Flussabwärts? Die Böschung hörte hier auf, und weithin war das Land wieder unter Wasser; nur auf einem grossen Umweg war der Flusslauf zu erreichen.
Aber ohne sich lange zu besinnen, rannten die Leuenhofer Buben und Mädchen in dieser Richtung. Voran Netti laut schluchzend:
„Ottilie, Ottilie, ich – ich hätte sollen fester halten – den Strick halten.“ –
Die Burschen überlegten einen Augenblick:
„Man muss hinüber und hinunter zum Kniebühl. Dort hat es das Schiff vielleicht ans Land geworfen. Alles treibt’s ja dort hinein. Wisst ihr noch vor drei Jahren – den Mann von Rumikon – dort hat man ihn gefunden.“ Die Burschen, die dem Städtchen zurannten, sahen einander an – ,,eben halt tot, ertrunken.“ –
Jammernd und immer von neuem die Hände zusammenschlagend, folgten die zwei alten Frauen. Das Holz liessen sie liegen. „Das Kind, Bott im Himmel, das Kind!“ jammerte Frau Hunziker. „Es war gar zu waghalsig! Ich bin nur froh, dass ich es gewarnt habe. Sie haben es gehört, Frau Kradolfer? Ach Bott, ach Gott.“ –
Keuchend kamen sie im Städtchen oben an; da hatte sich schon die Schreckensnachricht verbreitet.
Die Leute standen zusammen und redeten aufgeregt durcheinander: „Am Kniebühl, das ist noch zu hoffen. Aber weiter unten“ – die Männer schüttelten die Köpfe. Das Schifflein war alt und morsch. Es brauchte bloss ein paar mal an einer Mauer oder Baumwurzel anzuprallen. . . . „Und überhaupt, das Wasser wird gleich hineingeschlagen haben – die armen Eltern. Es ist das älteste, ein so nettes, strammes Mädchen war’s. . . .“
Ein alter Mann kam durch die Mahlergasse herzu und verkündete, dass das Wasser droben in Dübenberg nicht mehr steige und dass die Ferlikoner Brücke aushalte.
„Gottlob; für diesmal ist die Befahr vorbei.“
Aber dann verstummte er, als er die ernsten Gesichter sah und von dem Unglück hörte. Niemand konnte sich nun freuen über seinen Bericht.
Da kehrten zwei von den Burschen zurück. Weder Schiff, noch Kind waren am Kniebühl zu finden gewesen.
„Jetzt ist kaum mehr eine Hoffnung“, sagte der Spenglermeister Notz.
,,Wir wollen aber doch noch auf dem andern Ufer heruntersuchen bis nach Mergendorf; vielleicht weiss man dort etwas.“
„Man hat hinunter telephoniert und nach Woltersheim auch“, erwiderte der Spenglermeister; aber die Burschen waren schon davon und der Schlossermeister Gehring, der Küfer Kübler und der Jakob Wisli gingen nach. ,,Man muss etwas tun. Nur so dastehen kann man nicht.“
Auf der halb überschwemmten Mergendorfer Strasse kam ihnen das Trüpplein Leuenhofer Kinder entgegen. Die Kinder waren im Morast und Gestrüpp gewatet, bis sie nicht mehr aus und ein wussten. Keinen Menschen hatten sie getroffen, der etwas gewusst hätte; nur immer das schreckliche Wasser hatten sie gehört. Da waren sie still gestanden, und Sara Wiebold, die auch mitgelaufen war, sagte plötzlich:
„Am Ende haben sie das Schiff längst drüben gefunden, und Ottilie ist schon daheim!“
Ganz erleichtert kehrten die Leuenhofer Kinder um.
Aber als sie im Städtchen anlangten, sahen sie in lauter erschrockene, traurige Gesichter. Jedes der Kinder lief heim, um zu erzählen. Dann aber trieb die Unruhe sie wieder hinaus. Auf dem Marktplatz beim Brunnen fand sich die ganze Leuenhofer Klasse zusammen. Die Buben berieten, wie man es hätte machen sollen mit dem Schiff.
,,Wenn wir dabei gewesen wären, so wäre es nicht so gekommen“, sagten ein paar Sechstklässler, worauf Netti aufs neue zu schluchzen begann.
