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Roter Mond Salon
ОглавлениеIm Theatercafé laden Sofas, Sessel und bunt zusammengetragene Stühle zum Sitzen ein. Gerahmte Plakate, die für vergangene Theateraufführungen werben und von vibrant nerves gestaltet wurden, schmücken einen Teil der weißen Wände. Ein indirekt beleuchtetes Regal aus edlem Holz nimmt eine komplette Wand ein. In den Fächern glitzern edle Spirituosenflaschen und Gläser. Im Hintergrund ertönt ruhige Instrumentalmusik.
Ella und Sophia stellen kleine Schälchen mit salzigen und süßen Knabbereien, Gläser und Wasser auf die Tische. Zusammen sind wir ein schräges Freundinnen-Quartett: Ella tritt seit ihrer Rückkehr aus London, wo sie ein Performing-Art-College besucht hatte, regelmäßig im Liliths Secret Theatre auf. Sie strotzt vor Selbstvertrauen und geballter Weiblichkeit. Sophia ist zart und wird deshalb von vielen unterschätzt. Doch ich habe sie bei verschiedensten Auftritten neugierig und mutig erlebt. Außerdem hat sie einen Lehrstuhl an der Hochschule für Textildesign.
Googelt man Gil, findet man eine Menge Interviews mit ihr, in denen sie sich zur Performance Art äußert. Eine Kunstform in der Frauen Pionierinnen waren. Da Frauen immer wieder über ihren Körper definiert werden, sei es logisch, den Körper und dessen Identität ins Zentrum ihrer Kunst zu stellen, meint Gil. Es sind Interviews dabei, in denen Gil Künstlerinnen, nein, eigentlich alle Frauen dazu auffordert, dem sogenannten männlichen Blick auf Erotik und Sexualität eine eigene Sichtweise entgegenzusetzen. Gil schreibt gegen Sexismus im Allgemeinen und im Besonderen in der Kunst- und Theaterszene an. Man findet im Internet Fotos aus ihrer Studienzeit, auf denen sie berauschend schön ist, auf manchen nackt, auf denen sie sich als Göttin Lilith oder Kali inszeniert, auf denen sie eine Sphinx darstellt, dieses Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Der Eros zieht sich wie ein roter Faden durch Gils Selbstporträts und wie eine Ahnung, dass diese Frau gefährlich und mächtig ist.
Die ersten Frauen betreten das Theatercafé. Kurze Zeit später wimmelt es von neugierigen Besucherinnen, und die meisten drängen sich an der großen Theke. Ich schenke Begrüßungssekt und Säfte aus und verweise auf die Namensetiketten. Um Frauen anzusprechen, die sich in einem besonderen Rahmen über weibliche Sexualität austauschen wollen, hatten wir Plakate im Theater, im Dark Light, am schwarzen Brett der Universitäten und in verschiedenen Kultureinrichtungen der Stadt aufgehängt. Nun zeigt sich, dass sich viele unserer Besucherinnen bereits kennen oder schon mal Sophia, Ella oder Gil begegnet sind. Der Salon sollte längst beginnen. Doch überall unterhalten sich die Frauen angeregt in Grüppchen.
Gil wartet zwanzig Minuten, dann steigt sie auf die Minibühne. Sie breitet ihre Arme weit aus und begrüßt alle Anwesenden mit einem charmanten Lächeln. »Guten Abend. Danke, dass ihr alle gekommen seid. Es bedeutet mir viel«, sagt sie und legt eine Hand auf ihre Brust. »Was ich heute mit euch beginnen möchte, ist mir und meinen Freundinnen eine Herzensangelegenheit.«
In ihrer einladenden Geste sind wir drei, Ella, Sophia und ich, eingeschlossen. Wir haben uns neben dem Podium aufgestellt, damit die Frauen wissen, wen sie ansprechen können.
»Gemeinsam mit euch möchte ich einen Forschungsraum eröffnen.« Sie verstummt, und der kurze Moment ihres Schweigens verleiht diesem Angebot eine besondere Bedeutung.
»Vorher möchte ich noch ein paar Vorurteile über den angeblich lustfeindlichen Feminismus zur Seite räumen.« Ihre Stimme ist klar und laut. »Ja, ich weiß. Dieses Wort hört ihr nicht so gerne. Ich hoffe, ihr verschließt jetzt nicht gleich eure Ohren.«
Schützend legt sie die Hände auf ihre eigenen. Ein paar Frauen lachen.
»Man will uns einreden, Feministinnen seien Spaßbremsen und das nur, weil wir klarstellen, dass der Körper der Frau keine Ware und Sexualität keine Währung ist. Sex braucht Einverständnis. Ein Ja, ich bin einverstanden, dass du mich berührst, und das Ja zur sexuellen Handlung an sich. Darum geht es uns.«
Sie hält einen Moment inne, um ihren Worten eine stärkere Wirkung zu verleihen.
