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Drei Kieselsteine

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„Als mein Vater auf Geschäftsreise war“, begann Esther ihre Geschichte, „es war ein heißer Junitag im Jahre 1966 und meine Mutter hochschwanger mit mir, hatte er eine Panne mit seinem Auto mitten auf einer Landstraße im Schwarzwald. Er hatte es gerade noch zu einer kleinen Haltebucht rechts der schmalen Straße geschafft, bevor der Motor ausgegangen war. Da stand er nun, keinen Kontakt nach Hause, nicht ahnend, dass seine kleine Tochter, nämlich ich“, sagte Esther stolz, „bald zur Welt kommen würde…

Die Sonne stand hoch und der Motor dampfte und zischte. Er war einfach zu heiß gelaufen und das Kühlerwasser übergekocht. Verzweifelt sah sich mein Vater nach allen Richtungen um, in der Hoffnung ein Haus, einen Brunnen oder irgendetwas dergleichen zu entdecken. Doch alles was er fand, war ein kleiner Pfad rechts der Straße, der direkt in den Wald führte. Noch zögerte er, ließ seinen Blick wiederholt die Straße hinauf und hinunter wandern, doch diese lag heiß flimmernd vor ihm, keine Bewegung, kein Leben, kein Auto, das kam, um ihn mitzunehmen. So entschied er, dem kleinen Weg in den Wald zu folgen, in der Hoffnung, eine Quelle oder einen Bachlauf zu finden. Als er eine kurze Strecke des Weges hinter sich gebracht hatte, wurde dieser immer ungemütlicher. Die dunklen, blaugrünen Tannen ließen kaum Licht durch und der Weg wurde immer mehr zum Trampelpfad. Dichter schlossen sich die Bäume um ihn. Es schien, als wolle der Wald ihn abwehren, wolle ihn nicht weiter lassen, verschloss sich vor ihm. Aber auch ein Zurück war nicht möglich. Der Weg hinter ihm löste sich im Dunkel auf war, sobald er den nächsten Schritt nach vorne wagte, hinter ihm einfach verschwunden. So ging er weiter. Bis er sich schließlich vor den Ästen, die ihm wütend ins Gesicht schlugen, mit Händen und Armen schützte. Bald kämpfte er sich einer Urwaldexpedition gleich durch das Unterholz. Immer wieder sah er seine Frau vor sich, das ungeborene Leben unter ihrem Herzen deutlich sichtbar, sein Kind. Das machte ihn stark. Ließ ihn unermüdlich weitergehen. Irgendwo würde er schon rauskommen.

Und tatsächlich, nach schier unendlichem Kampf, wurde der Urwald wieder zu einem Trampelpfad und der Trampelpfad wieder zu einem kleinen Weg. Die Tannen mischten sich mit uralten Laubbäumen. Sonnenstrahlen tanzten durch das lichte Grün der Bäume, malten ein wildromantisches Bild aus Schatten und Licht auf den Waldboden und in seine Seele. Der Gedanke an seine Familie hielt ihn in Bewegung, bis er unerwartet stoppte. Direkt vor ihm gabelte sich der Weg. Rechts von ihm führte er hinaus aus dem Tann. Versprach menschliche Siedlungen, einen Bauernhof oder ein verschwiegenes schwarzwälder Dörfchen mitten im Nichts. Aber auch unerträgliche Hitze. Ein staubiger Weg durch gnadenlose Sommersonne.

Der Weg links von ihm versprach angenehme Temperaturen und vielleicht doch die Quelle oder den Bachlauf, den er zu finden hoffte. Doch auch hier könnte es zu einem Irrweg werden, wie er ihn bereits hinter sich hatte. Verzweifelt stand er da. Wusste nicht, welchen Weg er nun gehen sollte. Tausend Argumente für und wider. Immer wieder abwägen. Wahrscheinlichkeiten erwägen. Keine Gewissheit finden. Hin und her gerissen gab er schließlich auf. Er fand keine Entscheidung. Erschöpft kniete er nieder, schloss die Augen, faltete die Hände und betete. Regungslos hockte er so da. Wortlos flehte er zu Gott. Da erschien vor seinem inneren Auge seine Frau. Sie lag unter Tränen auf einem Bett. Steril und kalt war alles um sie herum. Immer wieder bäumte sie sich unter Schmerzen, die sie in regelmäßigem Intervall zu zerreißen drohten, auf. Ihr Gesicht jedoch strahlte einen tiefen Frieden aus. Sie war völlig einverstanden mit dem, was da gerade mit ihr geschah. Und dann sah sie ihn an. Erfüllt von Liebe und so zärtlich, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er bei der Geburt eines seiner Kinder direkt dabei, und sie wusste es. Sah ihn an, bis sie von der nächste Wehe überrollt wurde. Schreiend bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Sie kämpfte, schrie. Dann war alles ruhig. Es wurde dunkel um ihn. Er verlor sie. Eine Träne verlor sich durch seine geschlossenen Augen, rann über sein heißes Gesicht. Zog eine Spur der Verzweiflung. Da brach es aus ihm heraus. Laut, mit all seiner Kraft schrie er, hier mitten im Wald, an einer alles entscheidenden Kreuzung, zu seinem Schöpfer. Als er innerlich wieder zur Ruhe kam, sein Schreien verebbte, sich im Wald verlor, wurde es wieder still. Das Schweigen war erdrückend. Selbst die Vögel hatten ihren Gesang unterbrochen, als würden sie gespannt auf seine Entscheidung warten. Doch noch immer wusste er nicht, welchen Weg er gehen musste. Er wusste es einfach nicht. Da traf ihn, durch die geschlossenen Lider ein seltsamer Glanz. Tanzte durch seine Gedanken, nahm ihn gefangen und ließ ihn neugierig die Augen öffnen. Geblendet hielt er sich zum Schutz die Hände vor. Langsam, ganz langsam gewöhnte er sich an das Licht. Immer noch trieb der tanzende Lichtreflex sein Spiel mit seinen Sinnen. Instinktiv wandte er sich in die Richtung, aus der das Licht kam.

