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Das Kummertier

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„Das Kind wird zu dick“, hörte ich meinen Vater noch sagen, bevor ich in meinem Zimmer verschwand. Also doch, ich war zu dick. Ich war zu groß, zu verträumt, zu dumm, und bestätigter Weise, zu dick.

Mit angezogenen Beinen setzte ich mich auf mein Bett, das linke eben soweit es ging. Fest schloss ich mein Kummertier, einen kleinen Stoffesel mit treuen, großen, schwarzen Augen in die Arme und begann in sein graues, weiches Fell zu weinen. An manchen Stellen war sein Fell schon ganz verklebt von den Tränen, die er im Laufe seiner Zeit bei mir schon hatte auffangen müssen. Aber gerade dafür liebte ich ihn. Er war der Einzige, der mich wirklich weinen sah. Langsam glitten meine Hände über sein sich warm anfühlendes Plüschfell. Doch was war das? Er fühlte sich gleichmäßig und neu an. Sein Geruch war so künstlich, nach Plastik und Spielzeugladen. Erschrocken und skeptisch hielt ich ihn von mir weg, betrachtete ihn aufmerksam, untersuchte ihn gründlich und fand, was ich bereits ahnte. Die Waschanleitung an seinem linken Hinterlauf. Die hatte ich meinem Kummertier, schon längst entfernt, weil sie so kratzig gewesen war und mich gestört hatte. Dieser Esel aber hatte sie noch. Er sah genauso aus wie meiner, genauso grau, genauso groß, genauso weich, aber es war nicht meiner. Dieser hier war neu und kannte mich nicht. Er wusste nicht, wie es mir wirklich ging, kannte meine Geheimnisse nicht und noch dazu grinste er mich unverschämt an. Es schien, als lache er mich aus. Voller Wut schleuderte ich das Stofftier in die Ecke. Dunkle Ahnung beschlich mich. Mein Esel war entführt worden und ich wusste auch von wem. Ich würde ihn nie wieder sehen, ihn nie wieder in meine Arme schließen können, mich niemandem mehr anvertrauen können.

Meinem ersten Impuls folgend sprang ich auf und wurde sofort wieder an mein schmerzendes Knie erinnert. Im Schwung gebremst, jedoch wild entschlossen ging ich hinunter in die Küche. Ich würde sie zur Rede stellen, ihr keine Chance lassen. Ich würde mein Stofftier zurückfordern. Diesmal war sie einfach zu weit gegangen.

Schon oft hatte sie Spielsachen und Plüschtiere an meinen Neffen Tristan verschenkt. Oft kam er nach der Schule mit zu uns, damit Carla in Ruhe arbeiten konnte, was auch immer es in diesem Fall heißen mochte, denn eigentlich war sie den ganzen Tag zu Hause und machte sich nur für wohltätige Zwecke und nur in aller Öffentlichkeit die Finger schmutzig. Ihr Mann, ein etablierter Kinderarzt, holte ihr die Sterne vom Himmel und eine Putzfrau nebst Haushälterin ins Haus. Tristan jedoch wuchs nahezu bei uns auf, das war der Wunsch meines Vaters und was er wünschte, wurde gemacht. Dass er bei uns kein eigenes Zimmer hatte, lag an der Tatsache, dass mein Vater mich für zu verwöhnt hielt und der Meinung war, dass teilen mir gut täte. Und so teilte ich. Meine Spielsachen, die ständig durch Neue ersetzt wurden, mein Zimmer, das ich abends immer wieder aufräumen musste, eigentlich.

Meinen Esel wollte ich nicht teilen! Also ging ich sicheren Mutes aus der Küche, nachdem ich dort meine Mutter nicht gefunden hatte, und steuerte das Wohnzimmer an. Gerade als ich eine der beiden Türen öffnen wollte, erstarrte ich mitten in der Bewegung, hielt die Luft an und wünschte mich unsichtbar. Regungslos harrte ich aus und lauschte auf die Stimmen, die durch die geschlossene Flügeltür an mein Ohr drangen. Der Fernseher lief, wurde jedoch von der tiefen, sonoren Stimme meines Vaters übertönt. All mein Mut war einer Art Panik gewichen, hatte sich aufgelöst in Schuldgefühl und Hilflosigkeit. Es ging um mich, meinen Esel. Meine Mutter hatte ihn tatsächlich an Tristan verschenkt und war dann losgefahren, mir einen Neuen zu kaufen. Das sei nicht Sinn der Sache, brüllte mein Vater.