Sara aber und die andern Mädchen verteidigten sie: „Ottilie hat selber das Seil locker gemacht!“
„Netti ist nicht schuld! Sie hat gehalten, was sie konnte, fast wäre sie noch mitgerissen worden!“
Jedesmal, wenn wieder Leute den Seckelweg heraufkamen, liefen die Kinder und die Erwachsenen, die unter der Türe standen, hinzu; aber keiner wusste etwas. Nur das erfuhr man, dass Herr Schwarzbeck und der Vater von Ottilie auch gegen Woltersheim hinunter seien. Herr Eggenberg habe gezittert und kein Wort geredet. Er hatte eine grosse Bäckerei und war sonst ein aufrechter, fröhlicher Mann.
Endlich gegen acht Uhr verbreitete sich eine Schreckenskunde: Es sei ein Bub gekommen aus der Nähe vom Sperberwinkel. Man habe Ottilie gefunden, aber wahrscheinlich tot. Die Mädchen weinten laut auf. Die Buben sahen einander starr an. Man konnte es nicht fassen. Vor vier Stunden noch war sie vor der Klasse gestanden und hatte da mit ihrer frischen, hellen Stimme die Johanna Sebus noch einmal lesen dürfen:
„Der Damm zerreisst, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.“
Und jetzt wusste man nicht gewiss, ob sie noch lebe. Es trieb die Leuenhofer in die Mahlergasse, wo der Eggenbergische Bäckerladen war. Keines redete, nicht einmal Sara. Sie spähten durch die halboffene Türe. Es waren viele Leute im Laden. Sie sprachen halblaut mit Luise, der Magd. Ottiliens Mutter war nicht da. Die Kinder hörten einzelne Sätze heraus:
,, . . . Hinten in der Stube . . . Und wenn sie nur weinen würde . . . Aber ganz starr sieht sie vor sich hin und sagt nur von Zeit zu Zeit: Ottilie . . . Ottilie . . .“
Da entstand eine Bewegung auf der Strasse. Herr Eggenberg und Herr Schwarzbeck kamen daher mit ein paar Männern, die eine leere Bahre trugen. Scheu wichen die Leute, die sich angesammelt hatten, aus.
Die Leuenhoferkinder aber drängten sich zu Herrn Schwarzbeck. Er gab allen schweigend die Hand. Dann schien es, als ob er etwas überlege. Er trat zu den Männern und sprach ein paar Worte mit ihnen; hierauf winkte er seine Schüler herbei.
„Wir wollen“ – man sah, dass er Mühe hatte zu sprechen – „wir wollen zusammen unsere Ottilie holen.“
Er übersah seine Leute und erwählte acht von den Sechstklässlern. Netti aber sah ihn mit verweinten Augen flehentlich an.
,,Herr Schwarzbeck darf – darf ich auch mit?“
Herr Schwarzbeck strich Netti über den Kopf. „Also dann Netti, Eva Imbach und Hedwig Bühler. Ihr seid ja Ottiliens Freundinnen.“
Die Mädchen nickten still. Vier von den Buben aber fassten die Bahre, und der kleine Zug ging die Riedauer Stalden hinunter. Hintendrein Herr Schwarzbeck und Ottiliens Vater.
Kein Wort sprachen die beiden Männer. Nur wenn die Leuenhoferkinder sich umwandten, sahen sie, dass Herr Schwarzbeck die Hand manchmal auf Herrn Eggenbergs Schulter legte.
Gustav Brenner aber erzählte mit leiser Stimme den andern. Seine Schwester hätte es von dem Buben aus dem Sperberwinkel gehört: Die Botenfrau habe Ottilie gefunden; sie wohne in einem einsamen Häuslein im Rappenfeld. Sie habe auch Holz aus dem Wasser gefangen, und wie sie so weiter gekommen sei, habe sie auf einmal in dem halbüberschwemmten Weidengestrüpp ein umgestürztes Schiff gesehen. Sie sei darauf zugegangen und habe das Kind gefunden. Es sei zwischen dem Schiff und einem alten Weidenstamm eingeklemmt gewesen und habe eine grosse Wunde am Kopf gehabt. Und wie die Botenfrau es hervorgezogen habe, da habe sie gemerkt, dass es kaum mehr atme. Er sei gerade das Rappenfeldersträsschen heraufgekommen und sie habe ihm gerufen, er solle nach Heimstetten laufen und sagen, was da für ein Unglück begegnet sei. Das Kind gehöre wahrscheinlich nach Heimstetten.
