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Asche und Staub

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Auf den Wegen des Frankfurter Hauptfriedhofs hatten sich während des Dauerregens, der sich seit der vergangenen Nacht über die Stadt ergoss, zahlreiche Pfützen gebildet, auf deren Oberflächen die schweren Tropfen zerplatzten, ehe sich ihre Fragmente endgültig mit dem Wasser vereinten. Bernd Busse hatte seine Schwester Bettina unter den Schutz seines Schirms genommen und ihr seinen rechten Arm zum Unterhaken geboten. Gemeinsam gingen sie den Trauergästen voran, die sich eingefunden hatten, um Eduard Claaßen, Bettinas verstorbenem Ehemann, das letzte Geleit zu erweisen.

Auf Bettinas Wunsch fand die Beerdigung nur im engsten Kreis statt. Die meisten der Trauergäste gehörten der Kanzlei Claaßen & Partner an. Direkt hinter Bettina und Bernd folgte Lutz Wenger, mit dem zusammen Eduard die Kanzlei vor vierzehn Jahren als eine Partnerschaft gegründet hatte und der ihm ein vertrauensvoller Freund geworden war. Wenger hatte den Arm um Jasmin Sommer gelegt, ihre gemeinsame Chefsekretärin, einundvierzig Jahre alt und seit langem der gute, unverzichtbare Geist der Kanzlei. Zwei junge Anwälte, die erst vor wenigen Jahren zu Claaßen & Partner gestoßen waren, der Chefbuchhalter, der Steuerexperte, Tanja Maurer, Bettinas beste Freundin seit ihrer gemeinsamen Schulzeit, und ein mit Eduard und Bettina befreundetes Ehepaar aus ihrer Nachbarschaft bildeten die Nachhut.

Während der Sarg in die Grube gelassen wurde, sprach der Pfarrer seine abschließenden Worte.

„Wir übergeben dich, Eduard Claaßen, dem Schutz und der Barmherzigkeit unseres Herrn Jesu Christi. Sein Friede sei mit dir. Amen.“

Neben dem Grab war ein kleiner Hügel Erde aufgeschüttet, von dem die Trauergäste, wie es Brauch war, einer nach dem anderen drei Schaufelspitzen voll auf den Sarg warfen: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub …

„Du fehlst mir, Eduard“, flüsterte Bettina kaum hörbar, als sie mit Bernd den Anfang machte. „Umarme unsere Kleine für mich, falls du sie dort drüben wiedersiehst.“

In ihrer Stimme lag Bitterkeit. Während Bernd die Schaufel nahm, um ebenfalls dem Brauch nachzukommen, warf Bettina der Erde noch zwei Rosen hinterher, eine weiße für ihre Trauer und eine rote für ihre Liebe.

Die Herzattacke hatte Eduard ohne Vorwarnung getroffen, und Bettina nahm ihm übel, dass er sich dem Tod kampflos ergeben hatte. Er war erst zweiundfünfzig Jahre alt, als sein Herz ihm diesen Streich spielte, stand noch in der Blüte seines Lebens, war tatkräftig und ging für deutlich jünger durch, als er war. Doch er entschied sich zu gehen, und Bettina haderte mit sich, dass ihre Liebe nicht stark genug gewesen war, ihn zu halten.

„Er hätte es schaffen können, wenn …“

Doktor Fabritius, der viele Jahre lang Eduards Vertrauen genossen hatte, sprach den Satz nicht zu Ende. Seitdem kreisten Bettinas Gedanken unablässig um das Bedingungswort ‚wenn‘, ähnlich einer unerwünschten, endlosen Melodie, die sich nicht mehr aus dem Kopf verdrängen ließ.

„Er hätte es schaffen können, wenn …“

Wenn Claire noch am Leben gewesen wäre, über deren Verlust Eduard nicht hinwegkam. Claire hätte ihn halten können, ihr zuliebe hätte er gekämpft, dessen war sich Bettina sicher. Doch kurz vor ihrem zehnten Geburtstag war der verhängnisvolle Unfall geschehen, der sie in den Tod gerissen und ihre Eltern einer Belastung ausgesetzt hatte, der Bettina robuster standzuhalten vermochte als Eduard. Was immer sie versuchte, ihn mit ihrer Stärke aufzufangen und durch den Tunnel seiner Trauer ins Licht zurückzuführen, scheiterte. Der Liebe Eduards zu seiner Tochter konnte Bettina nichts entgegensetzen, obwohl sie fast zwanzig Jahre jünger war als er und es an Attraktivität immer noch mit jeder jungen Schönheit hätte aufnehmen können. Sie musste begreifen, dass es verschiedene Welten waren, Ehefrau oder Tochter zu sein. An dem Tag, an dem Claire starb, hatte Bettina auch Eduard verloren.

