Читать книгу Die Leuenhofer - Ida Bindschedler - Страница 6
Die Kriegselefanten.
ОглавлениеAn der Strasse, die vom Wendeltor zum Leuenhof führte, stand ein kleines, rötlich angestrichenes Haus mit einem sehr grossen Garten. Es gehörte dem alten Herrn Konzelmann, der mit seiner alten Köchin da wohnte.
Der alte Herr besass einen weissen Pudel, der offenbar auch ziemlich alt war und deshalb die Kälte nicht mehr gut ertrug. Im Herbst und Winter erschien er zur grössten Belustigung der Leuenhoferkinder in einer abgetragenen Weste von Herrn Konzelmann. Oben auf dem Rücken war sie zugeknöpft, und durch die Armlöcher gingen die Vorderbeine.
Die Leuenhofer hätten gerne Freundschaft geschlossen mit dem weissen Pudel, und wenn er in seiner wunderlichen Schabracke vor der Türe sass, standen sie oft am Gartengitter und lockten ihn her: ,,Du hast aber einen schönen Winterrock, Hektor, komm, zeig!“
Hektor machte sich aber nichts aus Kindern; er blieb sitzen, und wenn sie dann anfingen, ihn ein wenig zu necken: „Eh, du bist aber ein Verfrorener, heut ist’s doch gar nicht kalt! – Aha, ein Westentäschchen hat er auch – vielleicht ist eine Uhr darin – ist es schon halb 12 Uhr?“ Wenn sie so riefen, dann sah er auf die Seite und gähnte und lachte wahrscheinlich: Ach, wie sind doch so Kinder dumm!
Er selber war sehr klug. Arnold Zwickels Grossvater, der den Garten von Herrn Konzelmann besorgte, sagte es oft. –
Ausser dem Pudel besass Herr Konzelmann sieben Schildkröten; diese interessierten die Leuenhofer Buben und Mädchen fast noch mehr als der Pudel. Wenn man sie nur öfter hätte sehen können. Aber in den Garten hinein durfte man nicht. Nur manchmal machte Arnold Zwickel, wenn er bei seinem Grossvater war, das hintere Gartentürchen auf und dann konnte man die seltsamen Tiere betrachten, die langsam mit ihren schweren, schwarz und gelb gefleckten Schalen über den kurzgeschnittenen Rasen spazierten oder unbeweglich auf einem Fleck blieben und nur ihren kleinen, glatten Kopf hin und her bewegten, so dass der lange, faltige Hals sichtbar wurde.
Einmal aber, an einem Mittwoch Nachmittag, als fast die ganze fünfte Klasse – die sechste war in der Riedau unten – auf dem Spielplatz beim Wendeltor versammelt war, kam Arnold Zwickel gelaufen.“
„Hört; jetzt sag ich euch etwas Feines: Herr Konzelmann ist auf drei Tage verreist, und da hat mein Grossvater gesagt, wenn ihr manierlich seid, so dürft ihr in den Garten kommen zu den Schildkröten!“
Die Buben und Mädchen liefen und traten zum hintern Gartentörchen herein!
Da waren alle sieben Tiere beisammen auf dem Gartenwege und wurden alsbald umringt von den Kindern, die niederkauerten, um die merkwürdigen Geschöpfe recht in der Nähe zu betrachten.
Hektor, der Pudel, der in dieser warmen Jahreszeit ohne Weste ging, stand auch dabei.
Arnold Zwickel holte aus der Wiese ein paar Büschel Löwenzahnblätter und legte sie den Schildkröten vor die stumpfe Nase. Erst regten sie sich nicht. Dann fingen sie langsam an zu schnüffeln und packten auf einmal das Blatt, zogen es hin und her, bis sie es am rechten Zipfel hatten und bissen dann fest drein, so dass ein Blatt ziemlich bald verschluckt war.
,,Das ist zu nett, wie sie fressen“, riefen die Mädchen entzückt.
„Man darf sie schon aufnehmen“, sagte Arnold und bot eines von den Tieren seinem Freund Walter Adorf, der es behutsam anfasste. Nun gingen die Tiere von Hand zu Hand und wurden gedreht und gewendet. Unten waren sie ganz flach; und die Pfoten, wie die komisch aussahen!
Die Buben setzten eine hinter die andere wieder auf den Weg, und die Schildkröten machten ihnen das Vergnügen, ein wenig zu marschieren.
„Wie ein Zug von Elefanten“, sagte Martin Imbach.
„Ja, ja, wahrhaftig wie Elefanten!“
„Wenn wir Soldaten da hätten, dann könnten wir den Kriegszug von Pyrrhus darstellen“, sagte Martin.
