Читать книгу Bonjour, Paris - Ilka-Maria Hohe-Dorst - Страница 5
Das Testament
ОглавлениеIm Konferenzzimmer des Notars Rainer Richolt hatten sich Bettina, Bernd und Lutz Wenger, eingefunden. Die Kanzlei Claaßen & Partner verfügte über kein eigenes Notariat, sondern arbeitete, wenn es um die Abwicklung notarieller Dokumente ging, mit Richolt zusammen, der Eduards volles Vertrauen besaß. Folgerichtig hatte er ihn auch für sein Testament in Anspruch genommen.
Wenger fühlte sich fehl am Platz. Er hatte keine Vorstellung darüber, weshalb er vom Notar mit Bettina und Bernd zusammen hergebeten worden war, denn auch wenn Eduard sein Freund gewesen war, gingen ihn dessen Vermögensverhältnisse und testamentarischen Regelungen nichts an. Das war allein Bettinas Angelegenheit. Selbst Bernds Anwesenheit empfand Wenger als überflüssig, denn Bettinas Bruder hatte nicht das Recht, von Eduard, der ihn jahrelang finanziell unterstützt hatte, über dessen Tod hinaus irgendetwas zu erwarten.
Der Notar hielt einen großen Umschlag in der Hand, dessen Siegel er öffnete, um das Testament des Verstorbenen zu verkünden.
„Geehrte Anwesende, ich verlese Ihnen jetzt Eduard Claaßens Letzten Willen, wie er ihn am 12. November 1970 notariell protokollieren ließ und unterzeichnete.“
Bettina und Bernd warfen sich Blicke zu, die nicht übereinstimmen wollten. In Bettinas Augen lagen Vertrauen und Zuversicht, in Bernds Augen dagegen Skepsis und eine dunkle Vorahnung, denn sein Verhältnis zu dem Verstorbenen war stets von Spannungen überschattet gewesen.
Der Notar räusperte sich kurz und begann, vorzulesen.
„Ich, Eduard Claaßen, erkläre meinen Letzten Willen wie folgt: Meiner Ehefrau Bettina Claaßen verbleibt in voller Höhe ihr Anteil an unserem gemeinsamen Vermögen, wie sie es zum Teil miterwirtschaftete, zum Teil durch die Erbschaft ihres Vaters einbrachte und mir anvertraute und sie es von mir verwalten und anlegen ließ. Ihr verbleiben weiterhin fünfzig Prozent meines Vermögens, das ich in Immobilien, Aktien und sonstige Anlagen investiert habe. Die anderen fünfzig Prozent der Anlagenwerte, die ich nachfolgend detailliert aufliste, hinterlasse ich Pierre Desmoulins, ansässig in Paris, zu seiner freien Verfügung. Seine persönlichen Daten und sein Wohnsitz sind dem Notar bekannt, der Vollmacht hat, die Übertragungen zu veranlassen.“
Bettina blieb die Luft weg. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war wie paralysiert. Ganz im Gegensatz zu Bernd, der von seinem Sitz aufgesprungen war und dessen Stimme sich überschlug.
„Pierre Desmoulins … das ist der Kerl, der mit der verheulten Alten auf dem Friedhof herumstand. Das stinkt doch zum Himmel!“
Er funkelte Bettina zornig an, die unfähig war, sofort auf das zu reagieren, was mit einem Mal auf sie einstürmte.
„Und du hast die beiden für Gespenster gehalten! Ich bin gespannt, was da noch an Knalleffekten kommt.“
Bettina war Bernds Benehmen vor den Augen und Ohren des Notars peinlich. Sie hatte schon immer die cholerische Veranlagung ihres Bruders missbilligt, der im Zustand inneren Aufruhrs schnell die Kontrolle verlor und sich zu den wüstesten Beschimpfungen hinreißen ließ. Als die Ältere hatte sie Einfluss auf Bernd, und oft gelang es ihr, ihn zur Vernunft zu bringen, ehe er mit unbedachten Worten irreparablen Schaden anrichten konnte. Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu und zog ihn stumm am Saum seines Jacketts auf seinen Sitz zurück.
Auch in der Miene des Notars stand Missbilligung zu lesen.
„Können wir jetzt fortfahren, Herr Busse?“
Bernd schwieg, aber Bettina nickte dem Notar zu. Er las weiter vor.
