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Grüne Briefe

Die Oma ist verliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wird im November fünfundachtzig Jahre alt und es steht zu befürchten, dass es kein Happy End geben wird.

Der kleine Bäckerladen und die Metzgerei sind noch da, aber alles andere hat sich verändert. Jetzt gibt es einen Getränkemarkt, eine Tankstelle, einen Laden für Geschenkartikel, einen Pennymarkt und ein Ärztehaus, einschließlich Hörgeräteakustiker. Der Wald scheint geschrumpft zu sein und ist es tatsächlich. Stürme haben klafterweise Bäume umgeknickt und andere wie einsame Zahnstocher stehen lassen. Sie sehen aus, als warteten sie auf eine Ablösung oder irgendeine Art Wiedergutmachung. Auf den Windwiesen drängt sich ein winziges Einfamilienhaus ans nächste, architektonisches Kraut- und Rübenallerlei. Der Waschbach ist verschwunden und die kleinen Kinder, die ihn jahrzehntelang als ihr Eigentum betrachtet hatten, stapfen heute über mit Rindenmulch gepolsterte Spielplätze, die eingezäunt sind wie Gefangenenlager.

Jedenfalls: Bis zum Waschbach ist die Oma nur noch sehr selten gegangen, auch schon vor zwanzig Jahren. Der Weg war zu weit und der Boden zu uneben.

Auf einer alten Wanderkarte hatte der Opa einen roten Kreis um das Symbol einer uralten Eiche gemalt, die mitten auf den Windwiesen stand. „Naturbesonderheit“ steht in der Legende.

„Gibt es die denn noch?“, fragt die Oma.

„Ja“, sagt die Enkeltochter und lächelt. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Die Oma, die sie vor sich sieht, wenn sie an „die Oma“ denkt, stammt aus den späten Siebzigern. Sie trägt braune Kleider und glockige Blumenröcke, baumelnde Granatohrringe und mehrere lange Goldketten, die über ihrem großen Busen sanft hin- und herbaumeln. Ihre Haare sind weißblond, ganz fein und toupiert, die hellen, schmalen Augenbrauen mit einem schwarzen Stift übermalt. Auf den gelbstichigen Fotos aus dieser Zeit, die alle bei festlichen Anlässen aufgenommen wurden, reicht sie Platten mit Kroketten und Dosenerbsen weiter. Oder sie prostet dem Fotografen zu oder sie schaut den Opa tadelnd an. Auf einem raucht sie Zigarre. Entspannt zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen.

Die Oma von heute wäre sehr gerne die Oma von damals. Vermutlich. Immer, wenn die Enkeltochter sie besucht, erschrickt sie ein bisschen, sobald die Oma die Tür aufmacht. Sie ist so klein geworden und krumm, die Haut ganz runzlig und die Hände wie kleine Klauen. Nur die Augen sind unverändert. Blau.

Sie stellt Schweinsöhrchen auf den Tisch.

„Die magst du doch am liebsten.“ Das Missverständnis ist schon so alt, dass es nicht mehr zu klären ist.

Außerdem gibt es Salzstangen, Paprikachips, belgische Waffeln, Weingummi und eine Familienpackung Lakritzkonfekt.

„Kommt noch jemand?“ Der alte Spruch.

„Nur du.“ Ihr glückliches Lächeln. So stolz und verschwörerisch.

„Den Rest nimmst du nachher einfach mit.“

Sie geht zum Kühlschrank und kommt mit einer gekühlten Flasche Sekt zurück.

„Machst du sie für uns auf?“ Sie setzt sich der Enkeltochter gegenüber und schiebt ihr ein Glas zu. Es steht auf einem runden Korkuntersetzer und gehört zum „guten Service“. Sie überreicht der Enkeltochter noch ein Päckchen, eine flache Schachtel in Geschenkpapier.

„Oma, jetzt reicht’s aber.“ Entrüsteter Tonfall.

„Du hast’s verdient.“

Es ist die Packung mit Pralinen, die ihr die Enkeltochter das letzte Mal mitgebracht habe. Das ist ihr noch nie passiert.

Auf Fotos von früher ist die Oma die drallere und fröhlichere der beiden Zwillingsschwestern. Eindeutig ein „Männertyp“. Die Tante dagegen wirkt sittsam wie die Rose aus dem Poesiealbumsspruch dieser Zeit. Die Art und Weise, wie die beiden sich ihre Männer ausgesucht haben, macht diesen Unterschied zur Nebensache. Elsa, die Tante, sagte: „Ich nehm’ den Gustav.“ Da blieb für die Oma eben nur noch der Hans übrig. Und dabei hat sie noch froh sein können. Sagt sie selbst.

Während der letzten beiden Kriegsjahre war die Oma in Halle, „Landverschickung“. Dort hat sie den Vater ihres Kindes kennengelernt – den leiblichen Großvater ihrer beiden Enkeltöchter. An seinen Vornamen kann sie sich nicht mehr erinnern, aber dass er sehr nett zu ihr gewesen ist, das weiß sie noch ganz genau. Aus dem Bayerischen stammte er und sah sehr gut aus.

Als sie, der Krieg war schon seit sechs Monaten zu Ende, im neunten Monat schwanger war und alles Schnüren nichts mehr half, schickten sie ihre Eltern nach Bayern zum „Kindsvater“. Im Lastwagen hat sie irgendein entfernter Bekannter mitgenommen; stundenlang, über Schlaglöcher ist sie gehoppelt und hat sich den Bauch gehalten.