„Hätte ich ihr Stofftier ohne Ersatz weggeben sollen“, widersprach meine Mutter.

„Sie hat alles, was sie braucht, das Kind ist zu verwöhnt“, konterte mein Vater. „Sie muss lernen zu verzichten“, fuhr er in immer aufdringlicherem und unerbittlichem Ton fort.

„Wir hatten damals im Krieg auch nichts, nicht einmal genug zu Essen war da. Ich weiß, was es heißt zu hungern, das bisschen Magenknurren, das ihr als Hunger bezeichnet, ist weit davon entfernt von dem, was wir durchmachen mussten!“

Sag jetzt nichts, sag einfach nichts mehr, schrie es in mir auf, flehte es in mir, doch meine Mutter hörte meine Gedanken nicht. Tapfer gab sie Kontra, verteidigte ihr Handeln, verteidigte mich. Lauter, immer lauter wurde mein Vater, schrie, brüllte, bis sich seine Stimme überschlug. Dann war es schlagartig still. „Er hat sie umgebracht!“ hämmerte es durch meine Starre.

Schritte näherten sich der Tür. Mein Magen krampfte sich zusammen. Mir wurde übel und schwindlig. Ich schloss die Augen, wollte nicht sehen, was sich vor meinem inneren Auge abbildete, was ich erwartete. Die Türen zum Salon wurden geöffnet. Immer noch hatte ich meine Augen fest geschlossen, kniff sie so stark zusammen, bis ich anfing, Sternchen zu sehen, die blitzartig aufleuchteten und durch Lichtimpulse im Takt meines Herzschlages, der wild und rasend durch meinen Kopf tobte, ersetzt wurden.

„Was soll das“ raunte mich mein Vater an und wankte an mir vorbei.

„Was machst du da?“ hörte ich die entsetzte Stimme meiner Mutter.

„Sie lebt!“, die Faust, die sich fest um meinen Magen geschlossen hatte, löste sich, der Boden unter meinen Füssen schwankte nicht mehr und die Blitze im Kopf hörten auf. Nur mein Puls raste ungebremst durch meinen angespannten Körper. Langsam öffnete ich die Augen und sah meine Mutter vor mir. Mit hochrotem Gesicht stand sie vor mir, sah mich erschrocken und besorgt an und wartete geduldig, bis ich mich aus meiner Starre gelöst hatte. Erleichterung, warme, alles überflutende Erlösung ergriff von mir Besitz.

„Ich hab dich ja so lieb“ heulte ich in ihren Armen und nahm mir in diesem Moment vor, sie nie mehr los zu lassen. Sollte doch Tristan meinen Esel behalten, ich würde ihn nicht wieder haben wollen. Und der Neue, der würde einen Ehrenplatz zwischen dem ausgetauschten MonChhichi, dem meine Mutter einen dunkelgrünen Pullover gestrickt hatte, und meiner Schlümpfesammlung, in meinem Regal bekommen, schließlich war meine Mutter für ihn gestorben, beinahe.

Nach einer kleinen Ewigkeit, die ich meine Mutter so umklammert hielt, schob sie mich vorsichtig von sich und sah mich an. Ihre Augen waren rot und in ihrem linken Augenwinkel blitzte eine Träne auf. Sie hatte geweint, sie hatte wegen mir geweint. Nur weil ich mein Kummertier so sehr geliebt hatte und sie für mich um es gekämpft hatte. Langsam löste sie sich aus meiner Umarmung und deutete auf die große Standuhr am Fuße der Treppe. Gerade setzte sie ihr mächtiges Schlagwerk in Gang. Das ganze Haus wurde mit ihrem schwingenden Wohlklang erfüllte.

„Es ist höchste Zeit“, sagte sie leise und drückte mich die erste Stufe der Treppe hinauf. „Morgen wird wieder ein langer Tag“.

Bedacht strich sie mir über meine wilde, lockenschwere Mähne, nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich sanft auf die Stirn. Dann schickte mich endgültig in mein Zimmer. Ja, morgen würde wieder kommen und wieder und wieder, so war das nun mal, aber zuerst kam die Nacht und mit ihr meine luftigen Freunde.

