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Kinder- und Hausmärchen aus Tirol

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Vorrede zur ersten Auflage.

Fr. Lentner schreibt in seinen »Geschichten aus den

Bergen«: »Die Zeit ist nicht mehr ferne, wo das Märchen

selbst zum Märchen geworden sein wird und

man sich erzählt, daß es Sagen gegeben habe. Seit

ihre Überlieferung eine schriftliche geworden ist, geriet

ihr eigentlicher Lebenssaft ins Stocken; – das

Lesen macht den Erzähler überflüssig; dabei verstummen

aber auch die letzten Wissenden und dem, der

nicht liest, geht sein lebendes Buch verloren, dessen

Inhalt gewiß nicht einmal vollständig gerettet wurde

ins Gedruckte. Der deutsche Bauer unserer Tage, trotz

seiner Schulkünste, um wieviel weniger weiß er nicht

von jenen Geschichten, Schnurren, Sprüchen und

Märchen, die ihm in erfreulicher, leichtfaßlicher Form

eine Menge leichtfaßlicher Lehrsätze, nutzbare Moral

und echte Volksweisheit an die Hand gaben? – Je seltener

ein wirklicher Geschichten- und Sagenbesitz

beim Landvolk geworden, desto schätzbarer ist das

Wenige, was einzelne Gegenden unter manchen äußeren

und inneren Begünstigungen noch heute bei frischem

Leben erhalten haben.«

Was in dieser Stelle einer meiner geehrtesten

Freunde im Jahr 1851 niederschrieb, schwebte mir

vor, als ich im Jahre 1843 meine Sammlung der

Sagen, Märchen, Volkssprüche etc. begann. Mein

herrliches Vaterland schien mir einer der gesegneten

Winkel zu sein, in dem noch mancher Schatz ruht, der

anderswo nicht mehr zu finden ist. Die echte Volkspoesie

klingt noch in den Bergen und Sagen, die in

andern Ländern lange schon verschollen sind, tönen

noch in unsern von Eisgebirgen umfriedeten Tälern.

Wie sich in unsern Dialekten mittelalterliche Formen

und Redensarten, die wir in den mittelhochdeutschen

Dichtungen lieb gewonnen haben, zahlreich

wieder finden, so wandern noch häufig Sagen und

Märchen im Munde des Volkes, die mit den Götterund

Heldensagen unserer Vorfahren in engster Verwandtschaft

stehen und auf manche dunkle Stelle unserer

alten Dichtungen helle Schlaglichter werfen.

Wie in den Gebirgsländern sich ein festes Anklammern

an das Althergebrachte zeigt und heutige Sitten

noch von d e m Zeugnis geben, was einst in uralter

Zeit gebräuchlich war, so haben sich in unsern Gebirgen

noch Gewohnheiten und Gebräuche erhalten, die

in der Ebene lange schon vergessen und begraben

sind. Wenn aber heute noch ein altes Lied erklingt, so

steht uns niemand Bürge, ob es morgen auch erschallen

werde; wenn heute eine alte Kindsmagd den lauschenden

Kleinen noch ein Märchen erzählt, sind wir

nicht gesichert, ob morgen die alte Dichtung mit der

Erzählerin nicht zu Grabe gehe. Die alte Zeit ver-

schwindet und mit ihr drohen auch ihre Blüten zu

welken und zu verdorren. Je rascher ein neuer Geist in

die Entwicklung des Lebens greift, desto schneller

werden uns die alten Schätze entrückt. Wer steht

dafür, daß unsere einheimischen Volksdichtungen

noch blühen und das Herz erfreuen werden, wenn die

Dampfwagen durch unsere Täler brausen werden und

das bisher Ferne uns nahe liegen wird? Wir können

und dürfen uns derartige Gedanken nicht verhehlen

und müssen sammeln, so lange es noch Abend ist, –

denn sonst dürfte die Reue zu spät kommen, wenn ein

späterer Sammler anstatt der Rosen nur mehr dürre

Halme und stachlichte Hagenbutten finden würde.

Diese Gedanken leiteten mich, als ich meine

Sammlung begann, dieselben erfüllten mich jetzt, da

ich das erste Bändchen meiner Lese in die weite,

fremde Welt sende. Es enthält die Kinder- und Hausmärchen

Tirols, die kindlichen, zarten Dichtungen,

die den Kindern erzählt werden oder die man sich an

langen Winterabenden mitteilt, wenn in getäfelter

Stube das Kienscheit flammt, der Mond durchs Fenster

schaut und die traulichen Räder schnurren. Das

Bändchen zählt 40 solche Kinder unserer Volksmuse.

Es gibt deren wohl ungleich mehrere in unsern Bergen,

allein wir finden sie schon in andern Märchensammlungen

erzählt und deswegen ließen wir sie aus

dem Spiele. Wir haben nur solche Märchen aufge-

nommen, die man in derselben Gestalt in andern Büchern

nicht findet. Dieses hindert uns aber nicht, Erzählungen,

die mit bereits gedruckten Märchen verwandt

sind, aber sich doch durch einzelne Züge davon

unterscheiden, aufzunehmen. Wir haben es sogar

zweckmäßig gefunden, ein und dasselbe Märchen, das

aber in verschiedenen Teilen Tirols verschieden erzählt

wird, in den verschiedenen Fassungen den Lesern

mitzuteilen. Ein Beispiel dieser Art mögen uns

die Märchen »Zistl im Körbel«, »Die drei Schwestern

« und »Das Hennenpfösl« bieten. Stammärchen

ist in allen dasselbe, das eine Thema hat drei Variationen

erhalten und es ist nicht uninteressant, diese

feinen Unterschiede in der Darstellung zu verfolgen.