„Meinem Schwager Bernd Busse soll von meinem Barvermögen eine einmalige Abfindung von zwanzigtausend D-Mark zugestanden werden. Seine monatlichen Zuwendungen entfallen mit sofortiger Wirkung.“
Bernd brauste erneut auf. Er schäumte jetzt vor Wut und sah keine Veranlassung mehr, sich länger zurückzuhalten.
„Da haben wir’s. Jetzt kommt ans Tageslicht, wie der Banause wirklich über mich dachte, über den unnützen Künstler, den er sich mit ans Bein gebunden hatte, als er dich heiratete.“
Bettina war über Bernds Entgleisung wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte er so respektlos über Eduard sprechen, der ihm Monat für Monat eine Summe überweisen ließ, die ihn vor den Entbehrungen bewahrte, die seine Künstlerkollegen in Berlin durchlitten und denen er dank Eduards Großzügigkeit in ihrer größten Not unter die Arme greifen konnte? Zuerst war sie geneigt, Bernd scharf zurechtzuweisen, zwang sich dann aber, ruhig zu bleiben. Sie wollte sich vor dem Notar auf keine Debatte mit ihrem Bruder einlassen, die nur in einen Streit gemündet wäre. Deshalb versuchte sie es im Guten.
„Reiß dich zusammen, Bernd. Vergiss nicht, wer du bist.“
Doch Bernd ließ sich nicht zügeln.
„Wer bin ich denn schon? Der Versager, die kleine Wurst, der Pinselschwinger einer brotlosen Kunst, den dein Göttergatte dir zuliebe aushielt, obwohl ihn Malerei nie interessierte und der nicht einmal wusste, wie man Gauguin und van Gogh richtig schreibt. Und was für ein Kuckucksei hat er dir jetzt wohl ins Nest gelegt? Was warst du eigentlich für ihn, dass er dein Vermögen, das unser Vater dir hinterlassen hat, jetzt über deinen Kopf hinweg verhökert? Hast du deinen Mann wirklich gekannt?“
„Du weißt nicht, was du sagst, Bernd. Das ist doch gar nicht wahr. Wir sprechen später darüber.“
„Ich werde den Mund nicht halten. Es geht um das Geld unseres Vaters, das sich Eduard unter den Nagel gerissen hat. Und um meine Existenz. Wie soll ich …“
Wenger fiel ihm ins Wort. Er hatte nicht vorgehabt, sich in diese Familienangelegenheit einzumischen, aber Bernds Attacke auf seine Schwester, die sich immer für seine Interessen eingesetzt hatte, ging ihm zu weit.
„Hören Sie endlich auf, Herr Busse, das gehört nicht hierher.“
Bernd war völlig anderer Meinung und spuckte Gift und Galle. „Halten Sie sich heraus, Herr Wenger. Sie sind der letzte Mensch auf diesem Planeten, der mir etwas zu befehlen hätte.“
Der Notar sah es an der Zeit, einzugreifen.
„Ich muss doch bitten, Herr Busse. Können wir die Sache jetzt zu Ende bringen?“
Bernd schwieg, sackte in sich zusammen und ließ das Kinn wie in stiller Empörung auf seine Brust sinken, während der Notar den Rest des Testaments verlas, in dem Eduard die übrigen Vermögensverhältnisse detailliert geregelt hatte. Bettina kam zwar immer noch gut weg, trotzdem sah sie sich mit lauter offenen Fragen konfrontiert.
Der Notar schloss mit seinem obligatorischen Hinweis in Erbschaftsangelegenheiten.
„Bevor ich Ihnen die beglaubigten Abschriften überreiche, belehre ich Sie noch für den Fall, dass Sie das Testament nicht anerkennen wollen, über Ihre Rechte …“
Als er fertig war, nahm er einen Briefumschlag und sprach Wenger an.