„Den Kriegszug? – was für einen Zug?“ fragte Sara Wiebold, die zuvorderst am Boden sass und einer der Schildkröten zärtlich über die Nase strich, was das Tier aber nicht gerne hatte; denn es zog den Kopf in die Schale zurück.
„Den Kriegszug von Pyrrhus“, wiederholte Martin Imbach. „Pyrrhus war der König von Epirus.“
„Ja“, fiel Paul Grossberger ein, der das Geschichtsbuch des Martin Imbach besass und auch gelesen hatte; „der Pyrrhus kam mit einem grossen Heer und mit vielen Elefanten und wollte die Römer besiegen. – Imbach – wir holen unsere Soldaten – ich habe Russen und Japaner und du hast preussische Ulanen auf Pferden.“
„Und ich Franzosen und berittene Araber“, rief Walter Adorf – „das wird fein! Der Anführer ist auf einem Schimmel, Imbach! Der kann den Pyrrhus vorstellen –!“
„Ich bringe meine Bersaglieri, das sind Italiener, mit, die gehen im Laufschritt.“ „Und ich habe Zuaven“, riefen ein paar andere Buben und wollten schon davon rennen, als dem Paul Grossberger noch ein besonders feiner Bedanke kam: „Die Elefanten müssen Kriegstürme haben. Türme, auf denen Bewaffnete stehen und mit Pfeilen auf den Feind schiessen. Gritli Wegmann, lauf was du kannst. Dein grosser Bruder hat Knetmasse; er hat mir letzthin einen ganzen Klumpen gezeigt. Sag ihm, wir müssten Kriegstürme machen.“
„Famos! Famos!“ schrien die Buben und nun rannte fast alles dem Städtchen zu, voran Marie Hug in Begleitung von Sara Wiebold und von zwei andern Freundinnen. Nur einige Mädchen blieben zurück als Elefanten-Wärterinnen.
„Fortlaufen tun sie zwar nicht“, sagte Arnold Zwickel lachend; ,,sie sind viel zu träg dazu.“
Rasch waren die Buben mit ihren Russen, Japanern, Ulanen und Arabern wieder da, und auch die Mädchen erschienen im Laufschritt wie die Bersaglieri mit der Knetmasse.
Paul Grossberger und Martin Imbach hatten vier grosse Deckel von alten grauen Zeichnungsmappen mitgebracht. „Es muss doch ein Zug sein“, erklärten sie, „ein Zug, der vorwärts marschiert. Also wir stellen die Soldaten auf die vier Deckel und an den zwei vordern Ecken werden Löcher gebohrt und Schnüre festgemacht, damit man den Karton ziehen kann.“
„ Natürlich, damit man ziehen kann! Fein!“
Alsbald begannen die Buben ihre Soldaten aufzustellen, während Sara Wiebold und einige andere Mädchen unter Anleitung von Hermann Steininger die Kriegstürme herstellten. Sie wurden etwa handhoch und bekamen oben eine Plattform, auf der die Krieger Stellung zu nehmen hatten.
Es war nicht ganz leicht, den fertigen Turm auf den Schildkröten so anzubringen, dass er gerade stand. Zwar wehrten sich die Tiere nicht, sondern hielten geduldig still. Wenn schon es ihnen gewiss nicht angenehm war, dass man ihnen solch ein Zeug auf ihren Rücken klebte, und trotzdem ihnen Sara Wiebold, während sie die Brüstung der Plattform schön glatt drückte, erklärte, dass sie stolz sein könnten, nicht mehr nur Schildkröten zu sein, sondern Elefanten, „hört ihr, Kriegselefanten im Heere des Königs Pyrrhus.“
Am wenigsten einverstanden mit dem Unternehmen war der Pudel Hektor. Gespannt sah er zu, und als die Türme auf den Schildkröten befestigt wurden, knurrte er leise, wie wenn er sagen wollte, was macht ihr denn für Dummheiten; überhaupt die Schildkröten da gehören dem Herrn Konzelmann; geht ihr eurer Wege. Er legte die Pfote auf eine der Schildkröten und versuchte mit der Schnauze den dummen Höcker zu entfernen. Aber die Kinder schoben ihn lachend weg und arbeiteten mit grossem Eifer weiter an der Mobilmachung des epirischen Heeres.
Als Arnolds Grossvater mit einem Korb voll Unkraut daher kam, rannte ihm Hektor entgegen und bellte heftig:
„Sieh einmal, was die Kinder anstellen; das ist doch nicht erlaubt!“
Aber der Gärtner hatte seinen Spass an den zum Feldzug ausgerüsteten Schildkröten.
„Das schadet denen nichts Hektor; die sollen nur auch einmal etwas tun; so bekommen sie einen guten Appetit auf den Abend“, sagte er und ging wieder an seine Arbeit.