Das Mütterchen in Passeier erzählt »Das Hennenpfösl,

« die alte Kindsmagd in Meran »Die drei

Schwestern« und bei Bozen hört man »Das Zistl im

Körbel.« –

Was die Darstellung der mitgeteilten Märchen betrifft,

so beflissen wir uns die volkstümliche Erzählungsweise,

so viel als möglich war, beizubehalten.

Mit einer fast kindlichen Pietät bestreben wir uns,

jede fremde Zutat selbst dort ferne zu halten, wo uns

die Erzählung lückenhaft schien. Wir wollen das

Empfangene treu in jener Gestalt wieder geben, in der

wir es empfangen haben. Dies Streben, den Volkston

treu beizubehalten, wird manche Provinzialismen, die

wir geflissentlich einwoben, entschuldigen und rechtfertigen.

Sollte einer unserer Leser um die Quellen

fragen, aus denen wir schöpften, so müssen wir ihn

treu und aufrichtig gestehen, daß wir nur e i n e Quelle,

d i e T r a d i t i o n d e s V o l k e s , benützten.

Möge dieser erste Band unsers Sammelwerkes die

Jugend erheitern, das Volk unterhalten und dem Forscher

eine willkommene Gabe sein! – Sollte dieser

Wunsch erfüllt werden, so werden wir mit doppeltem

Eifer an die Fortsetzung unsers Werkes gehen, dessen

nächstfolgende Bändchen die Sagen, Volkslieder,

Schnaderhüpflen, Rätseln und Sprichwörter unseres

Volkes bringen werden1.

Am Schlusse dieser Vorrede wende ich mich an die

Freunde der Volksdichtungen und der alten Volksgebräuche

in unsern Bergen mit der Bitte, die Reste der

Volkspoesie und Volkssitte zu sammeln und uns mit

ihren Spenden zu beehren. Nur vereinten Kräften und

einem aufrichtigen Zusammenwirken wird das begonnene

Werk gelingen, dem jeder unparteiische Forscher

seine Anerkennung zollen wird. Zum Schlusse meinen

wärmsten Gruß allen Freunden unserer Heimat und

ihrer Bewohner.

I n n s b r u c k , den 30. Januar 1852.

Ignaz Vinc. Zingerle.

Fußnoten

1 Als Fortsetzung dieser Sammlungen sind erschienen:

Kinder- und Hausmärchen. Regensburg, (II. Bd.)

Fried. Pustet 1854. – Sitten, Bräuche und Meinungen

des Tiroler Volkes. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung

1857. – Sagen, Märchen und Gebräuche

aus Tirol. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung

1859.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Nach achtzehn Jahren erscheint dies Büchlein in

zweiter Auflage und ich wünsche, daß es in dieser

verbesserten und vermehrten Ausstattung wieder jener

freundlichen Aufnahme sich erfreuen möchte, die ihm

beim ersten Erscheinen gespendet worden ist. Zwei

Nummern der ersten Auflage Nr. 10: »Von den Salinger

Fräulein« und Nr. 40: »Thaddädl« wurden weggelassen,

dagegen kamen dreizehn neue Märchen hinzu.

Unter diesen befinden sich vier aus den deutschen Gemeinden

L u s e r n a und P r o v e i s in Welschtirol.

Damit aber dieser Landesteil in vorliegender Sammlung

auch vertreten sei, gebe ich zum Schlusse die

Märchen: »Die drei Pomeranzen« und »Das Mädchen

ohne Hände« aus meines Freundes Chr. Schneller

vortrefflichem Buche: »Märchen und Sagen aus

Welschtirol. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung,

« das ich allen Freunden alpiner Volkspoesie

bestens empfehle.

W i l t e n , am 9. April 1870.

Ignaz Vinc. Zingerle.

Vorwort zur dritten Auflage.

Die neue Ausgabe der Märchen unseres Vaters unterscheidet

sich inhaltlich nicht von der 1870 bei Amthor

erschienenen, zweiten Auflage, doch ist sie mit

Bildern ausgestattet, die ein Tiroler Künstler, der

Land und Leute kennt, geliefert hat. Es ist mit dieser

Zugabe einem von verschiedenen Seiten geäußerten

Wunsche Rechnung getragen worden. Die Jugend, die

einen guten Teil der Leser bildet, ist jetzt anspruchsvoller

als in früheren Zeiten, wo sie mit der Erzählung

zufrieden war und die kindliche Phantasie selbst die

Bilder dazu schuf.

Möge das Buch im neuen Gewande bei jung und

alt wieder jene freundliche Aufnahme finden, die ihm

schon bei seinem ersten Erscheinen zuteil geworden

ist. Auch die Altmeister Jakob und Wilhelm Grimm

begrüßten damals die ebenfalls von zwei Brüdern gesammelten

Tiroler Märchen mit großer Freude und

letzterer ließ sie, wie dessen Sohn Professor Hermann

Grimm unserem Vater berichtete, mit dem schönen

Einbande seiner Lieblingswerke versehen.

Während die Forscher unablässig bemüht sind, die

Schätze der Volkspoesie zu heben und zu sichern,

macht sich im Volke, das sie benützt und das sie

hüten soll, bedauerlicherweise ein Schwinden des In-

teresses bemerkbar. Nicht nur alte Bräuche kommen

ab, sondern auch die alten Lieder und Erzählungen

geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Es muß

darum gewünscht werden, daß der Sinn für das alte

poetische Erbe wieder geweckt werde, und dazu trägt

hoffentlich auch dies Buch bei, das den Leser aus dem

nüchternen Alltagsleben für ein Weilchen in die poesievolle

Märchenwelt versetzt.

I n n s b r u c k , 9. November 1910.

Wolfram und Oswald von Zingerle.

Kinder- und Hausmärchen aus Tirol

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