Sie hatte nicht verhindern können, dass er sich in sein Leid verkroch und seine Lebensfreude schwand. Dennoch plagten sie Schuldgefühle. Immer wieder lief vor ihrem inneren Auge der Film ab, in dem sie sich selbst als Protagonistin sah, die, ihre Hände auf Eduards Brust übereinandergelegt, verzweifelt pumpte und zwischendurch Mund-zu-Mund-Beatmung machte, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, bis endlich zwei Rettungskräfte eintrafen und der athletischere der beiden die Hilfsaktion übernahm. Aber auch ihm gelang es nicht, Eduard wieder zu Bewusstsein zu bringen. Als er schließlich erschöpft von ihm abließ, sah er Bettina in die Augen, ohne ein Wort zu sagen, und da wusste sie, dass sie mit dreiunddreißig Jahren Witwe war. Aber nicht ihm, sondern sich selbst machte sie zum Vorwurf, versagt zu haben.

Während die Trauergemeinde der Zeremonie folgte und Erde auf Eduards Sarg fallen ließ, wartete Bettina neben Bernd mit tief gesenktem Haupt, um ihre Tränen zu verbergen. Willig nahm sie das Taschentuch an, das er ihr reichte, und tupfte sich damit die Nässe von den Wangen. Als sie wieder den Kopf hob, um zu sehen, wie viele der Gäste noch an der Reihe waren, blieb ihr Blick an einem Paar haften, einer älteren Frau und einem jungen Mann, die ein gutes Stück entfernt am Rand des benachbarten Gräberfelds standen und unter dem Schutz eines Regenschirms, den der Mann hielt, die Begräbniszeremonie beobachteten. Das erschien Bettina zunächst nicht bedeutsam, doch bei näherem Hinsehen stutzte sie, denn es kam ihr so vor, als ob die Frau weinte. Mehrfach schien sie sich mit den Fingerkuppen Tränen unter ihren Augen wegzuwischen, und schließlich legte der junge Mann seinen Arm um sie und begann auf sie einzureden, als wolle er sie trösten.

Bettina, die sich wieder bei Bernd eingehakt hatte, stupste ihn mit ihrem Ellbogen in die Rippen.

„Siehst du die beiden dort drüben bei den Nachbargräbern? Die Frau in dem eleganten Cape und den Mann im schwarzen Mantel?“

Sie hatte geflüstert, um die Zeremonie nicht zu stören. Bernd antwortete ihr ebenso leise.

„Die beobachte ich schon eine ganze Weile. Wenn sie wegen Eduard hier sind, frage ich mich, weshalb sie nicht zu uns kommen und sich vorstellen.“

„Was sollten sie mit Eduard zu schaffen haben? Ich habe die beiden noch nie gesehen.“

„Vielleicht entfernte Verwandte?“

„Eher nicht. Warum sollte eine Frau um jemanden weinen, der ihr nicht sehr nahegestanden hat?“

Der junge Mann musste mitbekommen haben, dass Bettina und Bernd auf ihn und seine Begleiterin aufmerksam geworden waren, denn als er jetzt zu ihr sprach, sah er wiederholt zu der Trauerversammlung hinüber. Dann nahm er den Arm der Frau und versuchte, sie fortzuziehen. Sie weigerte sich zunächst, ihm Folge zu leisten, aber er ließ nicht locker, bis sie schließlich nachgab und sich von ihm sanft, aber bestimmt, wegführen ließ.

Bettinas Argwohn war geweckt.

„Ich habe ein ungutes Gefühl, Bernd. Irgendwas stimmt mit den beiden nicht. Geh ihnen nach und versuche rauszubekommen, wer sie sind und was sie hier wollten.“

Bernd fand die Aussicht, im strömenden Regen zwei Fremde zu verfolgen, die sich wahrscheinlich als völlig unbedeutend herausstellen würden, alles andere als erquicklich.