»Feministinnen sind keine Spaßbremsen, nur weil sie die gewalttätigen und frauenfeindlichen Darstellungen in Sexvideos, Computerspielen und Werbung satthaben. Klar verdirbt das den Männern den Spaß, die immer noch an die Überlegenheit des Mannes glauben. Das ist allerdings deren Problem.«
In meinem »vorigen« Leben, wie ich die Zeit nenne, bevor ich das erste Mal im Liliths auftrat, kannte ich keine Frau, die Gil auch nur ansatzweise ähnlich war. Ihr zuzuhören ist für mich jedes Mal eine Offenbarung. Ihr zuzusehen, wie sie mit wenigen anmutigen Gesten Glaubenssätze beiseite wischt, ist beflügelnd.
»Immerhin reden wir bereits darüber, was wir nicht möchten. Das ist fantastisch. Doch wir reden immer noch viel zu wenig darüber, was wir mögen. Was geht in eurem Kopf vor, wenn ihr Sex habt? Das ist eine sehr persönliche Frage. Und vielleicht fürchten wir uns, darauf zu antworten. Weil die Antwort nicht in unser Bild von Gleichberechtigung passt? Weil weibliches Begehren verurteilt wird, sobald es nicht der Norm entspricht? Auch von Frauen. Doch wie kann es für Begehren eine Norm geben? Wie wollen wir unsere erotische Vorstellungswelt, die Art unseres Verlangens und unsere Wünsche erweitern, wenn wir nicht darüber sprechen? Deshalb die Frage: Was und wie begehren Frauen? Du, ich, wir?«
Mir wird heiß und kalt zugleich. Da ist sie, die Frage, auf die ich eine Antwort habe, die mir nicht gefällt, und ja, ich will nicht darüber sprechen. Grundsätzlich finde ich es wichtig, jeden Menschen zu achten. Und das tue ich auch. Gewalt lehne ich ab, und dennoch spiele ich mit diesem Kick. Der Fürst ist stark, schön und faszinierend. Er darf mich würgen, er darf mich schlagen, und er darf mir sagen, dass er weiß, was ich brauche und das sind weitere Schwänze. Den vom Hünen und den vom Prinzen, und alle drei wissen, dass ich grob genommen werden will. Mein Körper reagiert auf diese Sexszenen in meinem Kopf mit starker Erregung, obwohl oder gerade weil es ein Hardcore-Porno ist. Diese Herren der Hölle, so nenne ich sie, sind mein Dilemma, und sie existieren schon seit Langem in einem Paralleluniversum in mir. Waren sie früher zuverlässig nach jeder Auseinandersetzung mit Alexander aufgetaucht, sind ihre Auftritte zwar weniger geworden, doch nicht minder intensiv. Ich werde hier nicht über meine gnadenlosen Geister sprechen, das habe ich mir fest vorgenommen.
Gil kennt meine Fantasien und hilft mir, sie einzuordnen und manchmal auch auszuleben.
Seitdem gelingt es mir immer öfter, sie wegzuschieben. Warum ist das überhaupt wichtig? Weil ich jedes Mal, wenn es mir nicht gelingt, hinterher den Menschen verachte, den ich eigentlich lieben sollte: mich.
Ich straffe meine Schultern. Und merke, dass ich den größten Teil von Gils Rede verpasst habe.
»Wenn wir frei von Ängsten und Tabus ausprobieren könnten, was wir erleben möchten, was wäre das? Was finden wir in uns, wenn wir Bilder aus Pornos, Werbung und Filmen ausblenden? Was war das Beste, was ich erfahren habe? Wann fühle ich mich als sexuelles Wesen? Wie nenne ich mein Geschlecht?« Gil lässt ihren Blick über die Frauen schweifen. Alle hören aufmerksam zu.
Sichtlich bewegt spricht sie weiter. »Sind das einfache Fragen? Ich glaube nicht. Obwohl an unserem Geschlecht nichts Schmutziges oder Hässliches ist, scheint es schon schambesetzt zu sein, seinen Namen auszusprechen.«
Eine blonde Frau mit tiefschwarz getuschten Wimpern sitzt auf einem Barhocker. Auf ihrem Namensschild steht PIA. Sie tuschelt mit der Frau im karierten Anzug neben sich. Dann lacht sie und wirft in einer provokanten Geste ihre Haare zurück. Sie trägt große Ohrringe, die die Form einer Vulva haben.