Endlich war das ganze Heer marschbereit. Auf dem ersten Karton befand sich die Vorhut. Ihr folgte der Gewalthaufe, angeführt von Pyrrhus selbst, der, umgeben von Generälen, stolz auf seinem weissen Schimmel daherritt. Hinter dem Gewalthaufen aber kamen die sieben Elefanten mit den Kriegstürmen, auf die man in Ermanglung von Bogenschützen russische Infanterie gestellt hatte.
Es machte einige Schwierigkeit, die Elefanten in Bewegung zu bringen. Und als man sie mit kleinen Ruten antrieb, wollten sie die Marschordnung nicht begreifen, sondern lenkten bald links, bald rechts vom Wege ab.
Schliesslich aber kam die Sache doch in Bang!
Imposant bewegte sich die Armee der Epiroten auf dem Gartenweg vorwärts.
„Schade, dass die Sechstklässler das nicht sehen!“ sagten die Buben, während sie stolz und sorgfältig die Kartendeckel zogen.
Da hörte man ein Rufen. „Imbach! Grossberger! Was tut ihr denn dort drinnen? Kommt doch her!“ erscholl es lauter und näher. „Soldaten! Drei ganze Kompagnien! Und der Hauptmann und noch andere auf Pferden! Sie kommen die Landstrasse an dem Hackenberg herab. Wenn man fest die Langwiese hinauf und durch den Wald rennt, kommt man ihnen noch gut vor.“
Die Fünftklässler sahen einander an. Rechte Soldaten mit dem Hauptmann auf einem wirklichen Ross – was bedeutete dagegen das zinnerne Pyrrhus-Heer auf den Pappdeckeln und die Elefanten, die gar keine waren.
„Ja, wenn ihr nicht kommen wollt, uns ist’s gleich“, riefen die Sechstklässler und ihre Stimmen tönten schon weiter weg.
„Doch, doch, wir kommen! Wir kommen auch!“
Einer hinter dem andern rannten die Fünftklässlerbuben zum Tor hinaus. In ihren Köpfen steckte nichts mehr als der Gedanke an die wirklichen, lebendigen Soldaten. Es war eine grosse Seltenheit, dass man solche in Heimstetten sah.
„So und jetzt das Heer und die Elefanten“, sagte Gritli Wegmann und schob den zweiten Elefanten, der in der Buxeinfassung schnüffelte, in die Reihe zurück.
,,Hört!“ rief Sara Wiebold und schwenkte entschlossen die grüne Rute, die sie als Elefantenführerin gebraucht hatte, „wir rennen auch zur Hackenbergerstrasse hinunter. Ich will die Soldaten auch sehen. Wer kommt mit?“ Schon war Sara am Gartentor.
„Ich, ich! Ich auch!“ riefen die Mädchen und jagten nacheinander der Landstrasse zu.
Gritli Wegmann besann sich noch einen Augenblick. Ach was, sagte sie dann, die warten schon bis wir wiederkommen. Arnold Zwickel hat ja gesagt, sie seien viel zu faul, um fortzulaufen. Du kannst sie ja bewachen, Hektor! lachte sie den Pudel an, der neben ihr stand; dann setzte sie in grossen Sprüngen auf die Strasse hinaus.
Gerade noch recht kamen die Fünftklässler an die Hackenbergerlandstrasse. Schon hörte man den festen, gleichmässigen Schritt Die Buben und Mädchen kletterten an dem steilen Hang zu dem Gebüsch hinauf, wo die Sechstklässler standen, und da übersah man prächtig die Landstrasse und den herannahenden Zug. Voran der Lieutenant und hinter ihm die sonnverbrannten Männer mit dem Tschako, mit ihren Gewehren über der Schulter und dem schwerbepackten Tornister.
Endlos, endlos zogen sie daher; immer neue Reihen bogen um die Ecke vom Hackenberg.
Und zwischen hinein ritt stolz ein Hauptmann. An der Hackenbergerlandstrasse hielt er das braune Pferd am Zügel, die Hand in die Seite gestützt, mit erhobenem Haupt frei über seine Truppe wegsehend.
„Herrschaft“, dachten die Buben, „wenn man auch so daherreiten könnte!“ Sie waren ganz benommen. Plötzlich aber machten sie ihrer Erregung Luft:
,,Hurra, hurra!“ schrien die Leuenhofer zusammen, die Mädchen mit. „Die Soldaten sollen hochleben“, fügte Ernst Hutter noch hinzu, der immer am besten wusste, was sich schickte. „Hoch! Hoch!“ schrien die Kinder zu dem Hohlweg hinunter.
