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Plüsch, Porno und Party

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Um meine Erregung abzureagieren, renne ich die Zachariasstraße entlang. Es sind nur wenige Autos und noch weniger Menschen unterwegs. Als ich in die Buschallee einbiege, ist die Straße wie leergefegt. Ich jogge die Strecke mehrmals in der Woche, wenn auch selten nachts um ein Uhr. Ich weiche einem Hundehaufen aus. Die Nachtluft ist milde. Es riecht nach Gras, und morgen früh sind bestimmt die ersten Blüten der Forsythien aufgegangen. Ich bin seit einer halben Stunde unterwegs und habe es gleich geschafft. Ich hätte vom Theater aus auch ein Stadtmobil nehmen können. Doch ich wollte laufen. Laufen und schwitzen. Mich spüren und gleichzeitig betäuben. Ich hatte geglaubt, im Publikum ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben. Das Gesicht von Alexander. Nach dem Schlussapplaus rannte ich sofort in den Zuschauerraum – in der Reihe, in der ich ihn vermutete, sah ich allerdings nur noch leere Stühle. Und kam mir dumm vor. Beim Gedanken an Alexander wird mir eiskalt, und ich erhöhe das Tempo. Ich weiß noch genau, wie »auserwählt« ich mich gefühlt hatte, als er mir vor Jahren einen Heiratsantrag machte. Als er mir den Ring an den Finger steckte, war ich glücklich. Nun dreht sich mir schon der Magen um, wenn ich bloß daran denke, dass er im Publikum gewesen sein könnte.

Kurz bevor ich den Altbau erreiche, wo ich im dritten Stock wohne, überholt mich ein Auto und zieht abrupt nach rechts auf den Bürgersteig. Ein Mann steigt aus dem teuren Wagen und versperrt mir den Weg. Ich zucke zusammen. Gleich darauf erkenne ich ihn im orangenen Licht der Straßenlaterne: Es ist Roland.

»Hast du mir einen Schreck eingejagt!«

»Ich habe dich auf der Bühne gesehen Viktoria – schon ein gewagtes Stück! Ich war mit Alexander in der Vorstellung.«

Also doch. Meine Knie werden weich. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf.

»Bist du mir gefolgt?«

»Ich hatte Alexander beiläufig nach deiner Adresse gefragt.«

»Was willst du hier, nachts um ein Uhr?«

»Ich dachte, wir könnten noch was trinken gehen. Komm, sag Ja. Bitte!« Er nähert sich. »Ich war schon immer scharf auf dich.«

Er versucht, mich an sich zu ziehen.

»Lass mich los.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Klar willst du. Du bist ein anständiger Kerl.«

Er lässt meine Schultern los. Was ist nur in ihn gefahren? Roland war einer der nettesten Freunde von Alexander gewesen. Er müsste jetzt knapp über fünfzig sein. Sein sich lichtendes Haar ist graumeliert. Er neigte schon immer zu einer gewissen Fülle, was sich heute deutlicher zeigt, als ich es in Erinnerung habe.

»Roland, was soll das?«

»Aus Respekt vor Alexander habe ich dich nie angemacht. Er ist mein bester Freund, und ich bewundere ihn.«

»Und was hat sich jetzt geändert?«

»Ihr seid geschieden. Und …« Er lacht rau. »Und du bist offensichtlich nicht prüde. Bei dem was ihr im Theater so treibt!«

Ein unangenehmes Frösteln läuft mir den Rücken hinunter. »Du spinnst. Lass mich vorbei, sonst schreie ich.«

Er weicht zurück, geht zur Fahrerseite. »Was bekommst du für einen Abend im Theater? Ich zahl dir das Doppelte, das Dreifache. Denk über meinen Vorschlag nach.«

Er steigt ein, fährt sofort los und ist gleich darauf verschwunden. Allein stehe ich auf dem menschenleeren Bürgersteig und zweifle, ob dieser merkwürdige Vorgang überhaupt stattgefunden hat. Da lassen mich meine Beine im Stich. Benommen setze ich mich auf die nächste Bank.

So also denken meine ehemaligen Freunde über das Theaterstück Abendessen mit berühmten Fotografen. Zuerst war es nur ein Geheimtipp unter kulturell Interessierten oder sexuell Aufgeschlossenen. Doch allmählich entwickelte sich das Lustspiel des Liliths Secret Theatre zum Dauerbrenner. Für jede Vorstellung ist die Nachfrage zwei- bis dreimal so groß wie die Zahl der verfügbaren Karten. Ausgedacht hat sich die sinnenfreudige Performance meine beste Freundin Gil, Künstlerin und Intendantin des Liliths Secret Theatre, das sich auf experimentelle Stücke spezialisiert hat. Beim Gedanken an Gil wird es mir wieder warm ums Herz.