„Hältst du das wirklich für notwendig?“

„Tu es einfach.“

Bernd wusste, dass es sinnlos war, Bettina ein Verlangen ausreden zu wollen. Er drückte ihr den Regenschirm in die Hand und legte einen strammen Schritt zum Friedhofsausgang an der Eckenheimer Landstraße ein, in dessen Richtung die beiden Unbekannten verschwunden waren. Als er sie von weitem sehen konnte, rannte er ein Stück, um den Abstand zu ihnen zu verringern. Doch am Portal verlangsamte er sein Tempo wieder, um nicht aufzufallen, denn er war gerade rechtzeitig dort angekommen, um sie am Taxistand in das vorderste Fahrzeug einsteigen zu sehen und die Worte des jungen Mannes aufzuschnappen, ehe er die Wagentür zuzog.

„Zum Frankfurter Hof, s’il vous plaît.“

Bernd rannte zu Bettinas Audi Coupé, das in der Nähe geparkt war. Er hatte ihre Autoschlüssel noch in seiner Manteltasche, weil sie ihm das Steuer überlassen hatte, als sie zusammen zum Friedhof fuhren. Sie würde sich schon denken können, weshalb ihr Wagen verschwunden war, und halt mit Wenger in die Innenstadt zurückfahren müssen.

Bernds Mantel und Hose waren klatschnass, als er sich hinter das Steuer setzte. Sofort begannen sich um seine Schuhe herum Wasserlachen zu bilden.

Zwanzig Minuten später war er am Kaiserplatz, bog in die Bethmannstraße ein und hielt hinter einer Reihe von Taxis, direkt vor dem Eingang des Frankfurter Hofs. Er sprang aus dem Coupé, doch der Portier vertrat ihm den Weg ins Hotel.

„Tut mir leid, aber vor dem Eingang können Sie den Wagen nicht stehenlassen. Stellen Sie ihn im Parkhaus unter oder versuchen Sie es in der Weißfrauenstraße.“

Bernd ließ sich nicht abwimmeln.

„Ich muss jemandem etwas bringen, das er bei seiner Besprechung vergessen hat. Es ist wirklich brandeilig. Ich bin auch gleich wieder da. Versprochen.“

Er ignorierte den Protest des Portiers und stürmte an ihm vorbei in die Hotelhalle. An der Rezeption sah er die Frau und den jungen Mann stehen, die gerade ihre Zimmerschlüssel entgegennahmen. Er näherte sich ihnen langsam, bemüht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und spitzte die Ohren.

„Einen Moment noch, Madame Desmoulins. Da ist eine Nachricht aus Paris für Sie.“

Bernd sah, wie der Rezeptionist in ein Fach an der Wand hinter sich griff und einen Umschlag herauszog. Die Frau nahm ihn mit einem ‚merci‘ an, öffnete ihn und entnahm ihm eine Notiz. Sie las sie kurz und reichte sie an ihren Begleiter weiter.

„Je pense que c’est pour toi.“

Sie gingen beide zum Lift. Als sie eingestiegen waren und sich die Tür geschlossen hatte, trat Bernd an den Empfang und sprach den Rezeptionisten an.

„Bitte, könnten Sie mir kurz mit einem Blatt Papier und einem Stift aushelfen?“

„Gerne.“

Der Rezeptionist reichte Bernd einen Papierbogen mit dem Emblem des Frankfurter Hofs sowie einen Kugelschreiber. Bernd tat, als wolle er mit dem Schreiben beginnen, wobei er hoffte, unbefangen zu wirken. Er runzelte gespielt die Stirn und seufzte.

„Einfach zu dumm. Ich wollte Madame Desmoulins eine Nachricht hinterlassen, und ausgerechnet jetzt kann ich mich nicht an ihren Vornamen erinnern.“

„Adressieren Sie Ihre Nachricht einfach an Madame Desmoulins, das reicht völlig aus. Ich garantiere für die Zustellung, da sehe ich gar kein Problem.“

Bernd setzte eine bekümmerte Miene auf.