Die Soldaten sahen lachend auf. Der Hauptmann strich seinen kleinen Schnurrbart und lächelte auch. „Rrrrührt euch!“ kommandierte er. Und nun kam Bewegung in die müden, erhitzten Leute. Der eine schob sich den Tschako aus der schweissbedeckten Stirne; der andere hakte den Riemen des Tornisters locker; viele legten die Flinte auf die andere Schulter. Und alle nickten lustig zu den Kindern hinauf. Da warf Gritli Wegmann den kleinen Eichenzweig, den sie am Busch gepflückt hatte, zu den Soldaten hinunter. Geschickt fing ihn einer auf und steckte ihn an seinen Tschako. Das war nett! Und nun fingen die Buben und Mädchen an zu pflücken und zu werfen und zu rufen, und die Soldaten streckten die Hand aus nach dem grünen Schmucke. Und der Herr Hauptmann liess es geschehen; er war froh, dass seine Soldaten, die seit dem frühen Morgen auf staubiger Strasse gewandert waren, nun wieder so munter wurden. Vorn fing einer an zu singen: „Ich hatt’ einen Kameraden“ – die andern fielen ein und alsbald die Leuenhoferkinder auch. Es klang voll und schön in den klaren Sommerabend hinaus. Unten die kräftigen Männerstimmen und oben die hellen der Mädchen und Buben.
,,Drei Röselein, drei Lilien, die pflanzt mir auf mein Grab . . .“ huben ein paar Soldaten an.
,,Das können wir nicht!“ warfen die Kinder ein.
„Also was für eins könnt ihr denn noch?“ riefen die Soldaten.
,,Wo Berge sich erheben zum hohen Himmelszelt . . .“ schlugen die Leuenhofer vor. „Das geht so schön im Takt!“
„Wo Berge sich erheben“, ertönte es voll und mächtig. Einige Soldaten sangen die dritte Stimme. Das klang wie tiefe Orgeltöne. Die Leuenhofer marschierten auf dem schmalen Fussweg oben mit. Jetzt machte die Strasse eine Biegung. Man sah weit hinaus ins Land über die grünen Hügel hin. Links lag das freundliche Dörflein Reppenbach und weiter hinten Fusslingen, und hinter den grünen Hügeln erhoben sich die Schneeberge still und schimmernd im Glanz des klaren Juniabends. Der Hauptmann deutete hinüber und den Soldaten schlug das Herz. Das war die schöne Heimat, das teure Vaterland, für das man den schweren Soldatendienst tat, und für das man in Gefahr und Tod ginge. Und die Buben und Mädchen spürten auch, dass es eine Freude und ein Glück sei, ein so schönes Heimatland zu haben.
„Jetzt wollen wir dann das Sempacherlied anstimmen“, sagte Ernst Hutter zu seinem Freunde Gustav Brenner. „Weisst du, wo’s dann heisst: „Erhaltet mir Weib und Kind, die eurem Schutz empfohlen sind . . . Da durchschauert’s mich allemal ganz. Weisst du, wenn man so denkt, dass er die Spiesse in sich hineingestossen, um sein Land zu retten – so etwas möchte man auch einmal tun können – gelt?“
Brenner nickte ernsthaft und dann stimmten die beiden das alte, wilde Sempacherlied an. Und wieder sang alles begeistert mit. Ein Lied folgte dem anderen. Weit, weit zogen die Buben und Mädchen mit den Soldaten durch das grüne Tal hinaus. Und zwischen den Liedern ging es lustig hin und her mit Fragen und Schwatzen.
Dann aber an der Ecke, wo die Dorfstrasse nach Reppenbach abzweigte, wendete sich der Hauptmann zu den Kindern:
,,Ja hört, jetzt wird’s müssen genug sein; in alle Nacht hinein könnt ihr nicht mitlaufen. Es ist höchste Zeit für euch, heimzugehen. Achtung, linksum kehrt!“ kommandierte er.
„Linksum kehrt!“ Das kannten die Leuenhofer aus der Turnstunde. Lachend gehorchten sie. Aber zu schade war’s, dass man sich trennen musste.
„Wenn wir nur mitkönnten nach Rumikon! Ja! und dort auch im Heu übernachten“, riefen die Buben.
„Und euch helfen die Suppe kochen“, riefen die Mädchen. „Griesssuppe oder Erdäpfelsuppe!“ Aber während die Mädchen lachend ihre verschiedenen Suppen vorschlugen, zogen die Soldaten weiter. Grüssend winkten sie noch zurück und immer wieder riefen die Kinder:
„Ade, lebt wohl, gute Nacht, ade!“ Dann ging’s heimwärts über die Hackenbergerstrasse zurück und durch den schon dämmerigen Wald zur Langwiese.