Es war vor knapp einem Jahr, als ich mich auf eine Anzeige des Theaters gemeldet hatte und das Wagnis eines Auftritts eingegangen war. Danach stand sie mir im enggeschnittenen roten Latexkleid gegenüber und gratulierte mir zu meinem ersten Auftritt im Liliths. »Ich bin Gil«, hatte sie gesagt. Und: »Du hast mit deinem Auftritt zu einem sehr gelungenen Abend beigetragen. Alle genießen nun völlig enthemmt das Fest.« Was sie als gelungen bezeichnete, war für mich ein Desaster gewesen. Ich wollte diese Frau mit ihrer blassen Haut, dem rot geschminkten Mund und den lackschwarzen, zu einem Bubikopf geschnitten Haaren nie wieder sehen. Und Ralf, den Mann an ihrer Seite, der mich engagiert hatte, auch nicht.

Ich sage stumm »Danke«, dass sich seitdem so vieles geändert hat. Ich wollte die beiden dann doch wiedersehen. Ralf, weil er mit seiner Größe, seinen Grübchen, seinen lockigen Haaren, seinen Lachfältchen, seinen warmen grauen Augen, seiner Kreativität und Aufmerksamkeit meiner Vorstellung von einem Traummann sehr nahe kam. Die Grübchen mochte ich auf den ersten Blick, als ich ihm für die Bewerbung im Liliths gegenüber saß.

Gil, weil sie mich in Sekunden mit ihrer Präsenz, ihrer außergewöhnlichen Kleidung, ihrem selbstbewussten Blick, ja, der Art, wie sie ihre Zigarette hielt, überwältigt hatte. Außerdem konnte mein Leben nur besser werden. Ich misstraute mir und meinen Fähigkeiten als Kommunikationsdesignerin, hatte keine Freunde, keine Arbeit und keine Zukunftsvision, saß die meiste Zeit in meiner Wohnung und grübelte.

All das hat sich geändert! Ich habe sogar zwei Jobs. Schon morgens freue ich mich auf meine Arbeit in der Agentur vibrant nerves, deren Inhaber und Geschäftsführer Ralf ist. Nachmittags gehe ich eine Tür weiter zu Gil ins Theater und präsentiere ihr meine Recherche-Ergebnisse, Texte und Ideen. Aktuell planen wir gemeinsam das nächste Stück Alice im Vulva-Land. Viele Aufgaben, vor denen ich mich anfangs so gefürchtet habe, kann ich jeden Tag besser lösen. Ralf übernimmt die Bühnengestaltung, ich recherchiere die Inhalte, und Gil kümmert sich um den ganzen Rest. Das neue Stück war ihre Idee gewesen: Wir zeigen eine szenische Reise durch die Epochen, was in verschiedenen Jahrhunderten über die Lust der Frau geschrieben und aufgeführt wurde. Ich habe bei meinen Recherchen schon überraschende Informationen gefunden. Was für eine aufregende Sache!

Die Stücke sind sehr verschieden, beide jedoch sehr erotisch und ähnlich inszeniert: als Stationen-Theater, das die Zuschauer mit einbezieht.

Für den ersten Akt von Abendessen mit berühmten Fotografen dienten als Inspiration Fotos von Künstlern und Künstlerinnen, die die erotische Fotografie geprägt haben. Ich habe eine kleine Rolle und spiele ein schüchternes Modell, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zu zeigen und sich zu verstecken. Nur für wenige Minuten ist mein Busen entblößt. Doch offensichtlich genügte dies, um Roland zu ermutigen.