Ein leichter Windhauch liebkoste sein erhitztes Gemüt. Der Himmel war nicht mehr so himmelblau und strahlend hell. Es zogen Schatten spendende, bauschige Wolkengebilde ihre Bahn über das Sommerhimmelblau. Plusterten sich auf, zerfielen, um dann wieder aus dem Nichts zu entstehen. Er suchte nach der Quelle des Lichts und fand schließlich drei Kieselsteine, die immer, wenn eine Wolke den Weg zum Himmel frei gab, in der Sonne funkelten und mit den Lichtstrahlen spielten wie der Wind mit den Wolken. Sie lagen am Rand des Weges, der aufs offene Land führte, sich durch goldgelbe Weizenfelder wand, um sich dann auf buntgetupften Wiesen zu verlieren.

War das die Antwort auf sein Gebet? Lag hier der Grundstein seines Vertrauens, seines Glaubens?

Ein wirklich gläubiger Mensch war er nicht! Ja schon, er hatte oft von Gott gehört und gelesen. War in einer streng katholischen Familie erzogen worden. Doch so wirklich, richtig konnte er nie glauben. Immer war Gott sein Richter gewesen. Er war nach dem Tod seines Vaters bei seinem Onkel aufgewachsen. Der, der schmerzhafte Prügelstrafen ausgeführt hatte, im Namen Gottes und all der Heiligen; Jeder Hieb ein Heiliger. Und die katholische Kirche hat viele davon. Wurde nicht sogar im Namen Gottes getötet? Seine Frau?! Ja, die glaubte.

Anders, so frei und einfach wie ein Kind, das die Hand des Vaters sucht, wenn es droht, verloren zu gehen. Voller Vertrauen auf eine bessere Welt, erfüllt von Wärme und Güte. Immer wieder betete sie. Hatte eine Verbindung zu ihrem Vater, wie sie Gott auch zärtlich nannte, die ihn manchmal richtig eifersüchtig machte. Geh mir weg mit diesem Gott, hatte er ihr oft an den Kopf geworfen, wenn sie wieder mit ihren Bekehrungsversuchen kam. Sollte er ihr Unrecht getan haben?

Wie auch immer. Da lagen nun diese drei Kieselsteine, direkt nach seinem Notruf, und forderten ihn auf, den rechten Weg zu gehen. Wie im Traum folgte er seinem Lauf, der sich langsam zu einem breiten Feldweg öffnete, um am Ende zu einem großen Gehöft zu führen.

Der Hof lag einsam, umrahmt von saftigen, grünen Wiesen und alten Obstbäumen, unter denen Kühe zufrieden grasten. Die Eine oder Andere hatte sich satt am Fuße der knorrigen Obstbäume niedergelassen, um dem Ende des Tages entgegenzudösen.

Die Sonne stand inzwischen tief am Himmel und tauchte die Welt in ein tiefrotes, glühendes Licht. Die Hitze des Tages wich dem kühlen Lufthauch, der die kommende Nacht ankündigte. Die Natur atmete auf, sog die klare Luft tief auf, um sie in Vogelgezwitscher und Blätterrauschen aus dem nahen Wald wiederzugeben. Auch seine Gedanken wurden mit jedem Schritt, den er auf das tief gegen das Sonnenlicht der untergehenden Sonne gebeugte Haus zuging, immer klarer.

Die Hitze seiner innerlichen Kämpfe wich der Kühle seiner Handlung. Waren seine Schritte am Anfang noch zögerlich und unsicher auf dem schmalen Schotterweg, so wurden sie nun zunehmend zielgerichteter und auch seine Gedanken hatten nur noch ein Ziel: Nach Hause!

Als er schließlich den unregelmäßig gepflasterten Innenbereich des Hofes betrat, sah man ihm seinen Kampf durch dichtes Unterholz und ihm ins Gesicht schlagende Hoffnungslosigkeit nicht mehr an. Nicht einen Kratzer hatte er davon getragen, nicht einen blauen Fleck.

In der Mitte der u-förmig angereihten Gebäude stand eine riesige alte Kastanie, unter der ein Brunnen munter gurgelnd unermüdlich Wasser in eine längliche, aus Sandstein gehauene Tränke ergoss. Einladend funkelte das Wasser in der Abendsonne. Erst jetzt spürte er das trockene Brennen in seiner Kehle und das Schwindelgefühl in seinem Kopf.

Wasser, endlich. Keine Quelle, kein Bach, eine Viehtränke unter einem sich weit ausladenden, weiß blühenden Kastanienbaum. Tief tauchte er seine Hände in das klare kalte Wasser, führte es zum Mund und ließ es seine Kehle hinunterlaufen. Kühle Frische durchflutete ihn, nahm die Mühsal und die flirrenden Bilder aus seinem Kopf, die Trägheit aus seinen Gliedern. Noch einmal ergoss sich ein Strom der Befreiung durch seinen erhitzten Körper, bevor er sich dem Brunnen abwandte, um sich vorsichtig umzusehen.