Als ich endlich mein Zimmer betrat, lag es in dunkelstes Rot getaucht vor mir. Schemenhaft hoben sich Möbel und Spielsachen gegen die einfallende Dunkelheit ab. Ohne den Lichtschalter zu betätigen, steuerte ich auf mein Bett zu, das sich bereits in Nachtblau gewandet hatte. Vor diesem stehend befreite ich mich mit geübter Bewegung nahezu gleichzeitig aus T-Shirt, Hose, Socken und Sandalen. Alles sank vor mir zu einem Häufchen Irgendetwas auf dem Boden zusammen, wurde abgestreift wie der Tag, mit all seiner Aufregung, fand Befreiung in der sich ankündigenden Nacht.

Zielsicher fuhr ich mit der rechten Hand unter meine Bettdecke, die ordentlich doppelt gelegt darauf wartete, aufgeschlagen zu werden. Schnell hatte ich mein Apfelnachthemd, ein langes Baumwollhemd rundum bedruckt mit in Rottönen gehaltenen Äpfeln, hervorgezogen, zog es an und schlüpfte unter meine Apfelbettdecke. Zwar waren die Äpfel auf meinem Bettbezug grün, doch wer sah das schon, wenn es dunkel war. Apfel war Apfel und ich mitten darin. Verschmolzen mit roten und grünen Früchten, unsichtbar.

Kühl umfing mich das duftige Weich meines aus Federn gemachten Nestes, hüllte mich ein, entführte mich in eine schwere, mysteriöse Welt aus bunten Bildern und wirren Gefühlen. Den Sand zwischen meinen Zehen spürte ich nur kurz, zu kurz, als dass er mich noch stören konnte, bevor ich das Portal zu meiner Traumwelt durchschritt.

Sie traten vor mich, tanzten um mich herum, verhöhnten mich. Ab und zu bekamen sie graue steinerne Gesichter, grinsten mich an und verschmolzen wieder mit dem kalten Grau des Steines, aus denen sie gemacht waren. Kieselsteine, überall Kieselsteine. Polternd setzten sie sich in Bewegung, kamen direkt auf mich zu, drohten mich zu überrollen, mich unter sich zu begraben. Erschrocken wachte ich auf, doch das Rumpeln war immer noch hörbar. War ich wirklich wach oder schlief ich noch? Was für ein Traum, ging es mir noch durch den Kopf, bevor ich endgültig meine Augen öffnete und erschrocken zusammenfuhr. Ein grelles Licht erhellte einen kurzen Augenblick mein Zimmer, bevor es wieder stockdunkel wurde. Und da war es wieder, dieses tiefe gewaltige Grollen, weit weg und doch bedrohlich nah. Nein, keine Kieselsteine, die mir nach dem Leben trachteten.

Die schwülwarme Sommernachtsluft stand in meinem Zimmer, erstickte mich geradezu. Nichts war zu hören, kein Zirpen der Grillen, die, so schien es gerade nachts, wenn keiner hinsah, besonders inbrünstig auf Partnersuche gingen. Keine tanzenden Schatten, die mich in ihre luftig leichte Welt mitnahmen, nur ein bizarres, eisblaues Aufzucken langer Schatten in heißer Nacht, gefolgt von tiefem, mächtigem Grollen voller Wut und Gewalt, Naturgewalt.

Plötzlich ein Raunen, ein Rauschen, das an Intensität schnell zunahm. Blitze zuckten und beleuchteten den sich windenden und sich beugenden mächtigen Baum. Irgendwo schlug eine Tür zu, fiel etwas scheppernd um. Und immer wieder kurze Momente der unerträglichen Helligkeit. Der Donnerhall wurde lauter, die Blitze kamen nun in immer kürzeren Abständen. Regen setzte ein, trommelte auf meine Fensterbank, verschmolz mit dem Rauschen des Windes, verstärkte ihn gar. In den kurzen Augenblicken der lichtdurchzerrten Dunkelheit sah ich meine Vorhänge verzweifelt gegen den aufbrausenden Wind kämpfen. Immer wieder wurden sie durch das offene Fenster hinausgezogen, um kurz darauf zurückgeworfen zu werden. Regen und Wind griffen nach dem feinen, durchsichtigen Stoff, warfen ihn hin und her, trieben ihr Spiel mit ihm, bis er nass und erschöpft an der Hauswand kleben blieb. Das Gewitter war inzwischen genau über uns. Entlud sich mit all seiner Herrschaft. Weit entfernt durch das Dunkel der Nacht und das Toben der Natur drang ein mutloses und klagendes Martinshorn in mein Zimmer, sprang kurz durch meine Gedanken und ließ mich dann wieder los, allein unter meiner Bettdecke und in meiner Angst.