„Selbstverständlich würde das ausreichen, und an Ihrer Zuverlässigkeit habe ich keine Sekunde gezweifelt. Aber es wäre mir furchtbar peinlich, Madame Desmoulins nicht mit vollem Namen anzureden. Wie sähe das denn aus, nachdem wir zusammen auf meiner letzten Vernissage bis in die Nacht über Kunst geplaudert hatten? Wenn Sie mir nicht aus der Patsche helfen, wird sie denken, wir Deutschen hätten keine Manieren.“

„Warum rufen Sie Madame Desmoulins nicht einfach auf ihrem Zimmer an? Ich kann Sie mit ihr verbinden.“

Bernd schüttelte den Kopf.

„Danke, aber das ist im Augenblick nicht notwendig. Ich will sie nicht überrumpeln, sondern ihr ein Wiedersehen vorschlagen. Einen Termin.“

„Ja dann, wenn Sie Madame Desmoulins bereits kennen … Juliette, Juliette Desmoulins.“

„Ah ja, richtig, Juliette … jetzt kann ich mich erinnern.“

Bernd beugte sich über sein Blatt Papier und sprach laut mit, was er schrieb, um dem Rezeptionisten zu beweisen, dass er keine dubiosen Absichten hegte.

„Sehr geehrte Madame Juliette Desmoulins, Ich möchte mich mit Ihnen und Ihrem Begleiter …“

Bernd hielt inne und schaute den Rezeptionisten in großer Verlegenheit an, wobei er versuchte, die unschuldigste Miene aufzusetzen, zu der er fähig war.

„Und wer ist der junge Mann, der sie begleitet hat?“

„Na, Pierre. Pierre Desmoulins. Ihr Sohn.“

In der Antwort des Rezeptionisten klang Erstaunen mit, als hätte Bernd auf diese Tatsache selbst kommen müssen.

„Oh … danke vielmals.“

Bernd schrieb weiter, wobei er den Text wieder mitsprach, den letzten Satz jedoch nur noch murmelte, so dass der Rezeptionist ihn nicht mehr verstehen konnte. Er sollte keinen Verdacht schöpfen, es könne doch um etwas anderes als die Kunst oder die Auffrischung einer Bekanntschaft gehen.

„… möchte mich mit Ihnen und Ihrem Sohn Pierre heute Abend um 20 Uhr in der Lounge treffen. Es geht um Eduard Claaßen. Bernd Busse.“

Er faltete das Blatt in der Mitte zusammen und übergab es dem Rezeptionisten mit einem gewinnenden Lächeln.

„Sie haben mir sehr geholfen. Würden Sie das bitte an Madame Desmoulins weiterleiten?“

„Sie können sich auf mich verlassen.“

Der Rezeptionist angelte einen Umschlag aus einer Schublade, steckte die Notiz hinein und legte ihn in Juliette Desmoulins Fach.

„Darf ich fragen, welcher Art von Kunst Sie sich widmen?“

„Aber ja, das ist kein Geheimnis. Moderne Malerei und Fotografie. Ich arbeite in Berlin.“

„Sie sehen gar nicht wie ein Künstler aus.“

War der Rezeptionist etwa doch misstrauisch geworden? Oder war er lediglich neugierig, weil er sich für Kunst interessierte? Bernd lächelte verbindlich, obwohl er hoffte, nicht durch ein intensiveres Gespräch über Kunst länger als nötig im Hotel festgehalten zu werden.

„Warum? Weil ich keine schulterlange Mähne und keinen Rauschebart habe, und weil ich nicht in einer abgewetzten Jeans und einem Mantel aus dem vorigen Jahrhundert herumlaufe? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Ich hatte ein strenges Elternhaus und bin es gewohnt, in geordneten Verhältnissen zu leben.“

Diese Erklärung wollte der Rezeptionist nicht gelten lassen.

„Viele junge Künstler kommen aus ordentlichen Verhältnissen, nehmen aber gerade deswegen eine gegenteilige Lebensart an. Aus Protest gegen die Eltern.“

„Da haben Sie natürlich recht, aber das war nie mein Stil. Offensichtlich habe ich diese rebellische Phase verpasst.“

Zu Bernds Erleichterung nahten sich neue Hotelgäste der Rezeption.