Trotz seines Erfolges läuft das Stück nur an zwei Wochenenden im Monat. Wir wollen die Spiellust und Spontanität des Ensembles und der Gäste nicht durch zu viele Aufführungen überstrapazieren, denn das Stück lebt davon, dass die Schauspieler auf Zurufe aus dem Publikum reagieren. Unser Mitmach-Programm hat sich in der hedonistischen Szene herumgesprochen. Sobald eine weitere Aufführung des Stückes angekündigt wird, sind die Karten schnell ausverkauft. Im vergangenen Jahr wollten tausende von Besuchern dabei sein. Viele von ihnen besuchen die Aufführungen mehrmals und spielen immer wieder begeistert mit. Schon vor Beginn der Vorstellung schreitet Ella als sinnliche Rubensfrau wie eine Göttin die Treppen im Haus auf und ab. Im Foyer werden kleine Szenen gespielt. Wer das Theater zum ersten Mal besucht, bemerkt nicht, wer von den Akteuren zum Ensemble gehört und wer von den Besuchern mitmischt. Das Publikum folgt unserem Dresscode, trägt wie die Schauspieler sexy Kostüme, Glitzer und Glamour.

Als sich der große Publikumserfolg abzeichnete, haben wir im Theaterfoyer eine Fotowand aufgestellt und davor Requisiten arrangiert: ein dick gepolstertes ockerfarbenes Sofa, verschnörkelte Stühle, ein ovaler Tisch mit Vase, Gläser und Champagnerkühler. In einer Vase sind üppig rote Rosen drapiert. Dort inszenieren sich Besucher, um Teil einer großen analogen Fotocollage zu werden, die wir auf Instagram unter einem dafür generierten Hashtag veröffentlichen. Ansonsten ist es verboten, im Haus zu fotografieren oder zu filmen.

Die Vorstellung auf der Bühne folgt keiner starren Handlung. Die Begegnungen zwischen den Schauspielern wirken wie zufällig. Immer wieder agieren Darsteller mit Zuschauern. Gil wählt, ganz Diva, aus vorüberflanierenden Männern einen Liebhaber aus. Marc und Philipp haben sich Vintage-Hasselblad-Kameras umgehängt. Sie sind die Einzigen, die die Szenen, die zwischen subtiler und offener Erotik changieren, ablichten dürfen. Die Mischung der Szenen zeigt, welch ein unendliches Spektrum die Lust bietet: Sie kann kurios, radikal, zart, tief, widersprüchlich, albern, kraftvoll und vieles mehr sein. Ob das Stück deshalb so erfolgreich ist?

Rolands Vorstellungswelt hat es offensichtlich nicht entscheidend erweitert. Ich sehe es bildlich vor mir, wie er nach dem Besuch im Theater mit Alexander noch ein Glas Champagner getrunken hat und wie sie über Frauen sprachen, die es wert waren, von ihnen gefickt zu werden. Sie werden nie begreifen, dass Frauen keine Ware sind, die sie wie Möbel in einem Designerladen aussuchen und mit nach Hause nehmen können, wenn sie nur genügend dafür bezahlen. Das war es doch, was mir Roland vor nicht einmal zehn Minuten angeboten hat. Aus der Tatsache, dass ich mich auf der Bühne freizügig präsentierte, hat er nur den einen Schluss gezogen: Jetzt ist sie leichte Beute. Eine andere Botschaft, um die es eigentlich geht, scheint ihn nicht erreicht zu haben: frivol – ja. Freiheit – ja. Grenzen respektieren – ja. Achtsam sein – ja. Lust haben – ja. Frauen anschauen – nein. Frauen überrumpeln – geht gar nicht.

Vielleicht ist Abendessen mit berühmten Fotografen aber auch wegen des zweiten Aktes so erfolgreich: Sophia spielt eine der drei jungen Schwestern aus Ellen von Unwerths Sado-Maso-Märchen Revenge. Sind Frauen im klassischen Märchen meist sittsam und brav, sind die Protagonistinnen in diesem Fotoroman kein bisschen tugendhaft, sondern frech und freizügig. Sie brechen zu einem Kurzurlaub auf das Schloss ihrer Tante auf. Ihre Tante verstrickt sie, gemeinsam mit ihrem Chauffeur und dem Stallburschen, in erotische Machtspiele, in denen die drei Mädchen die Unterlegenen sind. Es kommt kein Prinz, der die jungen Frauen aus ihrer Gefangenschaft befreit. Das schaffen die drei allein. Mehr noch, sie üben Rache, indem sie die Machtverhältnisse umkehren. Dabei behalten sie ihre Sinnlichkeit und ihre Lust an der eigenen Sexualität. Die ganze Geschichte ist leicht und locker inszeniert. Vermutlich erkannte Roland auch hier nicht, dass es nicht darum geht, schönen Menschen zuzusehen, wie sie sich gegenseitig fesseln, schlagen und quälen. Sondern dass Frauen, die sich die Macht über ihren Körper zurückholen, nur gewinnen können.

