Читать книгу Unklare Verhältnisse - Inga Brock - Страница 4
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Vom Ufer aus konnte er nur einen kleinen Teil des Sees überblicken. Auf der gegenüberliegenden Seite wuchs Schilf. So viel konnte er erkennen. Linker Hand, nur ein paar Schritte entfernt, begann ein dichtes Waldstück. In die andere Richtung um den See herum lagen Kartoffel- und Rübenfelder, zumindest glaubte er das, und eine große Wiese, auf der Obstbäume standen. Es war schon sehr heiß, obwohl es noch nicht ganz Mittag war.
Sie hielten ihn für dämlich, das war klar. Und während sein Vater zusammen mit Frau Mohrmann, die wirklich dämlich war, in Richtung Lichtung verschwand, fragte er sich, wie viele Nachmittage lang er noch so tun sollte, als sei er wirklich so beschränkt, wie sein Vater glaubte. So wenig parteiisch. So wenig integer. Er wusste, was integer bedeutete. Er hatte es nachgeschlagen.
Er glotzte in den Himmel. Abgesehen davon, dass es ihn ärgerte, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagten und dass er nicht verhindern konnte, wie schäbig sie seine Mutter betrogen, gefielen ihm diese Ausflüge sogar. Auch wenn die Orte jedes Mal wechselten, bestand Frau Mohrmann darauf, dass sie mittags irgendwo zusammen einkehrten und „der Junge sein Eis“ bekam. Anschließend spielten sie irgendwo Minigolf oder sie machten eine Bootsfahrt. Bei schlechtem Wetter gingen sie in Heimatmuseen oder zu Ausstellungen.
Frau Mohrmann war nicht nur dämlich, sie war auch kein bisschen hübsch. Fand er. Wenn sein Vater geschmacklose Witze erzählte, entblößte sie jedes Mal blöd kichernd ihr wulstiges Zahnfleisch, um den Zotenreißer gleich anschließend gespielt entrüstet zu tadeln und den Jungen zu fragen, ob er noch eine Tüte Erdnüsse wolle und wie er denn so in der Schule sei.
Der Junge warf ein paar Kieselsteine ins seichte Wasser. Die Lichtungen mochte er am liebsten, zu ihnen gehörten Wälder und zu den Wäldern gehörten Hochsitze. Kam noch ein See dazu wie an diesem Tag, dann traf sich das besonders gut, dann wurde der Hochsitz zum Ausguck eines Seeräuberschiffs. Auch wenn er dazu eigentlich schon zu alt war. Sah ja keiner. Oder er spielte Discovery Channel und beobachtete Graureiher und Enten und gab dazu laut Kommentare ab. Hörte ja keiner.
Draußen war es eigentlich immer schön. Richtig schlimm war es nur, wenn sie in öffentlichen Toiletten verschwanden, weil es regnete, und er frierend unter dem Dach einer Bushaltestelle warten musste. Oder wenn sich sein Vater während der Autofahrt nicht beherrschen konnte und Frau Mohrmann zwischen die Beine griff, immer dann, wenn er dachte, der Junge schaue aus dem Fenster oder döse vor sich hin. Irgendwann war es dem Vater wohl auch egal, was der Junge mitbekam. Manchmal überlegte er sich, ob er nicht einfach aus dem fahrenden Auto springen sollte.
Der Junge ging den Steg entlang und spuckte ins Wasser. Der Schleimbatzen bewegte sich nicht von der Stelle. Er sah auf und beobachtete die beiden, wie sie vom Waldrand her auf ihn zukamen. Sein Vater winkte und Frau Mohrmann sah schon von Weitem verheult aus. Es war auch schneller gegangen als sonst.
Als sie später zu zweit in die Wohnung kamen, war seine Mutter am Marmeladekochen. Sie summte vor sich hin und drückte den Jungen zur Begrüßung fest an sich, während der Vater wortlos im Wohnzimmer verschwand. Der Junge schaute seine Mutter an, so erleichtert, so glücklich, so dankbar. Er konnte mal wieder nicht fassen, dass sie noch da war und dass in der Diele kein Abschiedsbrief gelegen hatte: „Ihr könnt mich mal, alle beide!“
Wie gut sie roch. So sehr gut.