Schweigend hörten die Leuenhofer Buben und Mädchen zu. Es war nun fast völlig dunkel geworden. Am Himmel zogen schwarze, seltsame Wolkenfetzen dahin, und rechts unten hörte man die Illig brausen. Der Weg war schlecht; jeden Augenblick trat eines der Kinder in eine Lache, dass das Wasser hochaufspritzte. Wie hätte man sonst darüber gelacht und geschrien; aber jetzt war alles so traurig, so unheimlich.
Endlich kam man zu dem kleinen Haus der Botenfrau, das ganz einsam im Rappenfeld lag. Ein schwaches Licht schimmerte vom Fenster. Herr Schwarzbeck drückte auf die Klinke. Das Haus war nicht geschlossen. Still traten die beiden Männer in den dunkeln Raum ein bis zu einer Türe, aus der ein kleiner Lichtschein drang.
Herr Schwarzbeck sagte leise ein paar Worte zu Ottiliens Vater; dann klopfte er an.
„Herein!“ rief drinnen eine tiefe Stimme. Herr Schwarzbeck öffnete. Die Kinder, die die Bahre vor das Haus gestellt hatten, traten scheu hinter den zwei Männern in die Stube.
Eine grosse, starke Frau mit grauem Haar drehte sich um; sie war eben daran ein Tuch auszuwinden über einer Waschschüssel, die neben der Lampe auf dem Tisch stand. Und auf dem Bette lag Ottilie; ihr Gesicht war von der Lampe beleuchtet; ihre nassen Zöpfe lagen über dem blau und weissen Kopfkissen.
Beklommen sahen die Kinder hin – aber jetzt! Nein! war es möglich – sah man recht – jetzt schlug Ottilie die Augen auf und sah nach den Eintretenden.
Fast erschrocken schrien die Kinder auf: „Ottilie!“ Und „Ottilie!“ rief auch der Vater und stürzte gegen das Bett und kniete, um ganz nahe zu sein, nieder und streichelte sein Kind über das nasse Haar, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, dem starken Mann, der gewiss seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte.
Herr Schwarzbeck trat auch herzu: „Gott sei Lob und Dank! Kind, Kind“, sagte er, „welchen Schrecken haben wir um dich gehabt!“
Ottilie sah Herrn Schwarzbeck und versuchte zu lächeln. Dann aber ging ein schmerzliches Zucken über ihr Gesicht und sie schloss die Augen wieder.
„Ja“, sagte jetzt die Botenfrau „und wie bin ich erschrocken, als ich das Kind fand und es aufrichten wollte und es kein Lebenszeichen gab. Die Augen zu und ganz kalt! Da ist wohl keine Hilfe mehr, habe ich gedacht und als ich den Buben sah, hab ich ihn mit der Botschaft geschickt.“
Sie wechselte, während sie mit halblauter Stimme erzählte, das nasse Tuch auf Ottiliens Kopf. Da sah man die tiefe Wunde, die quer von der Schläfe nach vorn lief und aus der noch das Blut sickerte.
„O, o“, sagte Ottiliens Vater erschrocken. ,,Armes Kind! Aber ich hab dich wieder. Gott, o Gott! Ich hab dich wieder!“
Ottilie schien nicht zu hören, was gesprochen wurde; sie lag bewegungslos, wie im Schlaf.
„Ja“, fuhr die Botenfrau fort, „es ist mir leid. Sie haben etwas ausgestanden.“ Sie streckte Ottiliens Vater die Hand hin. „Es wäre besser gewesen, ich hätte den Buben nicht gleich geschickt; aber was tut man nicht im Schrecken. Erst, wie ich es in der Stube gehabt habe – Herrjeh, wie hing es mir doch so leblos über der Achsel beim Tragen – triefend und ganz kalt. Dann in der Stube merkte ich, dass das Herzlein doch noch schlug. Aber der Bub war schon weit und ich hatte niemand zum Schicken. Die längste Zeit kommt manchmal kein Mensch vorbei, und ich selber habe nicht wegkönnen. Es ist mir leid. Es wird auch eine Mutter haben, das Kind?“
„Ja, wahrhaftig“ sagte Herr Schwarzbeck, „die Mutter, und fast hätten wir sie vergessen ob der Freude und dem Staunen.“ Er winkte den Kindern. Sie folgten ihm alle hinaus. Und in dem dunklen Vorraum konnten sie nun endlich ihrer Freude und allem, was sie bewegte, Ausdruck geben.