Auf einmal blieb Martin Imbach stehen. „Paul! Unsere Soldaten – die Schildkröten –.“ Paul sah den Freund verdutzt an; dann wandte er sich zu Marie Hug und Sara zurück. ,,Ihr habt doch die Schildkröten nicht nur so stehen lassen? Ihr habt doch selber wollen Elefantenwärter sein!“
„Ja“, erwiderte Sara, „ja, ihr habt euren ,Pirmus‘ oder wie er heisst, auch stehen lassen mit dem ganzen Heer.“
„Was redet ihr denn da von Elefanten und von einem ,Pirmus‘?“ fragten die Sechstklässler. Aber schon rannten Martin Imbach, Paul Grossberger, Arnold Zwickel und die andern Fünftklässler in weiten Sätzen davon. Es war ihnen plötzlich Angst geworden. Hätte man doch, bevor man weglief, die Schildkröten wieder in ihren Verschlag getan!
„Glaubst du, sie seien auf dem Gartenweg geblieben, Arnold?“
Wohl ein duzendmal wurde die Frage an Arnold Zwickel gerichtet.
„Ja, ja, ich glaube schon!“ sagte er, während er weiter rannte. Aber man merkte, dass ihm nicht recht wohl zu mute war. Wenn man etwas anstellte, verstand der Grossvater keinen Spass und erst Herr Konzelmann –.
Die Buben und Mädchen langten am Gartentor an, rissen es auf, stürmten über den Kiesplatz zum Seitenweg. Da – auf den Pappdeckeln stand unentwegt noch die ganze epirotische Armee, Pyrrhus auf seinem Schimmel, umgeben vom Generalstab. Aber die Elefanten waren verschwunden. Nur einzelne Trümmer der Kriegstürmchen und ein paar Bogenschützen lagen zwischen den Armeeabteilungen.
Bestürzt standen die Kinder da.
„Wir müssen sie suchen!“ sagte Arnold Zwickel. „Wir finden sie schon, Sie laufen nie weit fort.“ Er fuhr mit den Händen in die Buxeinfassung, der den Kiesweg vom Rasen trennte. Imbach und Grossberger, Sara und Marie Hug machten sich daran, den Rasen links und rechts zu durchsuchen.
„Nun, sucht! Sucht doch auch!“ rief Sara den andern zu, die im Wege stehen geblieben waren.
„Ja – wir müssen eigentlich heim“, erwiderten die.
„Heim – jetzt kann niemand heim; jetzt müssen wir die Schildkröten suchen.“
„Der Imbach und der Grossberger und der Adorf sollen suchen. Sie haben das Spiel ausgedacht.“
„Aber mitgemacht habt ihr auch!“ rief Paul Grossberger aufgebracht herüber. „Das ist überhaupt fein, das, sich so herauszuziehen, wenn etwas begegnet.“
Es wäre jetzt der schönste Streit entstanden, wenn nicht der Grossvater Zwickel daher gekommen wäre mit seiner Hacke über der Schulter. Er hatte die ganze Zeit hinten im Gemüsegarten gearbeitet und wollte jetzt Feierabend machen. „Ja, seid ihr noch da!“ sagte er erstaunt. „Jetzt packt aber euer Soldatenzeug zusammen und tut die ,Elefanten‘ in ihren Stall. Und ihr dort, kommt mir aus dem Rasen heraus! Arnold!“
„Wir – wir suchen die Schildkröten“, stotterte Arnold und stieg langsam aus dem Rasen. „Wir waren – wir waren ein wenig fort, weil“ – er stockte bei jedem Wort und hob abwehrend den Ellbogen; der Grossvater hatte, wenn es darauf ankam, noch eine feste Hand.
„Ja, weil wir die Soldaten auch sehen wollten“ – nahm jetzt Sara das Wort – „die lebendigen! wissen Sie, Herr Zwickel; es waren gewiss tausend, und ein Hauptmann war dabei auf einem so netten braunen Rösslein; es war hellbraun.“
Arnold war erleichtert. Bei Sara Wiebold ging das Reden immer wie an einem Rädchen.
Aber der Grossvater Zwickel unterbrach Sara; es war ihm ganz gleich, ob das Rösslein des Hauptmanns hell oder dunkelbraun gewesen und dass die Blechschüsseln so lustig ausgesehen hätten auf den Tornistern und die Mäntel darüber zu einer Wurst gerollt. –
Er wollte nur wissen, wo die sieben Schildkröten des Herrn Konzelmann hingekommen seien und zankte die Kinder ganz gehörig wegen ihrer Gedankenlosigkeit. –
„Hätt ich euch nur nie hereingelassen. Vorwärts! Die Tiere müssen gefunden sein, bevor es dunkelt. Geh um’s Haus herum, Arnold, zu den Portulakbeeten. Oder vielleicht bei der Remise. Vielleicht sind sie gescheiter gewesen als ihr und haben selber ihren Verschlag gesucht?“ –
Alles suchte; der alte Zwickel am eifrigsten.