Direkt vor dem herrschaftlichen Wohnhaus mit seinem mächtigen, strohgedeckten Dach saß ein altes Mütterlein und beobachtete ihn still. Ihre dunklen Augen glänzten im Abendrot, während ihre flinken, faltigen Hände ein sich windendes Schilfrohr geschickt um ein dagegenstehendes Gerüst flocht. Der Boden und die darauf entstehenden Wände eines Korbes waren schon jetzt gut erkennbar und gewannen unter der schnellen und sicheren Hand der alten Frau immer mehr an Gestalt. Doch bei all der Arbeit ließ sie ihn nicht aus den Augen, sah ihn freundlich an.

Er hatte sie beim Eintreten in den schattigen Innenhof nicht bemerkt. Hatte nur dem mächtigen Baum und dem darunter auffordernd plätschernden Wasser seine Aufmerksamkeit geschenkt und hätte schwören können, dass da niemand gewesen ist. Keine alte Frau, keine Körbe, die rings um sie wild durcheinander lagen und Zeugen eines langen Tages waren.

Eigentlich verfügte er über eine gute Beobachtungsgabe, entging ihm sonst keine Regung um ihn herum und schon gar keine Körbe flechtende Frau, die ihn noch dazu so gerade heraus beobachtete! Erklären konnte er sich das nicht, aber was war an diesem Tag schon normal und verstandesgemäß?

Die Dinge nicht zu ernst zu nehmen entschloss er sich, der freundlichen Aufforderung der Alten zu folgen und sich zu ihr zu gesellen. Nein, gesprochen hatte sie noch kein Wort, aber es schien, als hätte sie direkten Zugang zu seinen Gedanken. Ihre Blicke sprangen durch seine Gedanken, formten sich zu verständlichen Worten. Er wusste, nein hörte geradezu, wie sie zu ihm sprach. Plötzlich tauchte vor ihm wie aus einem grauen Nebel wieder seine Frau auf. Diesmal lag sie in einem strahlend weißen Bett. Sie war umgeben von gleißender Helligkeit, gerade so als schwebe sie, von Licht getragen. Die Lehne ihres Lagers war leicht aufgerichtet und wieder sah sie ihn direkt an. Ihre blonden Haare umrahmten dünn und strähnig ihr von Anstrengung gezeichnetes, blasses Gesicht.

Ein Strom aus Liebe und Wärme ergriff ihn und zog ihn noch näher an ihr Bett heran. Völlig unerwartet regte sich etwas unter ihrer Decke. Ein leichtes Wimmern war zu hören und vorsichtig schob er das dicke, weiße Daunenbett beiseite. Und da lag es. Klein und zerknautscht, eingehüllt in feines Linnen, lag da ein neugeborenes Kind in den Armen seiner geliebten Frau. Ein Gefühl der übervollen Freude brach in ihm auf. Er breitete seine Arme aus, um seine Frau zu umarmen, an sich zu drücken, ihr und dem Kind nahe zu sein, doch da verschwand das Bild und er sah in ein von Jahren gezeichnetes und zerfurchtes, freundliches Gesicht.

Immer noch sah ihn die Korbflechterin unverwandt an. Doch seine Gedanken waren nicht weiter in den ihren gefangen. Alles, was er nun sah und hörte, war Ursprung seiner ureigensten Empfindungen.

„Es ist ein Mädchen“ drang die Stimme der Bäuerin an sein Ohr „und Mutter und Kind sind wohl auf!“.

Erschrocken und doch nicht wirklich überrascht sah er sie an. Diese nickte nur sanft lächelnd, erhob sich von der in die Jahre gekommenen, aschfahlen Holzbank und verschwand im Haus, noch bevor er irgendetwas sagen konnte. Kurze Zeit darauf erschien ein stämmiger Mann in grober Leinenhose und zerschlissenem Flanellhemd, in der Eingangstür. Der Bauer, wie sich herausstellte. Was er wolle und wer er sei, fragte der Hofbesitzer den unerwarteten Gast.

Kurz und die vielen seltsamen Begegnungen und Ereignisse auslassend, schilderte der Gestrandete seine Not und bat um die Hilfe, derentwegen er vor einem ganzen Leben, so schien es, aufgebrochen war.

Schnell war ein Kanister mit Wasser gefüllt und ein tuckernder, grasgrüner Traktor schnaubend und polternd auf der Landstraße Richtung defektem Auto unterwegs. Die Schatten der Tannen hatten nun auch das letzte bisschen purpurrote Sonne auf den Wegen vertrieben, doch die hellen Scheinwerfer des landwirtschaftlichen Fahrzeuges beleuchteten sicher die Straße und fanden ohne Probleme den liegen gebliebenen PKW.

Wäre er doch einfach der Straße gefolgt! Wie einfach wäre das gewesen. Was um Himmels Willen hatte ihn dazu gebracht, diesen kleinen Weg, der nun gänzlich im Dunkel lag, zu nehmen? Doch nun galt es, den Wagen wieder flott zu machen. Mit einem Trichter, den der vorsorgliche Landwirt mitgenommen hatte, wurde das frische Wasser in den Kühler des Wagens gegossen und so wie ihn dieses herrliche Nass wieder belebt hatte, vermochte es auch dem Motor wieder neue Kraft und Bewegung zu verleihen.