»Wie schön! Hier hat sich eine von uns davon befreit«, reagiert Gil sofort darauf. »Wie wir das Geschlechtsorgan nennen, zeigt, welche Bedeutung es für uns hat.«
Pia ruft: »Honigtopf!« Und zieht damit weitere Blicke auf sich. »Damit locke ich die Männer an und lasse sie daran schlecken.« Einige Frauen klatschen spontan.
»Danke! So einfach kann es sein, wenn wir uns trauen, darüber zu sprechen. Weitere Ideen? Scheide?«
»Gruselig!«, ruft die Frau im karierten Anzug.
»Klingt nach Mittelalter und Medizin«, ergänzt Pia.
»Vagina? Muschi? Vulva? Geheimer Garten? Ihr könnt euch gleich über die Begrifflichkeiten austauschen.«
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie cool ich es fände, wenn nun alle anwesenden Frauen mit den Füßen stampfen und dazu im Takt Vul-va-Vul-va-Vul-va rufen würden. Das muss ich nachher unbedingt Ella sagen, sie könnte so etwas initiieren.
»Es ist also nicht damit getan, dass ihr mir heute einfach zuhört. Beteiligt euch, zeigt euch! Ich weiß, das kostet Mut. Doch wir sind keine Richterinnen, die urteilen oder gar verurteilen, die entscheiden, was gestört und was normal ist. Was ist schon normal? Es gibt Unterschiede, einfach deswegen, weil es unterschiedliche Frauen gibt. Glaubt mir, die Norm ist ein zu schmaler Grat für uns vielfältige Weiber.«
Alle lachen, manche in ihrer Anspannung zu laut.
»Außerdem können wir nicht einerseits für ein eigenes Begehren plädieren und andererseits ein Verhalten ablehnen, weil es uns vielleicht zu verklemmt oder zu progressiv erscheint oder sonst wie von der eigenen Vorstellung abweicht. Es geht nicht darum, bestimmte Handlungsweisen oder Fantasien aus dem Repertoire zu streichen, sondern um die Erweiterung des Spektrums. Vorausgesetzt …«
»… alle Beteiligten sind einverstanden!«, ergänzt Ella mit lauter Stimme und bewegt ihre Arme wie eine Dirigentin. Ich mustere die anwesenden Frauen verstohlen und freue mich, wie sie lockerer werden.
»Die Fragen, die ich aufgeworfen habe, beantworten wir sicher nicht alle heute. Wie schon gesagt, wir forschen.«
Beifälliges Nicken.
»Unterstützt werde ich heute von Ella, Sophia und Viktoria, die euch gleich erzählen wird, wie wir uns den Austausch beim Roten Mond Salon vorstellen. Ach ja, wer mich noch nicht kennt: Ich bin Gil Gardner, die Intendantin des Liliths. Außerdem bin ich Künstlerin, und, falls es euch beruhigt, ich habe einen Master of Science in Psychologie.«
Dann schaut sie mich an. »Viktoria, du hast das Wort.«
Ich trete vor. »Hallo.« Meine Stimme klingt dünn. »Ein herzliches Willkommen. Ich möchte euch erklären, wie wir uns den Abend gedacht haben.«
»Könntest du bitte etwas lauter sprechen?«, ruft eine rothaarige Frau, die weiter hinten auf einem Sofa sitzt. Unsicher schaue ich zu Gil. Sie nickt und winkt. Mit zitternden Knien steige ich die drei Stufen zum Podium hinauf. Und ich schaffe es, ohne zu stolpern. Ich atme ein und versuche, so selbstsicher zu sprechen wie Gil. Auch wenn ich dadurch deutlicher und lauter werde, klingt meine Stimme schrill. »Wir bilden drei Gruppen und verteilen uns an den Tischen.« Dabei zeige ich auf die Arbeitsinseln, die die Bühnenarbeiter nach meiner Zeichnung aus mehreren Tischen gebildet haben und auf denen Papiertischdecken liegen. »An jeder Insel beschäftigen wir uns mit einer anderen Frage. Ihr könnt von einem Tisch zum nächsten gehen. Ihr trefft dort Ella, Sophia oder mich, und wir erzählen uns gegenseitig von unseren Ideen. Gil hat bereits ein paar Anregungen auf die Papiertischdecken geschrieben. Ihr könnt gerne eure eigenen Gedanken dazu malen oder schreiben.« Beruhigt merke ich, dass meine Stimme nun normal klingt. »Ihr habt genug Zeit, an alle Tische zu gehen. Dann gehen wir in die große Runde, wo wir alle unsere Gedanken miteinander verbinden und diskutieren wollen. Bevor wir beginnen, gebe ich an Ella weiter, die uns mit einer Körperreise einstimmt.«
»Ich bitte euch, alle aufzustehen«, sagt Ella. Es wird kurz unruhig im Raum, als sich die Frauen von Sofas und Stühlen erheben.