Aber weder im Portulak, noch in den Nelken, weder bei der Remise, noch beim Gartenhäuschen waren die Schildkröten zu finden. Hektor kam auch herzu; er wedelte mit dem Schwanz und sah den alten Zwickel mit seinen klugen Augen an.
„Die Schildkröten suchen wir“, sagte er zu Hektor. ,,Weisst du vielleicht etwas von den Schildkröten?“
Hektor sprang an dem alten Zwickel auf; aber reden konnte er halt nicht.
Man suchte und suchte. Ein über’s andere Mal musste Zwickel die Kinder mahnen, den Rasen nicht so zu zertreten.
Es fing an zu dämmern. Am Gartentor erschien der Bruder von Gritli Wegmann und die Schwester von Paul Grossberger.
Heimkommen sollen sie zum Nachtessen. Was sie denn so lang zu tun hätten.
„Ich muss auch heim, ich auch! Mein Vater wird immer bös, wenn man nicht beim Abendessen ist“, erklärten jetzt die andern Buben und Mädchen.
„So geht!“ sagte der alte Zwickel. Er war sehr ärgerlich. „Jetzt, wo’s dunkelt, finden wir sie nicht mehr! Ihr habt mir etwas Schönes angestellt. Wenn morgen abend der Herr Konzelmann heimkommt und die Schildkröten sind nicht da. Ich darf gar nicht daran denken; der kommt in einen Zorn! Er ist im stand und kündet mir den Dienst. Wie hat er vor zwei Jahren getan, als der Sturm die Treibhausfenster zerschlug. Geht jetzt! Geht! Ich wollte, ich hätt euch den ganzen Nachmittag nicht gesehn. Ich alter Narr!“
Die Buben packten verlegen ihre Soldaten zusammen und verliessen Herrn Konzelmanns Garten. Trotz eiligem Gehen wurde doch noch geschwatzt und beraten. Wo die Schildkröten nur hingekommen waren! So langsam wie sie marschierten. Hatte sie am Ende jemand gestohlen?
„Ja, das könnte wohl sein!“ meinte Sara; dann stand sie einen Augenblick still und klopfte mit der Faust in die Hand; „mir fällt etwas ein. Wie wir die Kriegstürme machten, stand vor dem Garten ein Bub, ein ganz fremder; mit schwarzen Augen. Gewiss hat der die Schildkröten genommen. In einem Buch von meiner Schwester steht, dass solche Buben – man heisst sie Savoyarden – mit Murmeltieren im Land herumziehen und dann gibt man ihnen Geld. Vielleicht wollte der Bub mit den Schildkröten herumreisen. Er hatte so schwarze Augen.“
Die andern lachten. Was Sara immer alles wusste! Aber gleich wurden sie wieder ernsthaft. Das war doch eine böse Sache. Und der alte Zwickel, der sonst ein so guter Mann war, tat ihnen leid. Sie hätten wirklich nicht weglaufen sollen.
Am andern Morgen sprangen alle Fünftklässler Arnold entgegen, der spät kam. Hat man sie gefunden? Sag! Sind sie wieder da?“
Aber Arnold schüttelte betrübt den Kopf. Die ganze Nacht, erzählte er, habe sein Grossvater nicht geschlafen, und vor fünf Uhr schon sei er hinaus in Herrn Konzelmanns Garten und habe gesucht und gesucht. Aber vergebens. Er habe auch in der Nachbarschaft gefragt. Aber niemand habe etwas von den Schildkröten gesehen.
Herr Schwarzbeck war sehr ungehalten, als er die Geschichte vernahm. Er machte während des ganzen Morgens ein strenges Gesicht.
Und jetzt waren die Sechstklässler auch böse über die Fünftklässler. Sie hätten noch recht viel von den Soldaten reden wollen und Herrn Schwarzbeck erzählen, und nun dachte alles nur an die dummen Schildkröten.
In der Pause berieten Martin Imbach, Paul Grossberger und Walter Adorf zusammen. „Es wäre doch schrecklich, wenn der alte Herr Zwickel seine Stelle verlieren würde wegen uns.“
„Wenn es nur nicht sieben wären“, sagte Walter. „Zwei wüsste ich. Sie gehören meinem Vetter in Amrikon. Wenn er mir sie gäbe gegen eines von meinen Kaninchen. – Am Sonntag könnte ich hingehen.“
Die drei Buben sahen sich an. Heute war erst Donnerstag. Und bloss zwei, statt sieben.