Ohne Probleme sprang der Wagen an. Vielleicht auch, weil er so lange gestanden hatte und abgekühlt war oder auch weil es nun einfach Zeit war, weiter zu fahren, wer wusste das schon so genau! Mit einem freundlichen Gruß verabschiedete sich der Bauer, schwang sich auf sein grünes Gefährt und tuckerte davon. Noch lange hörte man den rumpelnden Motor und sah ab und zu den Lichtkegel seiner Scheinwerfer zwischen dem dichten Tann aufblitzen, bis er dann endgültig in der Dunkelheit verschwand.

Nachdenklich blieb er zurück. Stand neben seinem, wie ein Kätzchen schnurrenden Wagen und starrte abwechselnd in die Richtung, in die der Traktor verschwunden war und die, in der der kleine Weg, den er heute Mittag erst genommen hatte, nur noch zu erahnen war.

Hatte er all das nur geträumt?

Gedankenverloren ließ er seine Hand in seine Hosentasche gleiten und hielt abrupt in der Bewegung inne. Hatte er sie mitgenommen? Vorsichtig, als könnten sie jederzeit zu Staub zerfallen, denn was war schon an diesem Tag unmöglich, zog er einen nach dem anderen aus seiner Hosentasche. Vor ihm lagen die drei Kieselsteine. Die drei Kieselsteine, die ihn geblendet hatten und ihm schließlich Wegweiser gewesen waren in seiner größten Not.

Spät in dieser Nacht kam er endlich nach Hause und zum ersten Mal in seinem Leben schlug er die Bibel als Suchender auf. Das Buch Esther stand da in großen Lettern.

Und so kam ich zu meinem Namen“, schloss Esther ihre Geschichte. „Jahre nach meiner Geburt“, fügte sie noch geheimnisvoll hinzu, „fuhr mein Vater erneut beruflich in den Schwarzwald und kam an die Stelle, an der er damals seine Panne hatte. Er hielt an derselben kleinen Haltebucht und fand auch nach einigem Suchen den inzwischen völlig überwucherten Pfad in den Wald. Dann folgte er der Straße weiter und war sich sicher, genau den Weg zu fahren, den damals der Traktor genommen hatte. Er kam auch bald aus dem Wald heraus und vor ihm öffnete sich eine sanft hügelige, in Wiesen und Felder eingebettete Landschaft.

Doch einen Hof fand er nicht. Da aber ein Gehöft von so beachtlicher Größe wie dieser damals nicht einfach verschwinden konnte, gab mein Vater nicht auf und wurde letztendlich fündig.

Schon von weitem sah man den uralten Kastanienbaum. Schnell lenkte er sein Fahrzeug von der geteerten Straße auf eine Schotterpiste, die genau auf den Hof zuhielt. Doch je näher er den Gebäuden kam, je unwegsamer wurde der Weg und schließlich war er nicht mehr zu befahren. Mein Vater stieg aus und ging das letzte Stück zu Fuß, was er dann aber sah, wagte er nicht zu glauben. Außer dem alten Baum war das ehemals stattliche Gehöft nur noch zu erahnen. Die Gebäude waren teilweise bis auf die Grundmauern abgetragen oder zerfallen. Das Dach des Haupthauses streckte sich in nacktem Gerippe gen Himmel und die Stallungen bzw. was davon übrig war, war von Brombeeren überwuchert.

Als er später zurück auf der Landstraße an einem kleinen Souvenirgeschäft anhielt und den Mann hinter der Ladentheke nach eben diesem Hof fragte, wurde dieser sehr nachdenklich, zog sein ohnehin schon faltiges Gesicht in Runzeln und sah meinen Vater gedankenverloren an. Der Hof sei im Krieg völlig abgebrannt und die gesamte Familie, bei dem Versuch noch etwas zu retten, in den Flammen umgekommen. „Seitdem spukt es dort“, sagte der Ladenbetreiber ehrfürchtig.

So manch ein verirrter Wanderer habe dort Menschen angetroffen und seltsame Dinge erlebt aber nie ist ihnen irgendetwas zugestoßen, immer wurden sie dort freundlich aufgenommen und wieder auf den Weg gebracht.

Mein Vater schwieg. Zurück im Auto umfasste er die drei Kieselsteine, die er seit jenem Tag immer bei sich trug, nur um sicherzugehen, dass sie wirklich existierten, und wendete den Wagen. Noch einmal sah er den riesigen, alten Baum, der sich gegen den in Abendrot getauchten Himmel dunkel abhob, und erkannte nun deutlich das verkohlte Gebälk des ehemals herrschaftlichen Hauses mit seinem mächtigen strohgedeckten Dach. Und da war es ihm, als sehe er einen Lichtkegel zwischen den alten Obstbäumen auf und ab tanzen, so als wenn ein Traktor sich seinen Weg über holprige Feldwege bahnen würde. Er hielt den Wagen an, suchte nach dem Gefährt, das auf den Hof zugehalten hatte, doch da war nichts mehr. Alles lag still und verlassen vor ihm in der untergehenden Sonne. Nur die drei Kieselsteine in seiner Hand waren Zeugen seiner merkwürdigen Begegnung und Beweis dafür, dass er nicht geträumt hatte.“

Mit offenem Mund und gespitzten Ohren hatte ich Esthers Erzählung gelauscht. Jedes Wort hatte ich tief in mir aufgenommen und alles beinahe selbst erlebt. Und nun hielt sie mir die Steine hin. So unbedeutend sie auch aussehen mochten, waren sie doch etwas ganz Besonderes. Sie waren greifbar gewordene Vaterliebe, denn Esthers Vater hatte sie ihr für die Dauer des Zeltlagers anvertraut, zum Schutz – aus Liebe. „ Damit ich auf dem richtigen Weg bleibe!“ hallten ihre Worte in mir nach. So also sah Liebe aus. Vaterliebe.