Vielleicht sind die Abende inzwischen auch wegen der After-Show-Party so populär geworden, immerhin reisen Menschen aus London, Zürich und Paris extra für ein Wochenende an. Ich habe die Party dieses Mal sausen lassen. Die Aussicht, dort eventuell Alexander zu begegnen, hatte mich verstört. Allerdings war die Vorstellung, er würde sich unters Partyvolk mischen, absurd. Obwohl sich dem Herrn Professor da eine passende Gelegenheit geboten hätte, die eigene Beschränktheit aufzubrechen.

Viele Gäste wechseln nach der Aufführung die Kleidung. Diesen Moment liebe ich. Wie aufgeregt das bürgerliche Aussehen fallen gelassen wird und wie anders diese Menschen plötzlich aussehen. Der Mann, der gerade noch einen Abendanzug trug, tanzt jetzt in enganliegenden Boxershorts, mit Hosenträgern und Stiefeln zum Technosound im Foyer. Die Frau, die sich eben aus einem Paillettenkleid schälte, lässt ihre weiblichen Rundungen frei unter einem Kettenkleid schwingen.

Ich liebe es, wie jede Geste eine Verheißung wird, die Atmosphäre im Saal knistert und es doch nicht zum »finalen« Ende kommt – die große Orgie findet nicht statt. Die ist allein den Motto-Partys im Dark Light – Der Club für Ihre Wünsche und dem großen Fetischball vorbehalten. Ebenfalls zwei Projekte von Ralf und Gil. Ich war ziemlich überfordert, als ich kürzlich an so einer Party im Club teilgenommen hatte.

Das alles geht mir durch den Kopf, während mir allmählich die Kälte unter die Haut kriecht. Steif erhebe ich mich von der Bank, schüttle Arme und Beine, bevor ich, so schnell ich kann, wieder losrenne.

Meine großzügige Zweizimmerwohnung umfängt mich wie eine warme Decke. Mit allem, was sich darin befindet, ist sie mein Ort der Geborgenheit. Die geerbten antiken Möbel, die Bücher, die auf und um das königsblaue Samtsofa verstreut liegen, die mit Gemälden und Spiegel geschmückten Wände. Das Licht, das von der grau gestrichenen Zimmerdecke auf das Eichenparkett fällt und es in sanftem Beige schimmern lässt. All das ist mir vertraut und wirkt beruhigend. Im Flur kicke ich die Turnschuhe von den Füßen und gehe ins Badezimmer. Rasch streife ich die verschwitzten Kleider ab und steige unter die Dusche. Das heiße Wasser tut gut! Wohlig aufgewärmt trockne ich mich ab, schlüpfe in mein Nachthemd und dann ins Bett. Die Decke ziehe ich bis zum Hals. Still liege ich da und lausche den Geräuschen des Hauses: Das Parkett knarzt, in der Wohnung unter mir rauscht die Toilettenspülung. Unbewusst horche ich auf Klangspuren von Eindringlingen. Während ich an die Decke starre, schleichen sich Gedanken an den beängstigenden Teil meines Lebens an, der mehr als ein Jahr hinter mir liegt. Eine Zeit, in der ich mich nur mit meiner Figur, meiner Garderobe und dem beschäftigt hatte, was Alexander wichtig war. In seiner Welt gab man schon mal sechshundert Euro für ein Essen aus, verhielt sich Frauen gegenüber oberflächlich auch respektvoll, jedoch nur wenn sie schön waren und den Mund hielten. Heute arbeite ich in dem Beruf, für den ich studiert habe. Es geht mir gut mit meiner Theater-Clique. Ella, Sophia, Philipp, Gil und Ralf bringen mich in meiner Entwicklung weiter. Sie offenbaren mir Welten, zu denen ich vorher keinen Bezug hatte. Mehr und mehr gelingt es mir, Kräfte zu mobilisieren, von denen ich überhaupt nicht ahnte, dass ich sie habe. Und damit schwindet meine Angst immer mehr. Die Angst anzuecken, die Angst, Fehler zu machen. Die wunderbare Zukunft, das Abenteuer finde ich bei meinen Kollegen vom Theater, die mittlerweile die wichtigsten Menschen für mich geworden sind.