„Wenn wir Geld zusammenlegen würden – alle, die mitgemacht haben? – Ich könnte vierzig Rappen bringen. Und du, Imbach? Was kostet wohl eine Schildkröte?“
„Ja, und wo kann man sie kaufen? Imbach, vielleicht weiss dein Vater es.“
Eva und Martin Imbachs Vater war Direktor der Baumwollfabrik in Groppen. Er hatte früher grosse Reisen gemacht und wusste viel von fremden Völkern und Tieren. –
Man teilte Arnold den Plan mit, dass er beim Mittagessen mit seinem Grossvater davon rede. Aber als die Buben ihn vor zwei Uhr wieder beim Wendeltor trafen, erzählte er, der Grossvater habe nichts wissen wollen davon. Es nütze nichts. Der Herr Konzelmann kenne feine Schildkröten genau.
Er wisse gar nicht, wie er ihm unter die Augen dürfe heut abend. Um sieben Uhr komme er von der Bahn.
Die Nachmittagsschule verlief ebenso trübselig wie der Vormittag, und auf der Langwiese wollte am Abend unter den Fünftklässlern kein rechtes Spiel entstehen. „In einer Stunde kommt er“, sagte Walter Adorf, als es sechs Uhr schlug. Alle wussten, dass er Herrn Konzelmann meine und stellten sich vor, wie es jetzt dem Grossvater Zwickel immer ängstlicher zu mute werde. Und eigentlich waren sie schuld an der ganzen Sache. Es war doch fast unerträglich jetzt, so dazustehen, ohne etwas ändern zu können.
„Ich weiss schon, was wir eigentlich tun sollten“ – sagte Martin Imbach – „aber es wäre schrecklich widerwärtig. Wir müssten, bevor Herr Konzelmann Arnolds Grossvater sieht und bös werden kann, ihm die ganze Sache erzählen und abbitten.“ –
„Dann geht es aber über uns los“, entgegneten einige.
„Ja nun, dann müssten wir es halt haben.“
„Also, Imbach, dann mach du’s. Wir gehen alle mit dir zum Bahnhof. Und wenn Herr Konzelmann aus dem Zug steigt, so hältst du ihm eine Rede.“ –
Martin Imbach sah verlegen drein. Er war ein braver Bub und hätte gerne etwas getan für den Grossvater Zwickel. Aber so vor Herrn Konzelmann hintreten, den er gar nicht kannte –
„Wenn man Sara Wiebold, dazu nähme“ – schlug Walter Adorf vor.
„Ja, ja, Sara Wiebold“, rief alles. Und wenn sie nicht mehr weiter weiss, muss Marie Hug helfen. Die beiden können weitaus am besten schwatzen. Herr Schwarzbeck sagt es immer.“ –
Aber die beiden Mädchen fanden den Auftrag unheimlich. Sie schüttelten den Kopf:
„Nein! Auf den Bahnhof wollen wir schon mit. Aber reden muss einer von den Buben. Ihr sagt ja immer, Buben seien tapferer.“
Da ertönte vom Wendeltor her ein lautes Rufen.
„Juhu! Imbach! Grossberger! Sie sind wieder da! Juhu!“ Es war Arnold Zwickel, der in gestrecktem Galopp daherschoss.
Alle Kinder rannten ihm entgegen:
„Nein! Sag! Alle sieben! Wo sind sie denn gewesen? Wer hat sie gehabt? Saras fremder Bub mit den schwarzen Augen? Sind die Kriegstürme noch drauf?“
„Ja, alle sieben! Nein, nicht Saras fremder Bub – der Hektor“ – Arnold musste aufschnaufen.
Es war eine ganze Geschichte; die konnte man nicht so schnell erzählen. Und eigentlich musste Arnold gleich zum Grossvater zurück.
„Wir begleiten dich! Wir begleiten dich!“ riefen alle, im höchsten Grade gespannt und drängten sich alle um Arnold Zwickel, während er wieder den Weg zu Herrn Konzelmanns Haus nahm.
„Also die Geschichte war so: Der Grossvater hatte am Nachmittag zu suchen aufgehört; denn es war gar keine Aussicht mehr, die Schildkröten zu finden. Er rechte den Kies, damit doch Herr Konzelmann die Wege glatt finde. Da hörte er drunten beim Flurbachacker herauf den Hektor so sonderbar bellen. Der Hektor war schon den ganzen Vormittag so seltsam gewesen. Immer wieder stellte er sich vor den Grossvater Zwickel hin, schüttelte die langen Ohren und machte ein paar Sätze rückwärts, wie er es tat, wenn er wollte, dass man mit ihm gehe. Schliesslich habe er seinen Freund geholt, den Dachshund vom Gerbermeister Brassler. Er heisst Wackel und geht oft mit Hektor spazieren. Die beiden gingen dann etwa in den Hof vom Metzger Neufanger, wo es immer etwas zu riechen gab, oder in die Gerbe hinunter, wo jedesmal die fünf Gänse ihnen mit gestreckten Hälsen und zornigem Zischen entgegen kamen. Das machte den beiden Spass, und Wackel trieb sie allemal unter lebhaftem Gebell in die Flucht. Heut nachmittag aber hörte der Grossvater Zwickel die beiden Hunde immer unten beim Flurbachacker. Bald ertönte Wackels scharfes Gekläff, bald Hektors tiefe Stimme. Hektor bellte sehr selten.