„Ich glaube, Sie werden gleich gebraucht. Also nochmal vielen Dank.“

Hochzufrieden über den Erfolg seiner Mission verließ Bernd die Hotelhalle und stieg unter dem missbilligenden Blick des Portiers in Bettinas Coupé, in dem der muffige Geruch des feucht gewordenen Fahrersitzes hing.

Eine halbe Stunde später war er im Westend. Im Nebenraum eines Restaurants hatten sich die Trauergäste eingefunden, um sich an einem kleinen Buffet zu bedienen. In der Voraussicht, dass die Beerdigung bis zum frühen Nachmittag dauern konnte, hatte Bettina außer belegten Schnittchen und kalten Getränken auch Kuchen, Kaffee und Tee bereitstellen lassen. Als sie Bernd eintreten sah, löste sie sich von Wenger und ihrer Freundin Tanja, mit denen sie geplaudert hatte, und ging ihm entgegen. Er nahm sie am Arm und führte sie aus dem Raum, um außer Hörweite der Gäste zu sein.

„Juliette Desmoulins und ihr Sohn Pierre. Wahrscheinlich aus Paris. Abgestiegen im Frankfurter Hof. Klingelt da etwas bei dir?“

Bettina schüttelte den Kopf.

„Nicht die Spur.“

„Denk nach.“

Doch Bettina schüttelte abermals den Kopf.

„Nichts. Absolut nichts, darüber brauche ich mir gar nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich kenne niemanden in Frankreich. Eduard war als Soldat längere Zeit in Paris stationiert, aber er hat nur manchmal von einem Alain Duvivier gesprochen, mit dem er sich verabredete, wenn er mal in Frankreich zu tun hatte und es sich einrichten ließ. Sie kannten sich aus der Besatzungszeit. Sehr oft kam es aber nicht vor, dass die beiden sich sahen.“

„Du bist dir ganz sicher, dass da sonst nichts ist?“

„Absolut sicher. Ich habe den Namen Desmoulins noch nie in meinem Leben gehört. Vielleicht war mein Misstrauen übertrieben, und die Sache ist nichts als ein Zufall.“

Bernd war über Bettinas Selbstzweifel überrascht, denn für gewöhnlich verließ sie sich auf ihre Intuition, die sich oft als zutreffend herausstellte. Hatte sie auf dem Friedhof nicht gesagt, sie habe ein ungutes Gefühl, als sie die beiden Desmoulins beobachtete?

„Ich will auf Nummer sicher gehen, Bettina. Eduard war in den letzten Monaten völlig verschlossen gewesen, auch dir gegenüber. Niemand hatte die geringste Ahnung, was in seinem Kopf vorging.“

„Ich weiß. Claires Tod brachte ihn fast um den Verstand. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Aber was meinst du mit ‚auf Nummer sicher gehen‘?“

„Ich habe Madame Desmoulins eine Nachricht hinterlassen, dass ich sie und ihren Sohn heute Abend in der Lounge ihres Hotels treffen will. Dann werden wir ja sehen, was es mit ihrem Friedhofsbesuch auf sich hatte.“

Bettina schenkte ihm einen dankbaren Blick.

„Du willst der Sache wirklich für mich weiter nachgehen?“

Bernd schien die Frage unangebracht, denn er sah keinen Grund dafür, jegliches Misstrauen über das merkwürdige Verhalten der beiden Fremden während Eduards Beerdigung aufzugeben.

„Was soll das heißen, Bettina? Ich bin dein Bruder, schon vergessen? Außerdem wird dich der heutige Tag noch genug in Anspruch nehmen. Möglich, dass sich eine harmlose Erklärung für das Erscheinen der Desmoulins auf dem Friedhof ergibt, aber dann wärst du zumindest dein ungutes Gefühl los. Überlass die Sache ruhig mir.“

Bettina umarmte ihn.

„Das ist wahr. Du bist nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Zieh den nassen Mantel aus und geh rein zu den anderen. Du bist bestimmt hungrig.“

* * * * *

Am späten Nachmittag desselben Tages erschien Juliette Desmoulins mit ihrem Handgepäck an der Hotelrezeption und gab ihren Zimmerschlüssel ab.