„Herr Wenger, sie werden sich gefragt haben, weshalb ich Sie zu dem Termin miteingeladen habe. Diesen Briefumschlag bat mich Eduard Claaßen, Ihnen persönlich am Tag der Testamentseröffnung zu übergeben.“
Wenger nahm den Umschlag entgegen. Als Adressat stand darauf nur ‚Lutz‘, sonst nichts. Wenger öffnete ihn, entfaltete einen Brief und las: „Lieber Lutz, als mein langjähriger und treuer Freund richte ich eine letzte Bitte an dich. Es ist mein Wunsch, Pierre Desmoulins, einen jungen Anwalt in Paris, zu unterstützen und zu fördern. Seine Kanzlei besteht erst wenige Jahre. Ich stelle mir eine Kooperation bei deutsch-französischen Projekten vor und wäre dir dankbar, wenn du mir diesen Wunsch erfüllen könntest. Möglich wäre auch, beide Kanzleien zu verschmelzen. Das würde ihre Wettbewerbsfähigkeit auf westeuropäischem Terrain enorm stärken. Das alles habe ich nicht mehr mitzuentscheiden. Aber du warst mein bester Freund, Lutz, und ich verlasse mich auf dich. Die Kontaktdaten erfährst du durch meinen Notar Rainer Richolt.“
Wenger ließ den Brief sinken und blickte schweigend ins Leere, um das Gelesene zu verarbeiten. Der Notar riss ihn aus seinen Gedanken.
„Steht etwas da drin, Herr Wenger, das meine Tätigkeit als Notar erfordern könnte?“
Wenger schüttelte den Kopf und reichte den Brief an Bettina weiter. Als sie ihn zu Ende gelesen hatte, war sie blass geworden. Sie verstand die Welt nicht mehr und war froh, als der Notar den Termin zu Ende brachte.
Fünfzehn Minuten später standen Bettina und Wenger auf der Straße vor dem Notariatsbüro. Er schaute auf seine Armbanduhr.
„Was macht Bernd noch so lange da drin? Warum ist er nochmal zurückgegangen?“
Doch Bettinas Gedanken waren bei ihrem verstorbenen Ehemann.
„Lutz, antworte mir ehrlich: Hast du von Eduards Plänen gewusst?“
Wenger hob die Schultern.
„Kein bisschen, Bettina. Ich bin genauso überrascht wie du.“
„Wie kann das sein, Lutz? Du warst sein bester Freund und engster Vertrauter, vor dir hatte er nie Geheimnisse.“
„Offensichtlich doch. Jeder Mensch scheint seine kleinen Heimlichkeiten zu haben, die er mit niemandem teilen will.“
In Bettinas Stimme lag Verbitterung.
„Kleine Heimlichkeiten? Was Eduard hier und heute geteilt hat, ist keine Heimlichkeit, sondern unser gemeinsames Vermögen. Wir hatten keine Gütertrennung, sondern eine Zugewinngemeinschaft. Ich habe nicht nur die Erbschaft meines Vaters in die Ehe eingebracht, sondern in der Kanzlei mitgeholfen und Eduard den Rücken freigehalten, wenn ihm die Arbeit über den Kopf wuchs. Deshalb hätte ich ein Recht darauf gehabt, die Gründe für seinen Letzten Willen zu erfahren. Warum hat er mir nichts über seine Pläne gesagt? Und was hat er mit diesem Rechtsanwalt in Paris zu schaffen, der mit seiner Mutter aus dem Nichts heraus hier aufgetaucht ist? Wozu überhaupt braucht die Kanzlei einen Kooperationspartner in Paris?“
„Eduard konnte doch nicht ahnen, dass er so plötzlich an einem Herzinfarkt sterben würde. Bestimmt hatte er vor, dich nach und nach in seine Pläne einzuweihen.“
In Bettina stieg Zorn hoch.
„Nach und nach? Ich höre wohl nicht recht! Warum nimmst du ihn in Schutz? Weißt du mehr, als du zugeben willst? Wie lange bist du sein Vertrauter gewesen? Welches Versprechen hat er dir abgenommen? War er mit dir verheiratet oder mit mir? Sag schon!“
Wenger zuckte bei diesem Stakkato immer wieder zusammen, als habe ihn bei jeder einzelnen Frage eine Pistolenkugel getroffen. Wieso hätte Eduard ihm einen Brief mit seinem letzten Wunsch hinterlassen sollen, wenn er bereits in dessen Pläne eingeweiht gewesen wäre? Das war unlogisch, doch Wenger verzichtete darauf, sich zu verteidigen, weil er spürte, dass Bettina zu aufgewühlt war, um irgendwelchen Argumenten zugänglich zu sein. Er schaute betrübt zu Boden.