Da war niemand, der mich schützen würde, mich retten kam, wenn unser Haus in Flammen aufging. Hier in meinem Zimmer, unter meiner Bettdecke würde ich dem sicheren Tod ins Auge blicken. Nein ich würde nicht schreien, den Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Sie würden meine verkohlte Leiche Tage später erst unter den Trümmern finden. Und Tristan müsste all meine Spielsachen in mein Grab legen, mein Kummertier ganz zu oberst!

Wieder so ein grelles Blenden und kurz darauf ein übermächtiges Donnern. Ein drohender, hallender Schlag gegen die Feste der Himmel. Ein zweites Mal war ein Martinshorn zu hören, das durch den Regen schoss, um irgendwo einem Unglück den Schrecken zu nehmen, Hoffnung zu geben und zu retten, was zu retten war.

„Ich will nicht sterben“, schrie es in mir, und noch in diesem Gedanken, zwischen Blitz und Donner war ich unter meiner Decke hervor und aus meinem Bett aufgesprungen. Schnell war ich an der Zimmertür, als ich erneut einen Donnerschlag meinen Körper, meine Gedanken, meinen Mut durchfahren spürte.

„Ich will nicht sterben!“, noch einmal schrie ich gegen meine Angst an, dann wurde es still. Zusammengekauert, klein und elend saß ich vor meiner Zimmertür mit Blick auf das offene Fenster. Angestrengt sah ich in das Dunkel des Raumes und immer wieder durch das Fenster direkt auf meinen Baum. Die Straßenlaternen waren wieder an und mein großer Freund bewegte sanft seine majestätischen Äste in der abgekühlten, regennassen Luft.

In der Weite, der sich dem Ende zuneigenden Nacht war noch ein tiefes, inniges Grummeln zu hören, nichts, wovor man sich zu fürchten brauchte. Ein letztes Aufzucken, ein letztes Grollen und zurück blieb ein sanftes, melodisches Trippeln und helles Singen der übrig gebliebenen Regentropfen, wenn sie von der Regenrinne in das darunter liegende Regenfass fielen. Gehört hatte mich auch diesmal keiner und selbst wenn sie mich gehört hätten, gekommen wären sie nicht und ich hätte nicht zu ihnen gelangen können. Das Schlafzimmer meiner Eltern war nachts immer abgeschlossen, keiner kam hinein, keiner kam hinaus. Maikefreie Zone. Ich war dort nicht erwünscht, nicht einmal bei Lebensgefahr.

„Das Kind ist alt genug und kann mit seinen Ängsten alleine fertig werden“, hörte ich meinen Vater herrschaftlich durch meinen Gedanken schreiten.

Langsam stellte ich mich auf meine immer noch wackeligen Knie und kam bei dem Versuch des ersten Schrittes zurück zu meinem Bett ins Straucheln. Ein dumpfer, pochender Schmerz zwang mich zum inne halten und instinktiv fuhr ich mit der Hand an das lädierte Knie. Das Gewitter hatte den Schmerz übertönt, doch nun, da es wieder still war und altbekannte Gestalten und luftige Wesen ihren Schabernack mit meinen Sinnen trieben und lustig durch mein Zimmer sprangen, jetzt, wo alles wieder so war wie immer, jetzt zwang mich mein Knie zurück in das Wirkliche, in das Körperliche, in das Hier.

Vorsichtig tasteten meine Finger die dick geschwollene Körperstelle an meinem Bein ab. Heiß fühlte es sich an und krustig verklebt. An Belastung oder gar laufen war nicht zu denken. Jede Bewegung wurde mit einem pulsierenden Brennen quittiert. So schleppte ich mich humpelnd gerade noch zu meinem auf Rollen gelagerten Schreibtischstuhl. Ein leiser Windhauch strich über meinen in ein dünnes Nachthemd gekleideten Körper und verursachte eine Gänsehaut, die über meine Kopfhaut meinen Rücken bis hinunter zu den Fußspitzen lief.