,,Herr Schwarzbeck! Wie das gewesen ist, wie wir in die Stube gekommen sind und gemeint haben, Ottilie sei vielleicht tot und sie dann auf einmal uns angeschaut hat. Ganz erschrocken ist man! Wie in einer schönen Beschichte, war es! wie im Schneewittchen! – Kann jetzt Ottilie lange nicht in die Schule? – Haben Sie gesehen, Herr Schwarzbeck, die Haare waren ganz blutig! – Wenn die Botenfrau sie nicht gefunden hätte, Herr Schwarzbeck, wäre sie dann gestorben?“ –
Aber Herr Schwarzbeck antwortete nicht. „Hans Kündig und Felix Kleinhans – ihr habt die längsten Beine. Lauft und sagt bei Eggenbergs, dass Ottilie lebt. Stürmt nicht die Treppe hinauf, sondern sagt es unten im Laden.“
„Ja, der Magd, der Luise“ rief Hans Kündig, indem er den Hut auf seinem Kopf festdrückte. Mit ein paar grossen Sätzen sprang er durch die Pfützen, Felix Kleinhans nach. Beinahe hätten die beiden einen Mann umgerannt, der in der Dunkelheit daherkam.
„Geht’s da zur Botenfrau?“ fragte er.
„Ja, ja“, riefen die Buben weiterrennend zurück. Gleich hinter den Bäumen ist das Haus“ –
Der Herr ging ein paar Dutzend Schritte weiter. Dann zündete er seine Taschenlampe an. –
„Herr Schwarzbeck“ –
„Herr Doktor“ –
Der Herr Doktor war auf die Kunde von dem Unglück dahergeeilt.
Die Leuenhoferkinder umringten ihn. Alle kannten ihn. Ausserdem war er Evas Onkel.
„Herr Doktor, denken Sie“, „Onkel denk“, bestürmten sie ihn und alle riefen und redeten durcheinander. Aber das verstand der Herr Doktor doch, dass gottlob Ottilie nicht tot war, und das war die Hauptsache.
Rasch ging er mit Herrn Schwarzbeck in die Stube der. Botenfrau. Die Leuenhoferkinder blieben im Vorraum, der nur spärlich erhellt war durch eine kleine, alte Stallaterne. Die Buben und Mädchen fanden allerlei Sitzgelegenheiten: eine Bank, einen Schubkarren, einen Sack Kartoffeln und schwatzten da weiter von der so ganz wunderbaren Begebenheit und was sie gedacht und nicht gedacht hätten.
Netti Tobel aber, die sich wieder ganz erholt hatte von Schrecken und Tränen, hielt das Stillitzen nicht aus, sondern zündete mit der Laterne überall herum und machte eine Türe, die zu einem kleinen Stall führte, auf, wo sie zu ihrer Freude in einer Kiste Kaninchen entdeckte. Sie waren eng aneinander gekauert und blinzelten mit ihren roten Augen in das Licht, ängstlich und erstaunt; denn sie hatten schon geschlafen.
Dann kamen der Herr Doktor und der Herr Schwarzbeck heraus.
,,Kinder! wir dürfen Ottilie heimnehmen!“ rief Herr Schwarzbeck fröhlich. „Bringt die Bahre hier vor die Türe.“
Die Bahre! Ottilie auf der Bahre heimtragen, die wiedergefundene Ottilie! – Jeder wollte an der Bahre anpacken. Aber es fanden denn doch alle, dass man jetzt nicht hin und herstreite.
Der Herr Doktor trug Ottilie, die leise wimmerte; denn die Untersuchung der Wunde hatte weh getan. Hinter dem Herrn Doktor kam die Botenfrau mit Kissen und Decken.
„So, so“, sagte er, indem er behutsam Ottilie auf die Bahre bettete. „Noch ein Kissen und noch eins – Ganz weich und warm gebettet ist man jetzt, und wie eine Prinzessin mit grossem Gefolge kehrt man heim.“
„Ja, jetzt ist’s genau wie im Schneewittchen“, flüsterte Netti der Hedwig Bühler zu und schwenkte die Stallaterne, die die Botenfrau mitgab. Eva durfte Onkel Doktors Taschenlampe tragen. Die beiden Mädchen gingen mit ihrer Beleuchtung voran. Vier von den Buben trugen die Bahre behutsam und stolz. Die Botenfrau ging auch noch ein Stück neben Ottiliens Vater her. Sie wollte von Dank gar nichts wissen.