„Es tut mir leid, Bettina.“
Bernd stürmte aus dem Eingang des Gebäudes, immer noch sichtlich ungehalten.
„Ich habe versucht, den Notar über diese Desmoulins auszuquetschen, aber der sture Bock beruft sich auf seine Schweigepflicht. Hart wie Granit, der Kerl …“
„Was ist daran falsch? Er scheint damit doch in bester Gesellschaft zu sein“, entgegnete Bettina schnippisch. Ihr vielsagender Blick traf Wengers Augen, der die spitze Bemerkung mit einem Zucken seiner Mundwinkel quittierte. Sie drehte sich auf dem Absatz um, ging zu ihrem Wagen, stieg ein und fuhr mit jaulendem Motor davon.
* * * * *
Bettina liebte ihre Wohnung. Sie war kein ‚Haus-Typ‘. Eduard hätte gerne ein Haus mit allem Drum und Dran gehabt, Terrasse, Blumenbeeten, Swimmingpool, und für Claire eine Schaukel und einen Sandkasten. Ein Hund oder zwei Katzen. Doch Bettina war dagegen. Sie wollte ein übersichtliches Heim haben, sich nicht mit Terrassen- und Gartenpflege plagen müssen und nicht die Verantwortung für einen Familienhund tragen, der, was das Gassigehen oder den unvermeidlichen Besuch beim Tierarzt anging, allein ihr Hund gewesen wäre.
Schließlich einigten sie sich auf eine Hundertzwanzig-Quadratmeter-Wohnung in einem villenartigen Zwei-Familien-Haus im Westend, die Bettina mit sicherem Geschmack im Flair der fünfziger und sechziger Jahre einrichtete, weil ihr der Stil der Siebziger entweder zu nüchtern oder zu poppig war. Dazwischen gab es nichts. Eduard ließ ihr freie Hand, aber nicht ohne die gelegentliche süffisante Bemerkung: „So hätte ich mir die Wohnung der Nitribitt vorstellen können.“
Doch er fühlte sich wohl, das spürte Bettina, wenn er eine Flasche Wein aufmachte, in die Couchkissen versank und mit einer guten Portion Selbstironie von den Schwierigkeiten erzählte, mit denen ihn so mancher unverständige Mandant in den Wahnsinn trieb. Er brachte sie damit zum Lachen, was ihn zu Albernheiten reizte, bis er sie schließlich, der geleerten Weinflasche zum Trotz noch im Vollbesitz seiner Energie, ins Schlafzimmer trug und sie liebte wie beim ersten Mal.
Das war lange vorbei. Schon vor Claires Tod hatte sich Eduard verändert, war ernster und stiller geworden und wirkte oftmals angespannt. Bettina machte das Arbeitspensum dafür verantwortlich, das der wachsende Erfolg der Kanzlei ihm aufbürdete, aber insgeheim hoffte sie, es handele sich nur um eine Phase, die mit mehr Personal in den Griff zu bekommen sei, und alles könne dann wieder so wie früher werden. Doch dann starb Claire, und Eduard kapselte sich vollends ein.
Bettina hatte sich ein Glas Rotwein eingeschenkt, wie sie es oft abends zur Entspannung tat, und nippte daran, während sie weiter über die Jahre mit Eduard nachdachte. Sie versuchte sich zu erinnern, wann ihr seine Veränderung zum ersten Mal aufgefallen war, konnte aber keinen plausiblen Zeitpunkt festmachen. Wahrscheinlich war sie zu sehr mit ihren Aufgaben in der Kanzlei und mit ihren Mutterpflichten gegenüber Claire beschäftigt gewesen, um sich rechtzeitig bewusst zu werden, wann Eduard sich von ihr zu entfernen begann. Irgendwas musste ihn bedrückt haben, über das er mit ihr nicht sprechen konnte. Aber was?
Einer Eingebung folgend stellte sie das Glas auf dem Clubtisch ab und begann, Schubladen zu durchwühlen und Bücher aus den Regalen zu ziehen. Sie kramte und blätterte aus purer Verzweiflung in Dingen, die sie in- und auswendig kannte und von denen sie wusste, dass sie keine Verbindung zu Eduards Letztem Willen haben oder ein dunkles Geheimnis preisgeben konnten. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie eigentlich suchen wollte, sondern ließ sich von ihrer Intuition leiten. Plötzlich kam ihr Eduards Album in den Sinn. Sie zog es aus dem Bücherregal, legte es auf den Tisch und strich mit der Hand über den Einband, unschlüssig, ob sie es aufschlagen sollte oder nicht.