Vorsichtig zog ich mich, immer noch auf meinem Rollstuhl sitzend, an das offene Fenster. Leise, ganz leise zog der Morgen herauf und erfüllte die Luft mit Vogelgezwitscher, während die Welt noch in tiefer Ruhe verharrte. Der Gehweg war übersät mit heruntergefallenen, gewaltsam entrissenen, nassen Blättern. Dunkelgrünen Edelsteinen gleich schillerten sie, mit den sich in den Bäumen verirrten Regentropfen, in der aufgehenden Sonne um die Wette. Wieder versprach es ein herrlicher Sommertag zu werden und auch schon in wenigen Stunden wären dunkelgrüne Blattedelsteine und diamanten schillernde Baumspitzen der flirrenden Hitze des Tages gewichen. „Was machst du da?!“, hörte ich die empörte Stimme meiner Mutter. Erschrocken fuhr ich auf und plumpste unsanft zwischen Schreibtisch und Stuhl auf den harten Parkettboden. Ich hatte sie nicht kommen hören, hatte das Tönen meines allmorgendlich aufschreienden Weckers nicht wahrgenommen. Vorsichtig und noch etwas benommen lugte ich unter meinem Schreibtisch hervor.

„Komm da raus!“ forderte mich meine Mutter ungeduldig auf. Willig folgte ich ihrem Befehl, doch bei dem Versuch, mich auf meinen rechten Arm aufzustützen, um über mein schmerzendes Knie hinweg auf die Füße zu kommen, gab dieser nach, als ob er keinerlei Knochen und Muskeln hätte. Wieder wurde ich dem Boden meines Kinderzimmers gefährlich nahe gebracht, vor allem meine Nase entging nur knapp einer verhängnisvollen Berührung. „Nun komm da endlich vor!“ die Stimme meiner Mutter klang nichts Gutes verheißend.

Vorsichtig setzte ich mich auf. Rieb meinen Arm, der nun scheußlich zu kribbeln anfing. Er war eingeschlafen, genau wie ich. Durch die lustig schimmernden Lichtreflexe und die sanft einschläfernde Tropfenmelodie hatte ich mich dem bleiernen Gefühl der aufkommenden Müdigkeit nicht mehr widersetzen können und war, auf die Fensterbank gelehnt, einfach eingeschlafen. Mein Arm, auf dem ich gelegen haben musste, hatte mir das übel genommen und rächte sich nun an mir, indem er mir den Dienst versagte. Ich kroch unter dem wuchtigen, kirschbaumfarbenen Schreibtisch hervor und richtete mich vor meiner mit dem Fuß wippenden Mutter auf. Diese hielt in ihrer nervösen Bewegung inne und starrte mich an. Nein, sie hielt ihren Blick nicht gebannt auf mein Gesicht oder meinen tauben Arm. Mein Knie lag im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Langsam folgte ich ihrem erstarrten, erschrockenen Blick hinunter zu dem pulsierenden, blau unterlaufenen Etwas, das da zwischen Ober - und Unterschenkel dick angeschwollen war.

„Ach du meine Güte“, rief meine Mutter entsetzt aus, schob mich vorsichtig zu meinem Bett und verschwand so plötzlich wie sie gekommen war. Alle Spannung aus meinem Körper weichend ließ ich mich auf mein Bett fallen. Aufgefangen von weichen Kissen und einer federleichten Zudecke wollte ich mich gerade der Schwere meiner Gedanken hingeben, als sie erneut vor mir stand. Diesmal mit einem ganzen Arsenal an Verbandmull, Salben und Pflastern. Immer mehr seltsamfarbene Cremes und Tinkturen holte sie wie aus dem Nichts hervor und schmierte sie mir auf mein Knie, das nun zu dem dumpfen Schmerz auch noch anfing zu brennen. Dann begann sie die alte, meiner Meinung nach gute Verkrustung mit irgendeinem Wässerchen zu lösen, um die jetzt wieder blutende Wunde mit Jod zu versorgen, wie sie ankündigte. Kaum gesagt, rückte sie mir auch schon mit dem rostorangenen Wattebausch zu Leibe.

„Das tut weh“, schrie ich sie an und zog im gleichen Atemzug mein Bein zur Seite. Zu meinem Unglück auf die Seite, auf der die aus braunem Glas gearbeitete und bis zum Rand mit Jodtinktur gefüllte Flasche stand – gestanden hatte! Mit einem dumpfen Schlag fiel die Flasche um und ergoss glucksend und gurgelnd ihren Inhalt über Mutters neue Designer-Pumps und gab dem sorgfältig restaurierten Dielenboden vor meinem Bett eine neue Färbung.