»Wie fühlt ihr euch an dem Platz, an dem ihr gerade steht? Fühlt er sich gut an? Nein? Dann geht herum, sucht euch einen besseren.«
Ella spricht in einer tiefen Stimmlage, die ich bisher selten gehört habe. Sie klingt angenehm durch den gesamten Raum, während die Frauen einen neuen Platz erspüren. Einige treten nur kurz von einem Fuß auf den anderen. Manche gehen einige Schritte. Gil und ich steigen vom Podium. Sie umarmt mich rasch.
»Ist jede von euch zufrieden?« Zustimmendes Gemurmel. »Dann suche bewusst den Kontakt zum Boden. Stehe sicher auf beiden Beinen. Schließe die Augen. Atme tief aus und ein.«
Es wird ruhig im Theatercafé. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, die meisten Frauen sind Ellas Anweisungen gefolgt.
»Denke an einen schönen Sex-Moment mit einer anderen Person, oder als du allein mit dir warst. Komme in Kontakt mit deinem erotischen Wesen. Ist es von flirrendem Charakter, heiß und schnell? Oder ist es im Kern langsam? Egal, wie dein Stimulus ausfällt, ob er in der Fantasie oder in der konkreten Berührung liegt, lehne deine erotischen Wünsche nicht ab. Auch wenn sie manchmal irritierend sein mögen. Akzeptiere sie! Sie gehören zu dir! Ihr wisst, gerade Verbotenes ist anregend, und gesellschaftliche Korrektheit langweilt.«
Einige Frauen lachen wissend.
»Spüre bewusst den Lebensstrom deines Verlangens. Wie er von deinem Becken aufsteigt, sich ausbreitet. Bewege deine Hüften, schwinge in deinem Rhythmus.« Ella lacht leise und sanft. Sie macht eine kleine Pause bevor sie wieder spricht. »Ist diese Bewegung schon Sex? Kreise weiter! Spüre dich in deiner Stärke und auch Verletzlichkeit. Genieße beides!«
Ihre warme, tiefe Stimme entspannt mich. Ella summt und bewegt sich neben mir. Ich spüre ihre Körperwärme und die der anderen Frauen.
»Frage dich nun: Welche Sexualität brauche ich? Befreie sie von jeder Peinlichkeit und Scham, die nur dazu dient, dich gefangen zu halten.«
Mir gefällt die Vorstellung, weiß jedoch, dass ich weit davon entfernt bin, frei von Ängsten zu sein. Auch wenn Roland glaubt, ich sei nun anders und unanständig, nur weil ich in Liliths Secret Theatre auftrete, bin gerade ich eine Gefangene meiner drastischen Fantasien.
»Halte die Augen noch geschlossen. Spüre dich, berühre dich lustvoll, wenn du magst.«
Ich höre Rascheln und das Streicheln über Stoffe, wage jedoch nicht, meine Augen zu öffnen. Seltsam, wie verbunden ich mich mit den vielen unbekannten Frauen fühle. Das liegt vor allem an Ellas besonderem Talent. Sie gibt einem das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Ich lasse mich in diesen geschützten Raum fallen. Vergesse Roland, vergesse Alexander, vergesse die Herren der Hölle.
»Und nun komme zurück hier in den Raum, sei präsent und wach.« Ich öffne die Augen. Ella verneigt sich. Und wir verneigen uns vor ihr.
»Ich, wir begrüßen dich als Frau und das sinnliche Wesen in dir. Wir heißen die Göttin in dir willkommen.«
Ich bewundere ihre Gelassenheit, mit der sie diese tiefen Gefühle aussprechen kann. Sie ist eine Göttin für mich.
Eine Brünette mit Sommersprossen klatscht zögernd. Eine ganz in schwarz gekleidete Frau sagt: »Wundervoll, danke.« Auch sie klatscht, andere stimmen ein, und schließlich füllt donnernder Applaus den Veranstaltungsraum.
Ella grinst. »Eins ist klar: Erotik ist etwas Erlerntes. Wir haben gelernt, was sexy ist und was angeblich nicht. Wir haben gelernt, Schwächen zu verstecken und unser Begehren beiseitezuschieben. Machen wir es heute besser. Frauen, bitte zu den Tischen. Heute fehlen uns nicht die Worte, wie das meistens beim Thema Sex der Fall ist.«
Wir zählen durch, von eins bis drei, und schnell haben sich die Gruppen gefunden.
Als wir im Vorfeld darüber gesprochen hatten, wer welchen Tisch betreuen könnte, schlug Gil vor, dass ich die Gruppe mit den Fantasien leiten könnte.