Es war ein schweres, altmodisches Album aus einer längst vergangenen Zeit, das teuer und wertvoll aussah mit seinem Einband aus mittelbraunem, geprägtem Leder, und es schien einst in der Absicht angeschafft worden zu sein, von Generation zu Generation vererbt zu werden wie alter Familienschmuck. Und es war mit einem Tabu belegt. Eduard wollte es nicht vor Bettina wegschließen, hatte ihr aber das Versprechen abgenommen, es niemals anzurühren, sondern als seine Privatsphäre zu respektieren.
Sie überwand ihre Skrupel, schlug es auf und ging Seite für Seite durch. Es enthielt Bilder aus Eduards Kindheit, von seinen Eltern und Großeltern und allerlei ihr fremden Leuten. Die letzten Seiten waren leer, aber zwischen ihnen lag ein Briefumschlag. Bettina öffnete ihn und zog drei Schwarzweiß-Fotos heraus. Sie stammten aus Eduards Wehrmachtszeit. Das oberste zeigte drei Soldaten in der Uniform der deutschen Luftwaffe und eine junge Frau, um die einer der Männer den Arm gelegt hatte. Die Qualität der Aufnahme war schlecht, so dass die Gesichter nicht klar zu erkennen waren. Bettina drehte das Foto um und entdeckte auf der Rückseite einen Vermerk in einer Handschrift, die ihr fremd war: ‚Mit Chouchou, Hermann und Viktor, Paris, Frühjahr 1941.‘
Die beiden anderen Fotos zeigten nur die drei Soldaten und waren ohne Vermerk. Bettina legte alle drei Bilder nebeneinander auf den Clubtisch, ratlos, was sie mit ihrer Entdeckung anfangen könnte. In keinem der drei Männer konnte sie eine Ähnlichkeit mit Eduard feststellen. Offensichtlich handelte es sich um Fotos, die er von einem Freund geschickt bekommen hatte, eine andere Erklärung fand sie nicht.
Ernüchtert von ihrer ergebnislosen Suche begann sich ihr Gewissen zu regen, weil sie entgegen ihrem Versprechen in Eduards Album herumgeschnüffelt hatte. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben, aber kaum, dass er unter der Erde lag, dieses Wort gebrochen. Für nichts. Sie hasste sich dafür.
Das Klingeln des Telefons schreckte sie aus ihren Gedanken. Es war Bernd. Er fiel regelrecht über sie her.
„Hör zu, Bettina, ich habe nachgedacht. Es gibt nur eine Lösung: Du musst das Testament anfechten!“
Sie fühlte sich überrumpelt.
„Musst du wieder mal die Tür einrennen, Bernd? Hättest du nicht zuerst freundlich ‚guten Abend‘ sagen können?“
„Entschuldige, aber …“
In Bettina regte sich Widerstand.
„Was denkst du dir eigentlich, Bernd, kaum dass ich Eduard beerdigt habe? Und wie soll das gehen? Er hat seinen Letzten Willen festgelegt, also was könnte ich dagegen tun, ohne seine Gründe zu kennen und stichhaltige Argumente gegen sie vorbringen zu können? Wieso zerbrichst du dir überhaupt meinen Kopf?“
„Willst du dich einfach damit abfinden, dass dein Göttergatte dich über den Tisch gezogen hat?“
In Bettina wallte Empörung auf.
„Hör auf damit, gegen Eduard zu hetzen! Und nenne ihn nicht dauernd Göttergatte! Er war ein guter Mensch, einen besseren Ehemann hätte ich mir nicht wünschen können. Und er hat dich immer fair behandelt.“
Bernd zog es vor, auf Bettinas Verteidigungsrede nicht einzugehen. Er hätte gegen seine sechs Jahre ältere Schwester, die ihm bei Bedarf eine gute Portion Autorität entgegenzusetzen hatte, nur verlieren können.