Vertrauensvoll und mit wichtiger Miene ließ meine kleine Freundin die drei grauglitzernden Steine aus ihrer Hand in die Meine gleiten. Kühl fühlten sie sich an und doch brannten sie auf meiner Hand. Kaum traute ich mich, mich zu bewegen oder gar meine Finger um das kostbare Gut zu schließen, und noch ehe ich es mich versah, griff Esther wieder nach ihrem Schatz und verstaute ihn sicher in dem unscheinbaren Beutel.

Plötzlich kam Bewegung ins Zelt. Wellen des Aufbruchs schlugen bis zu uns in unsere Bettenburg und in der Ferne war ein eindringliches Läuten, eine Art Scheppern, so etwas wie eine verrostete, kleine Glocke zu hören.

Aus andächtiger Starre gelöst sammelte Esther hastig all ihre Kostbarkeiten zusammen und verstaute sie wieder in ihrem Rucksack. Auch ihre Steine wurde sorgfältig wieder zurückgeschoben.

Wie willenlose Schafe folgten wir dem Strom der Kinder aus den Zelten und allen Winkeln und Ecken des großzügig angelegten Feriengeländes zu dem einstöckigen, lang gestreckten Haupthaus, vor dem wir uns am morgen schon einmal alle versammelt hatten. Kühle und gedämpftes Licht umgaben mich, als ich aus dem warmen, gleißenden Sonnenlicht direkt in den mit kaltem Stein gefliesten Hauptraum trat. Überall klapperten Teller, plauderten Kinder und hallten unzählige Schritte wider. Der Geruch von Nudeln, Brühe und Pfefferminztee erfasste mich, hüllte mich ein, zog mich in den dunklen Raum. Sehen konnte ich für einen Moment nichts. Stand einfach nur da und ließ mich in diese Welt aus hallendem Getose und deftigem Geruch ziehen. Langsam, ganz langsam gewöhnten sich meine Augen an das dämmrige Licht des fensterlosen Raumes, dessen einzige Lichtquelle aus den weit geöffneten Flügeltüren bestand, die direkt wieder auf den gepflasterten Vorhof und die Wiese mit den Zelten führten. Am Pfosten einer jeden Tür stand ein großer silberfarbener Milchkübel, an dessen Außenseite eine verbeulte Kelle hing. Der Kübel selbst war bis zum Rand mit Tee, mal war es Pfefferminztee mal Früchtetee, gefüllt. Kinder standen in Reih und Glied vor den Kübeln und schöpften unermüdlich kühle Flüssigkeit in ihre Becher. Andere standen an der am Ende des Raumes befindlichen Kantine an, in der eine rundliche Frau, mit von Hitze errötetem und glänzendem Gesicht eifrig die ihr hingehaltenen Teller füllte.

Für mich gab es nichts. Keinen Becher - keinen Tee, keinen Teller - keine Nudelsuppe, keinen Rucksack - keine weiße Plüschdecke, keine Kieselsteine - keine Vaterliebe. Selbst Esther war nicht mehr da.

Im einfallenden Sonnenlicht der geöffneten Türen tanzten tausende von kleinen Staubkörnchen. Und jedes von ihnen entsprang einem Gedanken, einem Impuls und einer sich daraus entwickelnden Bewegung. Sie kamen nie zur Ruhe. Wirbelten um mich herum, in mich hinein, durch mich hindurch. Lösten mich auf und trugen mich mit sich hinaus in das helle Sonnenlicht.

Wieder hörte ich dieses höhnische Lachen, das durch mein Ich tobte. Aufbrausend, erniedrigend, demütigend. Mich wollte hier keiner. Ich gehörte einfach nicht dazu. Die Welt war in Ordnung. Alle zufrieden mit sich und dem, was geschah, warum sollte mich da irgendjemand beachten. Ich wurde nicht gebraucht. Vielleicht war es auch besser so. Wieder brach ein tosender Kampf zwischen türkisgrüner Wut und der dunklen, bewegungslosen Resignation in mir aus. Ich schrie, ich tobte, ich brach zusammen und heulte bitterlich – unsichtbar.

Noch immer stand ich in einem der Rundbögen neben einem der Tee-Kübel und anscheinend den durstigen Mit-Zeltlager-Bewohnern im Weg. Unsanft wurde ich in Richtung Essenstische, in Richtung Tellergeklapper und Löffelgeschöpfe, in Richtung wildes Geschnatter und fröhliches Miteinander geschubst. Und ehe ich es mich versah, stand ich neben Esther, die mir einen Platz an ihrer Seite frei gehalten hatte. Erwartungsfroh sah sie mich an und ich… kämpfte nicht mehr, setzte mich.

Da schob sie mir ihren Becher, vollgefüllt mit kaltem Pfefferminztee, hin und bot mir auch ihren Teller mit köstlich duftender Nudelsuppe an. Mein Magen krampfte sich zusammen und meine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Wie gerne hätte ich den Tee angenommen, egal ob mein Becher oder ihrer, und den salzig, würzigen Geschmack der Suppe hatte ich bereits auf der Zunge, als ich mich dabei beobachtete, wie ich den Becher zurückschob und den mir hingehaltenen Löffel abwies. Wut stieg in mir auf. Was sollte das alles hier?