»Über meine Fantasien werde ich schweigen. Ich gehe das Risiko nicht ein, von den Frauen missverstanden zu werde.«
»Ich dachte, du wärst weiter.«
»Wir wissen doch gar nicht, wer kommt. Nachher erklärt mir eine Feministin, dass ich ein Verhaltensmuster hätte, das aus den Fünfzigern stamme, als Frauen noch von Männer überwältigt werden wollten, um ihre eigene Scham zu umgehen oder damit sie nicht als Schlampen galten. Dass dies nicht auf mich zutrifft, weiß ich. Dank deiner Hilfe, Gil, konnte ich schon so viel in mir erforschen. Praktisch und theoretisch.« Ich denke an die theatralischen sexuellen Inszenierungen, die sie für mich aufgrund unserer Gespräche arrangierte und die mich erfahren ließen, wie lustvoll es ist, eigene Fantasien in geschütztem Umfeld auszuleben. Diese Erfahrung brachte viel Licht an diesen geheimen Ort in mir, den ich über all die Jahre fest verschlossen hatte. »Trotzdem bin ich noch nicht so weit, um einer Diskussion im Roten Mond Salon standzuhalten.«
»Obwohl gerade hier der Ort für Vertrauen ist. Hier könntest du üben, dich nicht mehr zu schämen. Darum geht es ja – jedes Begehren zuzulassen«, ermunterte mich Gil.
»Wenn es irgendwann einmal so weit ist, wäre das großartig.«
»Dann übernimm den Tisch über das weibliche Geschlecht. Da hast du gerade einen großen Schritt gemacht, was die eigene Wertschätzung angeht.«
Das stimmt, doch ich zögerte. »Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Probiere es aus. Wenn du die Situation nicht mehr bewältigen kannst, was, glaube ich, nicht passieren wird, sind Ella, Sophia und ich da und unterstützen dich.«
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, keine Rücksicht mehr auf meine Ängste zu nehmen.
»Okay, ich versuche es«, willigte ich ein.
Und so stehe ich kurz darauf mit sechs Frauen am World-Café-Tisch. »Mein Name ist Viktoria. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Zurzeit recherchiere ich zur Geschichte der Vulva fürs neue Theaterstück im Liliths. Da bin ich auf interessante und beglückende Informationen gestoßen, die ich mit euch teilen will.« Ich liebe es, wenn Dinge sich ergänzen, zusammenfügen und Neues daraus entsteht. Und plötzlich spüre ich, dass ich den Frauen, die mich erwartungsvoll anschauen, wirklich von diesen Ergebnissen erzählen möchte.
»Der Teufel soll beim Anblick der Vulva das Fürchten gelernt haben. Doch nicht weil die Vulva so hässlich ist – nein –, das will man uns nur weismachen, sondern weil sie so mächtig ist, dass sogar der Teufel vor ihr erschrickt.«
Ich merke, dass ich etwas Persönliches berichten muss, wenn ich dasselbe von den Frauen erwarte. Davor fürchte ich mich. Ich spüre Adrenalin durch meine Adern rauschen. »Es ist wichtig für mich, in dieser Gruppe zu sein, weil ich es nie seltsam gefunden habe, einen Schwanz zu bewundern und ihn in den Mund zu nehmen.« Ich schaue auf meine Hände. »Es jedoch als peinlich empfunden habe, wenn jemand zu meinem Geschlecht gesagt hat, dass es schön sei. Wenn ein Mann mich da unten …« Ich muss lachen und als ich aufsehe, blicke ich in grinsende Gesichter. »O nein – jetzt habe ich das schreckliche Unwort ›da unten‹ tatsächlich selbst gesagt, lecken wollte, fühlte ich mich extrem unwohl und dachte sofort darüber nach, ob ich gut rieche. Ein Mann sagt einfach, fass meinen Schwanz an oder meine Hoden. Ich kannte den korrekten Ausdruck für mein Geschlecht gar nicht. Wie sollte ich da sagen, was ich möchte? Ich muss gestehen, dass ich lange nicht wusste, dass der sichtbare Bereich Vulva heißt und nur der innere Teil Vagina. So, nun ist es raus. Ich bin auf dem Weg, mein Geschlecht mehr zu genießen. Hier zu sein und euch zuzuhören, wird mich weiter stärken. Stellt euch doch bitte kurz vor. Gerne mit einem Satz, warum ihr hier seid.«
Die Frau mit den Vulva-Ohrringen sagt: »Ich bin Pia, bin zweiundzwanzig Jahre alt, und mich interessiert einfach alles, was mit Sex zu tun hat. Ich studiere Kunst und war schockiert, als mir klar wurde, dass es ein Darstellungsverbot des weiblichen Lustorgans gab. Bestimmt bis ins 20. Jahrhundert hinein. Meine Antwort darauf könnt ihr hier bewundern.«
Sie zeigt auf ihr Ohrgehänge. »Ich fertige auch Vulva- Anhänger und andere Schmuckstücke.«
»Ich heiße Franziska und werde bald dreißig. Ich habe mich nie nackt gezeigt, auch vor Frauen nicht. Und ich habe mich gefragt: Warum eigentlich nicht? Ich kam darauf: Vieles an mir finde ich hässlich, weil ich nicht dem entspreche, was ich jeden Tag sehe. Ihr wisst schon, in Zeitschriften und so oder auf Instagram. Ja, leider.«
Ich atme tief durch, um den Impuls zu vertreiben, ihr zu sagen, dass ich sie hübsch finde. Stattdessen lächle ich freundlich und sage: »Danke.«
»Ich heiße Lotta. Muss ich mein Alter verraten?«, sagt die Frau mit den Sommersprossen, die als Erstes spontan geklatscht hat.