„Sie wollen schon abreisen, Madame?“

„Oui, Monsieur, ich kann es kaum erwarten, diese schreckliche Stadt zu verlassen und nach Paris zurückzukehren. Mir ist unverständlich, wie man freiwillig hier leben kann. Lassen Sie mir ein Taxi kommen, bitte.“

„Nicht nötig, Madame, vor dem Eingang stehen immer genügend Taxis zur Verfügung.“

Er winkte einen Pagen herbei.

„Nimm das Gepäck von Madame Desmoulins und begleite sie zum Taxistand.“

Sie überließ dem Pagen ihren Handkoffer.

„Einen Moment noch, Madame, da ist eine Nachricht für Sie.“

Juliette nahm ihm den Umschlag aus der Hand, zog die Notiz heraus und faltete sie auf. In ihrem Gesicht stand Ratlosigkeit.

„Bernd Busse. Wer soll das sein? Und woher kennt er meinen Namen?“

Der Rezeptionist zeigte sich irritiert.

„Ein Künstler, Madame. Sie waren auf seiner Vernissage, hat er gesagt, und dass Sie sich lange mit ihm über seine Kunst unterhalten haben.“

„Was für eine Vernissage?“

„Seine eigene. Moderne Malerei.“

„Wann und wo soll das gewesen sein?“

„Das hat er nicht gesagt, Madame Desmoulins.“

„Dachte ich mir. Er muss mich verwechselt haben, ich war noch nie auf einer Vernissage.“

Sie stopfte die Notiz achtlos in ihre Handtasche.

„Sie können die Rechnung für mein Zimmer in das Fach von Monsieur Desmoulins legen. Er bleibt noch bis morgen und wird alles zusammen bei seiner Abreise regeln. Au revoir, Monsieur.“

Sie gab dem Pagen das Zeichen, loszugehen.

„Ich wünsche eine gute Reise, Madame Desmoulins“, rief der Rezeptionist ihr hinterher mit dem unbehaglichen Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, als er sich von Bernd die Namen der Desmoulins entlocken ließ.

* * * * *

Zehn Minuten vor acht betrat Bernd die Hotelhalle des Frankfurter Hofs und ging zur Rezeption, wo ihn eine Frau mittleren Alters freundlich empfing.

„Ich bin mit Madame und Monsieur Desmoulins verabredet. Würden Sie ihnen bitte ausrichten, dass ich in der Lounge auf sie warte.“

„Gerne.“

Die Rezeptionistin prüfte die Buchungen, um die Zimmernummer von Juliette Desmoulins festzustellen, und runzelte die Stirn.

„Tut mir leid, Sie müssen sich in Ihrem Termin geirrt haben. Madame Desmoulins ist am Nachmittag abgereist. Sie hatte auch nur für eine Nacht gebucht.“

„Hat sie eine Nachricht für mich abgegeben?“

„Wie heißen Sie?“

„Busse, Bernd Busse.“

Die Rezeptionistin wandte sich den Fächern zu. Ein kurzer Blick genügte ihr, Juliette Desmoulins Fach zu finden.

„Nein, an niemanden. Das Fach ist leer.“

„Und Monsieur Desmoulins? Ist er ebenfalls abgereist?“

„Nein, aber er hat das Hotel vor zwei Stunden verlassen, und ich kann Ihnen leider nicht sagen, wann er wieder zu erreichen sein wird.“

„Wie lange will er in Frankfurt bleiben?“

„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben, das wäre gegen die Vorschrift. Wollen Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?“

„Nein, vielen Dank.“

Bernd verließ frustriert das Hotel, steuerte die nächste Telefonzelle an und wählte Bettinas Nummer.

„Ich bin’s.“

Der Ärger in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Madame ist kommentarlos abgereist, an übertriebener Neugier scheint sie demnach nicht zu leiden. Und ihr Sohn ist nicht erreichbar, weil er offensichtlich dem Frankfurter Nachtleben nicht widerstehen konnte. Was machen wir jetzt?“

Bettinas Antwort klang müde.

„Der Tag war anstrengend, Bernd. Wahrscheinlich haben wir Gespenster gejagt. Mach dir einen schönen Abend und ruh dich aus. Wir sehen uns morgen beim Notar. Dann bringen wir hoffentlich die Formalitäten hinter uns.“

Bonjour, Paris

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