„Also?“
„Also was?“
„Was gedenkst du zu tun?“
„Ich muss zuerst mit diesem Desmoulins sprechen.“
Bernd konnte sich des Zynismus nicht erwehren.
„Dem Profiteur von Eduards Irrsinn? Na, dann guten Erfolg.“
Bettina legte verärgert den Hörer auf, blieb aber bei der Telefonkonsole stehen und dachte kurz nach. Dann nahm sie das Telefonbuch aus der Schublade, suchte die Nummer des Frankfurter Hofs heraus und drehte die Wählscheibe. Ihr Anruf landete direkt bei der Rezeptionistin.
„Bitte verbinden Sie mich mit Pierre Desmoulins.“
Sie musste eine halbe Minute warten, ehe sie die Information erhielt, dass sich der Gast nicht melde.
„Dann möchte ich eine Nachricht hinterlassen.“
Bettina war gespannt, ob Desmoulins sie zurückrufen würde. Sie hatte ihre Nachricht für dringend erklärt und darauf hingewiesen, dass sie auch noch zu später Stunde erreichbar sei. Wie sie ihm ihr Anliegen verständlich machen sollte, war ihr allerdings nicht klar, denn mit ihren spärlichen Französischkenntnissen, die sie sich selbst beigebracht hatte, würde sie nicht weit kommen. Aber vielleicht sprach Desmoulins Englisch, dann könnte es einigermaßen funktionieren.
Als es draußen dunkel zu werden begann, zog sie die Vorhänge zu, schaltete das Fernsehgerät ein und kuschelte sich in einen der beiden Sessel. Bis zu den Nachrichten schenkte sie dem Programm kaum Beachtung, aber auch bei der Berichterstattung über die Watergate-Affäre, deren Aufdeckung U.S.-Präsident Nixon immer mehr in Bedrängnis brachte, sah und hörte sie nur mit halber Aufmerksamkeit hin. Zu sehr nahm Eduards Testament, das sie auf die Couch gelegt hatte, um es nochmal zu lesen, ihre Gedanken gefangen. Schließlich gab sie auf und schaltete das Fernsehgerät entnervt aus.
Als sie müde wurde und dabei war, die Hoffnung aufzugeben, dass Desmoulins sie zurückrufen würde, klingelte doch noch das Telefon. Während sie den Hörer aufnahm, schaute sie auf ihre Armbanduhr. Die Zeiger standen auf kurz vor zehn.
„Hallo?“
„Madame Claaßen? Ich bin Pierre Desmoulins. Sie hatten um meinen Anruf gebeten.“
Seine Stimme brachte Bettina beinahe aus dem Gleichgewicht. Sie klang selbstsicher und kraftvoll, was in Widerspruch zu dem weichen Unterton stand, der von einem leichten französischen Akzent begünstigt wurde. Einen Moment lang war Bettina von diesem Widerspruch wie verzaubert.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
Bettina sammelte sich.
„Sie sprechen Deutsch?“
„Einigermaßen.“
„Ich muss mit Ihnen reden, Monsieur Desmoulins. Es geht um meinen verstorbenen Mann Eduard. Sie waren auf seiner Beerdigung, jedenfalls kam es mir so vor, dass sie seinetwegen auf dem Friedhof waren. Können wir uns treffen, vielleicht gleich morgen?“
Einen Wimpernschlag lang blieb es still in der Leitung, und Bettina fiel siedend heiß ein, dass Desmoulins sich wahrscheinlich fragte, woher sie seinen Namen kannte und wusste, in welchem Hotel er wohnte. Aber zu ihrer Erleichterung verzichtete er darauf, sie danach zu fragen.
„Bedauere, Madame, ich muss morgen früh nach Paris abreisen. Ich habe einen Termin, den ich nicht absagen kann.“
„Es ist aber wichtig für mich, Sie zu sprechen. Möglichst bald.“
„Wenn das so ist, und wenn es für Sie noch nicht zu spät ist, dann kommen Sie doch jetzt. Wie lange brauchen Sie bis zum Kaiserplatz?“
„Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen.“
„Bon, ich warte auf Sie in der Lounge.“
Bettina nahm das Testament von der Couch, eilte in den Flur, nahm hastig ihren Mantel von der Garderobe, griff nach Handtasche, Haustür- und Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zu ihrem Coupé.