Ich wollte nicht hier sein, wollte keine Freundin haben, wozu auch?

Sollte Esther sich doch eigene Freunde suchen unter ihresgleichen und mich in Ruhe lassen mit ihrer ewigen Freundlichkeit und ihren drei Kieselsteinen. Ich jedenfalls wollte nicht ihre Freundin sein. Ich hatte meinen eigenen Teller, meinen eigenen Becher und sogar eine noch viel schönere Kuscheldecke als die schöne Katharina. Nur eben nicht hier.

Und das war es überhaupt. Esther war auf meine Sachen scharf. Meine Mutter hasste es, wenn ich so sprach, aber sie war ja nicht da!

„So eine Scheiße“ fauchte ich Esther an „behalt doch dein Essen für dich, ich bin nicht scharf darauf, diesen Fraß in mich `rein zu quälen“ - stand auf und ließ eine völlig verdutzte Esther zurück.

Ich spürte, wie sich mir während meines Temperamentausbruches sämtliche Blicke zugewandt hatten. Augenblicklich waren die Gespräche an den Tischen verstummt. Sogar Katharina vergaß einen Moment lang, wie wichtig sie war und schenkte mir ihre Aufmerksamkeit und ein bisschen Bewunderung lag in ihrem Blick!

Ich triumphierte und marschierte hoch erhobenen Hauptes hinaus in das helle Sonnenlicht!

Meine Würde war wieder hergestellt. Mein Status hervorgehoben. Ich war nicht käuflich.

So schnell, wie ich das Interesse aller auf mich gelenkt hatte, so schnell ging mein Stern auch wieder unter. Jedes der vielen Augenpaare, die mich gerade noch voller Neugier beobachtet hatten, wendete sich nun wieder ihrer vorherigen Aktivität zu. Aber mein Abgang war spektakulär gewesen, das musste man mir schon lassen.

Als die Geräuschkulisse im Speisesaal wieder anschwoll und ich mir gewiss war, dass mir keinerlei Beachtung mehr geschenkt wurde, drehte ich mich vorsichtig um.

Esther saß immer noch regungslos da und starrte mich an. Voller Unverständnis und tief getroffen, aber in keinster Weise anklagend oder gar zornig. Sie saß einfach nur da und sah mich an. Ja, ich hatte meine Stellung klar gemacht und mir die Anerkennung der Meinen zurückgeholt, aber anstatt zufrieden zu sein, fühlte ich mich elend und jetzt noch einsamer als auf dem Kirchplatz heute morgen. Jede Faser meines Seins zog mich zurück in den kühlen Raum, in dem Esther saß und mich noch immer erwartungsvoll ansah. Doch es gab kein Zurück. Wie würde das denn aussehen, wenn ich jetzt zurückging und sie um Verzeihung bitten würde? - Nein, so etwas war einer Maike von Hochfelden, Tochter eines in der Gesellschaft hoch angesehenen Rechtsanwaltes, nicht würdig! Und nötig hatte ich es sowieso nicht. Schließlich hatte sie mir ja ihren angelutschten Löffel hingehalten und ihren halbvollen Becher Tee, aus dem sie bereits getrunken hatte. Sie hatte das alles provoziert und selber Schuld. Und doch, mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich sie so sah. Es tat mir so leid, ich war so dumm gewesen und hatte die einzige Verbündete, die ich hier hatte, so derart vor den Kopf gestoßen. Aber warum war sie auch so nett zu mir gewesen? Was hatte sie damit bezweckt? Wusste sie denn nicht, dass die Welt anders funktionierte?

Trotzig wandte ich mich ab. Der Fall Esther war für mich abgeschlossen.

Mit einer Leere im Kopf, die allmählich hinunter zu meinem knurrenden Magen wanderte, ihn zum Schweigen brachte und sich bis zu meinen zwiespältigen Emotionen ausbreitete, um mich in meine wohlvertraute, alles erstickende Dunkelheit zu hüllen, ging ich in Richtung Zwangsheimat - Zelt, als ich hartnäckig am Arm gezogen wurde.

Instinktiv wehrte ich mich gegen das Gefühl, festgehalten zu werden, riss mich aus dem unfreiwilligen Körperkontakt und ging weiter. Doch erneut wurde ich am Handgelenk umfasst und in meiner Bewegung aufgehalten. Kampfbereit drehte ich mich um.

„Ich mag den Fraß und den Tee auch nicht, “ mit einer abfälligen Handbewegung strahlte sie mich an, „den Tee…den können die selber trinken“. Unwillkürlich schlich sich eine Träne, schmerzhaft in meinen Blick. Schied wie ein dunkler Schatten aus meinen Gefühlen und lief mir über mein Gesicht. Durchdrungen von Sommersonnenhimmelblau löste sich das Schwarz in meiner Seele auf.

Was war das nur? Sie schien einen direkten Zugang zu meinem Sein zu haben. Konnte mich mit einem Blick in ihre Wirklichkeit aus unbeschwerter Kindheit führen. Und ich ging mit, folgte ihr in den hellen Sommertag einer heilen Welt. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, im Schutz einer uralten Linde im warmen Gras zu sitzen und uns Geschichten von tanzenden Schatten, die in alten Bäumen wohnen, und seltsamen Nachbarn mit hübschen Töchtern zu erzählen.