Ich schüttle den Kopf. »Sag einfach das, mit dem du dich wohl fühlst.«
»Ich habe kein Wort dafür. Wann sollte ich es benutzen? Ich spreche nicht so oft über mein Geschlechtsteil. Ich hoffe einfach, dass der Mann alles richtig macht und sich auskennt.« Mit einem tiefen Seufzer blickt sie zur Decke.
»Mein Name ist Heike, ich bin sehr religiös erzogen worden, was gleichzeitig bedeutet, dass ich lustfeindlich erzogen wurde. Davon habe ich mich mühevoll befreit, und nun möchte ich einfach schauen, was die Lust für mich bereithält. Vulva gefällt mir gut.« Als die anderen lachen, lacht sie mit. »Ich meine das Wort. Klingt rund und warm, hat Tiefe, das spüre ich. Ist nicht so verniedlichend wie Muschi.«
Die Nächste in unserem Kreis ist Esther. »Ich denke auch immer sofort an Probleme, die Frauen haben. Nachts nicht allein durch dunkle Straßen gehen und wenn dann nur mit Telefon-Sicherheitscheck. Nicht mit einem mitgehen, den man gerade erst kennengelernt hat, wenn doch, dann ohne betrunken zu sein. Keinem verraten, mit wie vielen Männern du schon geschlafen hast, außer es bewegt sich zwischen zwei und fünf. Ich könnte endlos weitere Punkte aufzählen. Es macht mich so wütend, dass alle nur an deinen Körper ran wollen, notfalls mit Gewalt. Damit wir Frauen nicht merken, wie bedürftig die Männer sind und wie neidisch auf unsere Macht, die mit unserer Gebärfähigkeit verbunden ist, werten sie alles Weibliche ab. Das ist ihr Trick. Damit sind sie jahrhundertelang durchgekommen.«
»Vielen, vielen Dank.« Ich bin berührt von der Offenheit aller. »Gut. Dann schauen wir mal, was uns so einfällt.«
»Ich will auch noch was sagen!«
»Oh, Verzeihung!« Ist mir das peinlich. Ich habe eine Frau übergangen. Eine in einem engen schwarzen Businesskostüm, die Haare straff nach hinten gebunden. Die randlose Brille mit rechteckigen Gläsern unterstreicht ihr strenges Outfit.
»Macht nichts. Theresa.« Sie deutet auf sich. »Ich komme gerade von einem Symposium, weibliche Führungskräfte aufbauen und so weiter. Während man Frauen oft von der Weitergabe wichtiger Informationen ausschließt, kommunizieren Männer auf Augenhöhe miteinander. Gruppenzugehörigkeit aufgrund des Geschlechts ist völlig normal. Also das, was du zwischen den Beinen hast, ist entscheidend, nicht Leistung und Kompetenz. Das erzählt man uns nur, damit wir noch härter arbeiten. Ich bin dafür anzuerkennen, dass Frauen dieselben Fähigkeiten wie Männer haben und dass nicht das Geschlecht darüber bestimmt, sondern der Charakter. Ich hoffe, dass ihr hier nicht in dieses Gejammer ›Frauen sind Opfer, weil sie eine Vagina haben‹ verfallt.«
Das sitzt. Ich schaue kurz zu Esther, die bereits Luft holt: »Wenn man einen Mann beleidigen will, schimpft man ihn eine Pussy.«
»Und wenn mich einer beleidigen will, nennt er mich Schlampe oder gleich Fotze.«
Mist, jetzt rutschen die Gespräche genau auf die Ebene, wo ich nicht hin will. In diese Verachtung, in diese Empörung, in diese Scham. Davor hat Ella gewarnt, denn die Erfahrungen von verbaler sexueller Gewalt hat wohl schon jede gesammelt. Um dem etwas entgegenzusetzen, haben wir die Körperreise unternommen.