Entsetzt sprang meine Mutter auf, immer noch den mit Desinfektionsmittel getränkten Tupfer in der Hand. Ohne darüber nachzudenken, begann sie ihre schicken Schuhe mit dem Wattestück zu bearbeiten und machte damit die Sauerei komplett. Schweigend sah ich ihr zu, wie sie die zur Desinfektion gedachte Flüssigkeit immer heftiger in das ehemals weiße Leder einarbeitete. Endlich schien sie zu registrieren, was sie da eigentlich tat, hielt augenblicklich in ihrer Bewegung inne, sah erst mich, dann das von ihr geschaffene Malheur und dann wieder mich an und begann aus tiefster Seele und vollem Herzen zu lachen. Noch ungläubig ob der Geschehnisse sah ich sie eine kurze Weile an, bis auch ich nicht mehr an mich halten konnte und in ihr Lachen mit einstimmte. Erschöpft, aber hoch amüsiert ließ sie sich neben mir aufs Bett fallen.

„So eine Scheiße“, meinte sie, sah mich an und zwinkerte mir zu.

„So eine Mäusescheiße“, konterte ich und sah sie herausfordernd an. Wieder begann sie zu lachen und schloss mich fest in ihre Arme. Wärme und ein Gefühl des Gewolltseins durchströmten mich, ergriffen mich und ließen mich die Angst und Einsamkeit der vergangenen Nacht vergessen. Sie drückte alles einfach weg und ich wünschte, für immer so in ihren Armen liegen zu können. Hier war mein Platz. Genau hier und nicht in irgendeiner Abenteuer heischenden Zeltstatt mit qualifizierten Erlebnispädagogen. Ich wollte da nicht mehr hin. Zu den Kindern mit ihren Rucksäcken voller kleiner Liebkosungen und überlebenswichtigen Utensilien. Hier hatte ich alles, was ich brauchte und war auf Angriffe und Besitzansprüche von Seiten des Feindes bestens vorbereitet. Ich konnte, ja durfte meine Stellung nicht noch einmal verlassen, zu groß waren bereits die Verluste, wenn man nur einmal an das jüngst Opfer dachte: Mein Kummertier.

Doch irgendetwas war plötzlich anders, irgendwie veränderte sich die Umarmung, in der ich mich plötzlich gefangen fühlte. Enger immer enger schloss sich ihr Körper um den meinen, erdrückte mich und mit jedem ihrer Schluchzer, die einem ruckartigen Arythmus folgten, starb ein Teil meines kindlichen Verlangens, ihr nahe zu sein. Wut, unbändige Wut stieg in mir auf. Ich wurde bestohlen, betrogen und missbraucht. Jetzt war ich diejenige, die umarmte, aber ich wollte nicht umarmen, ich wollte umarmt werden. Entschlossen befreite ich mich aus ihrem Zugriff und sah ihr direkt ins Gesicht. Zusammengesunken und gar nicht mehr unbeschwert saß sie vor mir. Ihr Blick ging ins Leere, sie wirkte fremd und unerreichbar. In die Spannung hinein ertönte das mächtige Schlagwerk der alten Standuhr Brachte uns zurück, jede aus ihrer eigenen Gefühlswelt, jede aus seiner ihr ganz eigenen Erleben. Ihr Körper spannte sich, der graue Vorhang vor ihrem Blick zerriss und sie sah mir direkt in die Augen. In meine wütend funkelnde Augen.

„Oh, nein“ deutete sie mein Türkisgrün falsch, „du gehst ins Feriencamp. Ohne Widerrede!“

Schlagartig war es weg, dieses Gefühl, das einem im Bauch tanzt, einen davonträgt in einen rosaroten Tag. – gekippt, erstickt, verschlungen im Ticken der Uhr. Zeit fraß Glück! Diese unselige Maßeinheit, in der wir gnadenlos gefangen waren, lebte von Glück.

„Ich will auch gar nicht hier bleiben“, fauchte ich sie an, zog mich, sie links liegen lassend und ohne ein weiteres Wort vor an meine Bettkante, stand auf und ging ins Bad. Humpeln vergaß ich aber nicht und ein bisschen echt war es ja auch.

Wo Anders

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