Noch stand die Sonne golden am Himmel, als durch das ganze Lager eine Welle des Aufbruchs rollte. Dem trägen Dahindösen des Nachmittags folgte aufgeregte Bewegung. Hier und da wurden Rucksäcke gepackt, Decken zusammengelegt, Kostbarkeiten eingesammelt. Bis sich schließlich alle Kinder erneut vor dem steinernen Haupthaus versammelt hatten, um dann in genau dem bunten, lebendigen Strom aus den Toren hinaus zu den Bussen zu strömen wie sie am Morgen auf das Ferienfreizeitgelände geschwappt waren. Esther und ich mitten unter ihnen. Fröhlich schwatzend, hüpfend und lachend ging es zurück ins Tal. Und genau wie am morgen standen sie wieder da, die Mütter in ihren geordneten Verhältnissen zueinander. Ihre Sprösslinge erwartend. Wieder öffneten sich die Glastüren des Busses und wieder strömten die Zeltlagerentlassenen hinaus, um den Platz vor der Kirche mit tausend Stimmen und Lachen zu füllen. Schon bei der Auffahrt des Busses auf den mit erwartungsfrohen Eltern gefüllten Platz begannen die Gesichter um mich herum zu glänzen. Der Geräuschpegel wurde nahezu unerträglich und auch Esther neben mir hatte wohl einen ihrer Eltern entdeckt, denn sie begann, unvermittelt zu winken und auf ihrem Sitz hin- und herzuhüpfen.

Ich tauchte ab in den Hintergrund. Ich wusste, dass es für mich Niemanden gab, der auf mich wartete, der mich ungeduldig in Empfang nahm.

Als sich die Türen öffneten, gab es kein Halten mehr. Esther und auch all die anderen schienen geradezu aus dem Bus direkt in die Arme ihrer Lieben zu fliegen. Manch einer ein bisschen verhaltener, aber doch voller Ungeduld und voller Erlebnisse, die es auf der Stelle mitzuteilen galt.

Meine Erlebnisse wollte keiner wissen. Ich war gesund und kam so aus dem Transportgefährt, wie man mich am morgen hinein geschoben hatte. Sogar meinen Rucksack hatte ich wieder. Der Busfahrer hatte ihn mir auf der Rückfahrt gegeben. Man hatte ihn ihm gegeben und auf mich gedeutet. Er jedoch hatte mich und den superschicken, neuen Rucksack in dem ganzen Durcheinander völlig vergessen.

„Na auch egal, wirst schon nicht verhungert sein“ hatte er noch gebrummt. Nein, ich war nicht verhungert und so aussehen tat ich auch nicht. Groß, kräftig, in zu kurzer bunter Hose und hässlichem Pullover unter dem Arm stieg ich mit vollem Rucksack aus dem Bus und hielt Ausschau nach jemandem, der die Verantwortung, mich nach Hause zu bringen, übernommen hatte. Es gab mit Sicherheit jemanden, denn einem Dr. von Hochfelden und seiner reizenden, jungen Frau machte man doch gerne einen Gefallen. Auch wenn es darum ging, dieses verwöhnte Gör nach Hause zu bringen. Das nahm man gerne in Kauf für die Ehre einer Würdigung von Seiten meines Vaters. Aber darauf warteten die meisten vergeblich. Er war ja nie da. Aber vielleicht käme ihm ja zu Ohren, wie großzügig man gewesen war. Also immer schön lächeln und die Kleine nach Hause gebracht.

Diesmal war es die Bürohilfe meines Vaters, Silvia. Sie hatte bereits Feierabend und da ich auf dem Weg lag, na ja nicht so wirklich, aber für ihren Chef halt, fuhr sie mich in ihrem knatternden R4 auf die andere Neckarseite zu unserer Villa. Vor dem Gartentürchen entließ sie mich in den kühlen Schatten meines Geisterbaumes, der mich mit einem Raunen begrüßte. Als das Knarren des R4 schon längst nicht mehr zu hören war, stieg ich die weiße Freitreppe vor unserem Eingang empor und drückte die runde, mit zahlreichen Blumenornamenten verzierte, angelaufene Messingklingel. Ein sanftes Dreiklangläuten erfüllte daraufhin das Foyer des Hauses und verebbte unbeachtet. Noch einmal betätigte ich die Hausglocke, doch ich wusste, auch diesmal würde sie unbeantwortet bleiben. Es war niemand zu Hause. Ich wurde nicht erwartet. Das war nicht neu für mich und so setzte ich mich auf die Treppe vor unserem Haus und packte neugierig und hungrig die Dinge aus meiner Tasche, die ich so schmerzlich im Lager vermisst hatte.

Neben meinem Lieblingspicknickbecher, ich wusste doch, sie hatte ihn mir eingepackt, und dem dazugehörigen Teller, waren noch mein blassrotes Plüschkissen, eine Packung Tempo, natürlich die Originale, zwei Dosen Cola und eine große Tüte Gummibärchen darin zu finden. Wer brauchte schon eine halbe Tafel Schokolade und so ein blödes, besticktes Taschentuch, wenn man eine ganze Tüte Gummibärchen ganz für sich alleine haben konnte.

Ganz zu unterst fand ich dann noch zwei Marmeladenbrote. Hastig befreite ich sie von dem etwas angeweichten Butterbrotpapier und schob sie mir gierig in den Mund. Süß und verführerisch breitete sich die fruchtige Marmelade in meinem Mund aus. Ergoss einen warmen Strom aus tiefem Wohlbefinden durch mein Innerstes.