Gil hat mir ein verlockendes Angebot gemacht. »Ich bin eine Träume-Erfüllerin«, sagte sie. »Ich sehe, was vor meinen Augen geschieht. Du bist verliebt in Ralf, und Ralf ist verliebt in dich, und ihr verbringt schon so manche Stunde im Bett miteinander. Ich bin verliebt in dich und du vielleicht auch in mich. Ralf und ich sind ein vertrautes Paar. Eine wunderbare Situation. Lass uns intime Freunde sein.«

Wie wir das gestalten, weiß ich noch nicht, es ist eine ganz neue Situation für mich. Doch Gils Vorschläge sind erfahrungsgemäß aufregend, und auch dieser verspricht eine Menge Überraschungen. Die Erinnerung an François, den Franzosen, streift mich kurz, und ich lächle. Mit seinem Bild vor Augen schlafe ich ein.

Einen Tag später bin ich bereits wieder in dem prächtigen Sandsteinbau aus dem 19. Jahrhundert, in dem das Liliths Secret Theatre untergebracht ist. Ich sitze in Gils Büro. Ihr Schreibtisch ist vor lauter Malutensilien kaum zu sehen, und ihr extravagantes Parfüm mischt sich mit dem Duft der zahlreichen Bücher, die in dem großen Regal stehen. An Gil ist alles außergewöhnlich. Die Wildlederstiefel, die gemusterten Strümpfe, der Rock, die halbtransparente Bluse, deren Volants an den Ärmeln bis zu den Fingerknöcheln reichen. Die großen Ringe, die sie an beiden Händen trägt. Mit einem drückenden Kloß im Hals erzähle ich ihr von der nächtlichen Begegnung mit Roland. Sie scheint über den glimpflichen Ausgang sehr erleichtert.

»Wie geht’s dir damit?«, fragt sie.

»Das letzte Jahr war so verrückt! Nie, wirklich nie hätte ich gedacht, so weit zu kommen … Erinnerst du dich, wie wenig Bewegung in meinem Spiel war? Ach was! In meinem ganzen Leben! Und nun bin ich aktiv und lebendig.« Ich lache. »Roland scheint auch gemerkt zu haben, dass ich mich verändert habe. Früher hätte ich über seine geschmacklose Anmache albern gekichert.«

Beim Sprechen wird mir klar, dass ich mich nie wieder klein halten lasse, mich nie wieder mit einem Platz im Schatten zufriedengeben will. Ja, ich habe spektakuläre Fortschritte gemacht. Ich habe mir Freiheiten erkämpft, die mir in meinem bisherigen Leben fehlten.

Da sitze ich dieser klugen Frau gegenüber, die ich so sehr begehre. Auf ihrem Gesicht breitet sich das vertraute Lächeln aus. So, als ob sie Bescheid wüsste. Bescheid über meine Gedanken und darüber, wie Erregung in mir aufsteigt, weil ich berauscht bin von ihrem Geruch, von ihrer knabenhaften Figur, von ihren tiefbraunen Augen. In ihrer Nähe ist alles so leicht, so selbstverständlich. Sie wird mich retten, vor mir selbst, vor meiner Vergangenheit. Sie lehrt mich täglich, der Angst ins Gesicht zu sehen, meinen Körper zu spüren, zu vertrauen und zu wachsen.

Unerwartet beugt sie sich vor, greift in mein Haar, zieht meinen Kopf zu sich und küsst mich. Ich bin größer als sie, mache mich klein und rund für diesen Kuss, unter dem mein Körper bebt. Ihre Zunge ist forsch, schiebt sich zwischen meine Zähne. Ich lege meine Hand auf ihren Busen, streichle mit dem Daumen ihre Brustwarze, ertaste ihr Piercing durch den dünnen Stoff ihrer Bluse und spiele sanft damit. Mitsamt ihrem Bürostuhl zieht sie sich näher an mich heran, ohne den Griff in meinem Haar zu lockern. Meine Kopfhaut schmerzt. Ich keuche. Da löst sie sich, schiebt sich langsam wieder weg, streicht ihren Rock glatt.

»Hey, wir müssen rüber. Wir sind die Gastgeberinnen.«

Womit sie leider recht hat. Mein Puls pocht wie wild, so sehr hat Gil mein Verlangen angeregt. Aber ich beherrsche mich, nicke zustimmend und folge ihr aus dem Zimmer.

Gil schließt das Büro ab, und gemeinsam gehen wir den Flur entlang zum Theatercafé, das sonntagabends normalerweise geschlossen ist. Heute jedoch ist es der Veranstaltungsort für die Premiere des Roten Mond Salons.

Magie

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