Er muss da etwas ganz Besonderes haben, dachte der Grossvater Zwickel und stellte seinen Rechen weg, um nachzusehen. Die beiden werden doch nicht etwa ein Häslein erjagt haben, oder gar ein Huhn! Der Wackel, der hat immer solche Streiche im Kopf. Das fehlte jetzt noch! Der Grossvater beeilte seine Schritte. Der Flurbachacker lag unten am Bach; er gehörte Herrn Konzelmann, und früher hatte Grossvater Zwickel da unten Kartoffeln und Gemüse gepflanzt; in den letzten Jahren war er nicht mehr bebaut worden.
Wie der Grossvater Zwickel da herunter kam, standen die beiden Hunde vor einer Grube, die halb mit Brettern zugedeckt war und schauten hinein.
Und da – der Grossvater traute seinen Augen nicht – da drunten lagen die Schildkröten, alle sieben Schildkröten!“
„Und wisst ihr,?“ schloss Arnold seinen Bericht, „wisst ihr, wer sie da hineingetan? Der Hektor! Der Grossvater weiss ganz bestimmt, dass es der Hektor war: Belt, Grossvater?“ rief er durchs Gartentor hinein. Denn man war jetzt bei Herrn Konzelmann angekommen.
„Ja, ja, der Hektor war’s!“ nickte der Grossvater. Er sah so vergnügt aus, dass die Kinder sich wohl getrauten mit Arnold in den Garten einzutreten.
Hektor stand beim alten Zwickel. Er trat den Kindern langsam entgegen und knurrte leise, wie wenn er sagen wollte: „Dass ihr mir nicht noch einmal hinter die Schildkröten geht!“
„Ja, der Hektor!“ lachte der alte Zwickel. „Ich bin ganz sicher. Es kann niemand sonst gewesen sein. Er hat früher die Gewohnheit gehabt, alles, was er erwischte, da unten in der Grube zu verstecken. Einmal war’s ein Häslein, da hat er schön Schläge bekommen; ein andermal war’s eine Ringelnatter oder auch bloss eine Maus. In den letzten Jahren hat er’s nie mehr getan.
Wie er aber gestern die Schildkröten da im Weg gesehen hat, mit dem seltsamen Zeugs auf den Rücken und inmitten der Soldaten, wird er gedacht haben, das sei nicht in Ordnung und das gehöre sich nicht, so gehe man nicht um mit den Schildkröten von Herrn Konzelmann und er müsse sie irgendwo in Sicherheit bringen. In ihren Verschlag in der Remise hat er sie nicht tun können; die Türe war zu. Da ist ihm die Grube eingefallen. Ja, ja Hektor, das war ein Streich! Ich habe eine schöne Angst ausgestanden!“
Er drohte dem Hund mit dem Finger, und die Kinder machten sich auch an Hektor, um ihn zu schelten und zugleich zu streicheln. Wie waren sie froh, dass die böse Sache sich so gut gelöst hatte und dass Herr Konzelmann Arnolds Grossvater nicht zanken würde.
Eine Menge von Fragen hätten sie zu stellen gehabt. Ob das nicht unangenehm gewesen sei für die Schildkröten, so in Hektors Maul davon getragen zu werden und dann in die Grube zu plumpsen und da die ganze Nacht und den Tag ohne Futter zu sein.
„Ja, lustig war es wahrscheinlich nicht; aber geschadet hat es keiner. Bloss Klumpen von euren Kriegstürmen sind noch an ihnen hängen geblieben und ein paar von den Schützen. Die liegen noch in der Grube und haben gespürt, wie’s im Krieg zugeht. Aber jetzt macht euch davon! sonst kann ich noch einmal zu rechen anfangen!“
Es war die höchste Zeit, dass die Buben und Mädchen verschwanden. Aus dem Städtchen heraus sah man Herrn Konzelmann kommen mit der Reisetasche in der Hand. Hektor lief ihm entgegen und sprang an ihm auf; aber reden konnte er halt nicht und die Schildkröten, die Herr Konzelmann am späten Abend noch in ihrem Verschlag besuchte, konnten es erst recht nicht. –