Schnell waren beide Brote verspeist, mein Magen aber noch lange nicht zur Ruhe gebracht. Im Gegenteil, wachgefüttert fing er jetzt erst recht an zu rebellieren, forderte sein Recht auf Befriedigung lautstark ein. Dem Marmeladenbrot folgten die beiden Coladosen. Und um mich dem sinneraubenden Traum aus watteweicher Verführung endgültig hinzugeben, zelebrierte ich das Gummibärchenköpfen mit ungeahntem Wohlgenuss.

Bemerkt hatte ich das Kommen meiner Mutter nicht. Plötzlich stand sie vor mir, schüttelte den Kopf und schalt mich der Träumerei. Schön und elegant, aufrecht und stolz ging sie an mir vorbei, schloss die Tür auf und trat ein. Sie sah mich nicht mehr, lies den Eingang einen Spalt weit offen, in der Gewissheit, ich würde folgen.

Hastig packte ich Butterbrotpapier, leere Dosen und halbleere Gummibärchentüte zusammen und stopfte sie in meinen Rucksack. Nahm diesen an einem der Träger auf und erhob mich. Zu meinem Unglück hatte ich den zweiten Träger nicht im Blick. Dieser hatte sich in der Eile des Zusammenpackens um mein rechtes Bein geschlungen und just in dem Augenblick, als ich mich aufrichtete und in einer der Haustür zugewandten Drehung den ersten Schritt nach vorne antrat, riss er mich aus meiner Balance und warf mich gefährlich nah an die Treppe zurück. Ich fiel schwer auf mein linkes Knie. Mein Gesicht kam dem Treppenabsatz bedrohlich nahe. Beinahe wäre ich, Kopf voran, die Stufen zum Vorgarten hinuntergefallen, hätte ich nicht instinktiv meine Hände nach vorn gestreckt und so den Sturz gerade noch abgefangen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Knie schmerzte unerträglich. Tränen schossen mir in die Augen und meine Arme zitterten, als ich versuchte, mich auf sie zu stützen, um aufzustehen. Und dann stand er vor mir. Stand einen Moment lang da, sah mich geringschätzig an und wartete. Wartete, bis ich mich wieder auf meinen Beinen befand. Tränen gab es nicht mehr. Sie waren einfach versiegt. Schmerzen? Oh ja, die gab es schon, stechend und pochend signalisierten sie mir, dass mein Knie schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber das durfte jetzt nicht sein.

„Ich bin stark, ich bin stark!“ toste es durch meinen Kopf. Und so stand ich vor meinem Vater. Mit gesenktem Haupt erwartete ich den Tadel, den ich verdient hatte. Ich hätte besser aufpassen müssen, war immer so ungeschickt und dumm. Hätte ich nicht wie eine wohlerzogene, sittsame Tochter hübsch ordentlich im Eingang stehend auf meine Mutter warten können? Stattdessen hatte ich mich auf die Treppe gelümmelt und in aller Öffentlichkeit gierig Brot und Süßigkeiten verschlungen.

Das gehört sich für ein Mädchen mit deiner Herkunft nicht, hörte ich ihn in Gedanken schon sagen. Doch als ich aufblickte, war er nicht mehr da. War genauso unvermittelt verschwunden, wie er gekommen war. Keine Reaktion, keine Beachtung, keine drei Kieselsteine und vielleicht auch besser so!

Jetzt begann auch wieder mein Knie zu schmerzen, nur meine Tränen, die blieben weg.

Humpelnd folgte ich dem Beispiel meiner Eltern und betrat das Foyer unseres Hauses. Besorgt kam mir meine Mutter entgegen, nahm mir meine verhängnisvolle Tasche ab und brachte mich an einem Arm stützend in die Küche. In der Küche angekommen hob sie mich unter Stöhnen auf den Tisch.

Die Gummibärchen waren schuld. Hätte ich nur nicht so viele Gummibärchen und Marmeladenbrote gegessen, dann müsste meine Mutter jetzt nicht so schwer an mir heben. Aber Moment mal, da war ja auch noch die Schokolade von Esthers Schwester gewesen. Esther war Schuld und ich nur ein bisschen! Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als meine Mutter das inzwischen freigelegte Knie mit einem in Jod getränktem Wattebausch bearbeitete. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Körper, ließ mich aufheulen und reflexartig stieß ich die verursachende Hand beiseite. Streng umfasste mich diese am Handgelenk und wieder wurde der Wattebausch auf die blutende Wunde gedrückt. Ich wehrte mich nun mit Händen und Füssen, zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und ließ meiner Mutter keine Chance. Ich musste hier weg, runter vom Tisch, doch in dem Moment, als ich vom Tisch sprang, zwang mich ein erneuter Schmerz in die Knie. In das Knie. Ich knickte weg, direkt in die Arme meiner Mutter und ins Blickfeld meines Vaters, der, durch den Tumult aufmerksam geworden, die Küche betreten hatte. Schnell wurde ich wieder auf den Tisch gesetzt und weiter verarztet. Immer unter den kritischen Blicken des Mannes, den ich so sehr fürchtete.

Diesmal machte ich keinen Mucks, hielt ganz still, auch wenn es mich innerlich fast zerriss. Auch meine Mutter schien hochkonzentriert bei der Sache, doch ihr leichtes Zittern und ihre kalten Hände verrieten ihre Unsicherheit. Mit desinfizierter Wunde und sauberem Verband wurde ich, vorbei an meinem Vater aus der Küche hinausgeschoben.

Wo Anders

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