»All die üblen Diffamierungen sind uns bestens bekannt. Ich, wir, wir alle wissen, dass die Vulva in allen Ländern der Welt beschimpft wird und die Frau dann gleich mit denselben Bezeichnungen belegt wird. Das hat Tradition. Doch was ist mit den schönen Seiten? Die Vulva wurde in der Mythologie angebetet! Als Freuden- und Fruchtbarkeitsspendende! Auf der ganzen Welt gibt es Geschichten, wie das Zeigen der Vulva die Welt gerettet hat. Baubo, die bevorzugt auf einem Schwein ritt, zeigte ihre Vulva der trauernden Demeter, damit sie wieder lachte und die Welt nicht weiter verdorren ließ. Die indische Göttin Durga war herbeigeeilt, um die Menschen und die Götter im Kampf gegen Dämonen zu unterstützen. Als sie die Dämonen nicht besiegen konnte, entblößte sie ihre Vulva und zog alle Göttinnen in sich. Sie wurde zur Göttin Kali und besiegte die Dämonen mit der gebündelten weiblichen Kraft.«
»Und was ist mit dem Christentum?«, fragt Heike. »Maria ist so was von asexuell.«
»Glücklich, wer die Zeichen lesen kann«, grinse ich erfreut über die Frage. »Maria wird manchmal mit einer Art Aura dargestellt, die Mandelglorie. Und die ist …«
»… die stilisierte Form der Vulva!«, fällt mir Pia ins Wort.
»Fällt es euch nicht schwer, Vulva auszusprechen?«, fragt Lotta in die Runde. »In meinen Ohren klingt es seltsam. Ich frage mich, warum ich immer nur Vagina gehört habe.«
»Das weiß ich. Zufällig bin ich Biolehrerin«, erklärt Heike. »Andere Darstellungen und Begriffe waren nicht in den Schulbüchern und fehlen bis heute. Üblich ist eben nur die Verbindung von außen nach innen darzustellen, also zum Gebärmutterhals. Die Klitoris ist nur ein kleiner Punkt, wenn sie überhaupt dargestellt wird. Informationen darüber, dass sie ein erektiles Organ ist, wie groß sie tatsächlich ist, dass sie anschwellen kann? Fehlanzeige!
In meiner Klasse kann kein Junge oder Mädchen die weibliche Anatomie richtig zu benennen. Sie gehen alle sehr verschämt damit um. Vulva? Sagt keiner. Selbst als Erwachsene müssen viele von uns noch etwas über unsere sexuelle Anatomie lernen.«
»Kein Wunder, oder habt ihr schon mal eine Brunnenfigur mit einer Vulva gesehen? Ich nicht«, regt sich Pia auf. »Und nur wir können das ändern. Wir können ihr mehr Liebe entgegenbringen, mehr Aufmerksamkeit schenken …« Sie nimmt den schwarzen dicken Stift in die Hand und malt mit fünf Strichen zwei kräftige Oberschenkel und einen Rundbogen. Wir alle erkennen sofort: bei ihrer Zeichnung fehlt eindeutig das Geschlecht. Dann malt sie in Rot eine Vulva mit Schamlippen, Klitoris und ein paar schwarzen Haaren daneben und einen Pfeil, der darauf zeigt. Sie schreibt Honigtopf dazu und lässt ein paar Bienen drum herum schwirren. Ich schreibe »Fotze«, streiche es durch und schreibe »Lady« dahinter. Darauf bin ich stolz. Beim Vorbereitungstreffen hatte ich Ella, Sophia und Gil gestanden, dass ich mein eigenes Geschlecht mit üblen Schimpfworten belege. »Lady« ist nun mein Versuch, es mehr wertzuschätzen. Das ist keine Kleinigkeit. Ich spüre den emotionalen Unterschied, den das Wort »Lady« für mich macht. Und das Praktische ist, dass ich so eine Bezeichnung immer wieder ändern kann, wenn sie mir nicht mehr gefällt oder nicht mehr meinen Gefühlen entspricht.
Und plötzlich wird die Idee des World Cafés lebendig: Neben meiner Lady und dem Honigtopf tauchen schnell Bezeichnungen wie Kätzchen, Möse, Muschel, Paradies, geheimer Garten, Muschi, Tulpe, Mäuschen, Schmetterling und unbekanntes Land auf.