„Wenn Sie nur nicht bös sind, dass ich Ihnen so Angst gemacht habe“, sagte sie immer wieder.
Aber wie hätte Herr Eggenberg böse sein können, wo er so glücklich war!
„Nun so kommt jetzt gut heim!“ sagte sie an der Wegecke. „Und in den nächsten Tagen schaue ich dann, wie es geht. Es ist mir ganz ans Herz gewachsen, das Kind.“
Als man an die Stelle kam, wo der Weg etwas aufwärts und ziemlich nahe an der stark brausenden Illig vorbeiführte, horchte Ottilie auf.
„Vater, Vater, o“ – schrie sie auf. Aber der Vater nahm ihre Hand.
„Nein, nein, Ottilie, das Wasser tut dir nichts mehr. Jetzt sind wir bald bei der Mutter, – bald bei der Mutter.“ –
Ottilie legte den Kopf auf die Seite und versank wieder in ihren Halbschlaf.
So ging es durch Nacht und Nässe und am schwarzen Himmel zogen noch die zerfetzten Wolken wild über den Mond weg.
Nun sah man schon die Lichter des Städtchens; man kam zu den ersten Häusern.
„Sie kommen! sie bringen es!“ hörte man rufen.
Die Freudenkunde, die Hans Kündig und Felix Kleinhans gebracht, hatte sich schon verbreitet im Städtchen. Überall standen Gruppen von Leuten. Die Männer nahmen die Pfeifen aus dem Mund, und die Frauen schlugen die Hände zusammen. „Nein, nein! Was man auch erlebt!“ Und alles wollte herantreten. Aber der Herr Doktor wehrte ab.
„Halt da! Lasst unser Kind in Ruhe! Es will heim zu seiner Mutter und in sein Bett. Ihr könnt es dann die nächste Woche ansehen, wenn es hoffentlich wieder munter in die Schule läuft. Geht jetzt hinein und esst eure Suppe, sonst wird sie kalt.“
Die Leute lachten. Sie hatten ihren Doktor gern.
Der Zug ging weiter und wurde gegen den Marktplatz hin immer etwas grösser; ein bisschen hintendrein gehen durfte man ja schon; das schadete dem Kind nicht.
Und dann kam man vor der Bäckerei an. Der Vater hob seine Ottilie von der Bahre und trug sie die Treppe hinauf und dann hörte man den Freudenschrei der Mutter:
„Ottilie, Kind! Mein Gott, mein Bott!“ – Und nun war es ganz still trotz der vielen Leute vor der Bäckerei; und die Frauen wischten sich die Augen.
Die Leuenhofer standen bei der Bahre. Netti und Eva hielten noch immer ihre Laternen. Die Bahre und die Laterne, das war das Zeichen, dass man dabei gewesen war und mitgeholfen hatte. Und die Leute betrachteten die Kinder auch ganz respektvoll und liessen sich genau erzählen, was im Rappenfeld vorgefallen war, von dem dunkeln Weg durch die Wasserlachen bis zu den Kaninchen, die Netti aufgeweckt hatte.
„Das ist anders als damals, wo wir das falsche Büblein brachten und alles uns auslachte“, sagte Eva, und die Buben und Mädchen lachten in der Erinnerung.
Da trat die Bäckers Luise aus dem Laden, die Schürze voll von grossen, mürben Kümmelbretzeln, die nirgends so gut waren wie bei Eggenbergs.
„So, das ist für die braven Träger und Begleiter! Und jetzt sollt ihr aber heimgehen, lässt Herr Schwarzbeck euch sagen!“
Netti drückte die zwei Bretzel an ihr Stumpfräschen:
,,So, jetzt riecht es wieder lustig!“ lachte sie. Dann aber fiel allen durch den Geruch der frischen Bretzel auf einmal ein, dass sie einen furchtbaren Hunger hatten, und sie rannten davon, jedes nach einer andern Seite.
Die grossen Leute verzogen sich dann auch und es wurde endlich still in dem Städtchen, das heute so viel Sorge, Schrecken und Freude erlebt hatte.