Am Nachbartisch versucht Ella, den Frauen ein paar Stichworte über ihre gelebte und geträumte Sexualität zu entlocken. An ihrem Tisch geht es heiß her. Das ist uns im Vorfeld schon klar gewesen. Ella übernahm diesen Tisch, weil sie es sich zutraute. Schade, dass ich nur einzelne Fetzen mitbekomme.
»Welche Toys mögt ihr?«, fragt Ella gerade. »Ich mag es, wenn sich der Dildo natürlich anfühlt, das ist dann wie ein zweiter Mann im Spiel. Wenn er eine durchschnittliche Länge hat, nur etwas dicker im Durchmesser. Das fühlt sich richtig gut an.« Weiter kann ich nicht zuhören, sonst verpasse ich zu viel von den Gesprächen an meinem Tisch. Da muss ich wohl auf Ellas Zusammenfassung warten. Und auf die Zeichnungen von Gil, die mit einem Skizzenblock auf dem Schoß am Tisch sitzt und mit wenigen Strichen skizziert, was erzählt wird. Das ist ihre Kunst, in der sie es zur Meisterschaft gebracht hat. Sie zeichnet rasch, während sie ganz genau zuhört. Sie korrigiert nie beim Zeichnen. Ist sie nicht zufrieden, reißt sie das Blatt heraus, lässt es einfach auf den Boden fallen und setzt neu an, sodass mehrere Skizzen nebeneinander existieren.
Da ertönt der Gong einer Klangschale.
»Wir machen eine kleine Pause von einer Viertelstunde. Zeit, um rauchen oder pinkeln zu gehen, oder was auch immer«, verkündet Ella.
Ich freue mich schon darauf, nachher die Frauen vom Orgasmus-Tisch zu begrüßen, sie haben so erregt rote Wangen.
Gil sammelt die Blätter ein und pinnt sie an die Wand. Neugierig folgen ihr ein paar Frauen. Gils rasch dahingeworfene Skizzen zeigen Frauen sitzend, stehend, kniend oder liegend, mal frontal, mal von der Seite, mal von hinten. Die Skizze mit einem Duschkopf und einer Duschwanne, die Gil dunkel schraffiert andeutet, erklärt sich wohl daraus, dass sie über Hilfsmittel gesprochen hatten. Was mich wiederum an meine intensive Erfahrung mit verschiedenen Kerzenformen erinnert, mit denen ich als Jugendliche experimentiert hatte und wie ich dann Gemüse erprobte. Was zu dem neuen Feld von Sex und Essen führen könnte. Schokolade naschen, Sahne schlecken, ausschlürfen, Eis lecken … Muss ich mir merken.
Gil deutet mir mit der Zigarette in der Hand an, dass sie kurz nach draußen gehen wird. Ich strecke mich einmal kräftig durch. Ella gesellt sich zu mir.
»Und wie ging es bei dir so?«, frage ich neugierig.
»Es war genauso, wie wir es erwartet haben! Emotionsgeladene Schilderungen, berührende Sätze. Schade, dass sie nicht alle hören können.«
Zwei Stunden später verklingt der dritte Gong der Klangschale, und Gil steigt aufs Podium.
»Erst einmal ein fettes Danke an euch alle. Ich weiß, wir haben anfangs versprochen, am Ende gemeinsam zu diskutieren. Doch es ist spät geworden. Mein Vorschlag wäre, diese Diskussion bei unserem nächsten Treffen an den Anfang zu setzen.«
Beifälliges Gemurmel.
»Vorher treffen wird uns gewiss bei der Premiere von Alice im Vulva-Land. Nehmt gern zwei Einladungskarten mit. Ansonsten sehen wir uns in sechs Wochen beim zweiten Roten Mond Salon wieder. Wer Lust hat, ein persönliches Interview mit Viktoria und mir zu führen, trägt sich hier in die Liste ein. Es kommt mir beim Interview darauf an, dass du Freude an deiner Sexualität hast.« Sie lacht. »Also habt Spaß, egal was ihr tut.«
Als die letzte Besucherin gegangen ist, holt Gil eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank. »Ich finde, die haben wir uns jetzt verdient.«
Sie entkorkt die Flasche und schenkt die Gläser ein, die Sophia geschwind bereitgestellt hat. Gil erhebt ihr Glas. »Das lief super.«
Wir stoßen an, die Gläser klingen hell.
»Ihr hattet die Gespräche gut im Griff, oder?« fragt Gil in die Runde.
»Wir können hier etwas ganz Neues schaffen«, sagt Ella.
»Mir hat es großen Spaß gemacht«, sprüht Sophia vor Begeisterung. »Allerdings bin ich ziemlich müde. Die Party gestern, der Abend heute.«
Ella murmelt zustimmend, beide verabschieden sich rasch mit dem Versprechen, morgen vor der Öffnungszeit das Café aufzuräumen.