Unter dem Herrgottswinkel der Bauersleute ließ man sie endlich vorsprechen.

Ja, ob sie denn nicht wisse, dass der Bub schon versprochen sei?

Dass er im Frühjahr die Tochter des Bürgermeisters heiraten werde?

Ob sie denn überhaupt sicher sei, wer ihr das Kind gemacht hätte?

Die Oma schämte sich.

„Kann ich ihn kurz sehen?“

Er sei gerade auf dem Feld und habe keine Zeit.

Ein Glas Wasser hat man ihr nicht angeboten.

Und da ist sie den ganzen langen Weg zurückgehoppelt, auf dem Lastwagen des Bekannten eines Freundes eines Nachbarn eines Freundes, dem das Ganze auch lästig war.

Sie auf der Ladefläche und der Georg in ihrem Bauch, kurz vor seiner Ankunft.

Erst hat sie sich nicht nach Hause getraut, aber ein Onkel hat vermittelt.

„Mein Lieblingsonkel“, sagt die Oma. Der hieß auch Georg.

Die Mutter hat getobt und der Vater nur schweigend an die Wand gestarrt.

„Wenn schon, dann ein Mädchen. Ich habe immer ein Mädchen haben wollen. Ich war ja so entsetzt.“

Die Oma ist immer noch entrüstet. Alle waren sie entsetzt: die Eltern, die mit dem Balg um Himmels Willen verschont werden wollten, die beiden Schwestern, die Zwillingsschwester und die kleinere, die nachts das Zetern anfingen, sobald der Georg zu weinen begann. Und dann haben die Eltern es doch versorgt, das Baby, und die Oma ist arbeiten gegangen. Immerhin: ins „Büro“, Betonung auf der ersten Silbe.

„Angefleht haben sie mich, dass ich endlich heiraten soll.“ Zum Zeichen, dass sie es ernst meinten, habe ihr die eigene Großmutter den Kopf in der Küche gegen die Wand geschlagen. Verehrer habe sie ja gehabt, noch und noch. Aber der eine sei ihr zu alt gewesen, der andere zu schmierig. Der Ekel von damals schüttelt die Oma von heute durch.

„Widerlich, sage ich dir.“ Sie schenkt mit zitternder Hand Sekt nach.

„Und dann habe ich eben den Hans genommen.“

Acht Jahre war da ihr Sohn. Und wahrscheinlich schon so gut wie verloren. Aber sie sieht das natürlich anders.

„Ich hab’ mich halt aufgeopfert für den Georg.“

Die dralle blonde Mutter und der fesche Hans, ein braungebrannter Pfadfinder, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Seine Eltern hat die Oma gepflegt, in Frankfurt, jahrelang, bis sie endlich gestorben sind. Zwei böse Alte, die sie und den Georg höchstens verachtet haben. Wenn überhaupt.

Der Opa war Autosattler. Seine Hände, die Finger kurz und dick, sahen ganz danach aus, wie kleine dralle Würstchen, die beim Fäustemachen zu platzen drohten.

Als die Enkeltöchter klein waren, ließ er sie abwechselnd auf seinem Rücken reiten. Er, in blauer Trainingshose, mit weißem Feinrippunterhemd und schon sehr dickem Bauch, und die beiden Schwestern in Frotteeschlafanzügen, ganz aufgedreht und glücklich. Die Enkeltöchter haben gerne dort übernachtet, obwohl ihnen alles ein bisschen fremd war.

Wenn sie auf Opa Hans’ Rücken saßen und ihm kichernd ein Zehnpfennigstück in die Ohrmuschel steckten, trug er sie auf allen Vieren den Flur rauf und wieder runter, ins schlauchig gebaute Badezimmer und wieder rückwärts raus, in die Küche, die Oma erschrecken und dann ins Schlafzimmer, Abwurf aufs Bett.

„Jetzt wird aber geschlafen.“

Einmal hat sich die kleinere der beiden Enkeltöchter vor Lachen in die Schlafanzughose gemacht.

Im Schlafzimmer der Großeltern war alles dunkelblau. Die Vorhänge, der Teppich, die Tagesdecke, die Zierkissen. Der Farbton wirkte irgendwie unpassend, so als müsse er ungeheuer tapfer für etwas stehen, was die Großeltern ihr ganzes Leben lang entbehren mussten, eine merkwürdige Mischung aus Royalblau und Karstadttüte.

Es war kalt unter den Deckbetten. Die Enkeltöchter lagen Po an Po, bis es schön warm wurde.

Als der Georg also schon längst groß war und eine Frau und die beiden Töchter hatte, stand er jeden Sonntag mit seinen Lieben auf der Matte. Dann gab es Eierstichsuppe und anschließend Rinderbraten, abends Wurstplatten mit Fleischsalatfliegenpilzen, Schinkenröllchen und russische Eier, von allem immer viel zu viel. Die Oma von damals schien in ihrem Element zu sein. Mit dem Opa schimpfte sie manchmal.

Bei schönem Wetter und zwischen den Mahlzeiten gingen alle gemeinsam spazieren, in die Karlsruher Günther-Klotz-Anlage, wo sie anderen beim Ruderbootfahren zusahen. Der Weg dorthin, immer an den gleichen Häusern entlang, war mit den immer gleichen Geschichten gespickt, die sich in den Häusern zugetragen haben sollten. In einem mit Parterrebalkon zur Straße hin, hatte ein alter Musiklehrer vom Opa gewohnt, den die Frau zum Geigespielen immer auf den Balkon geschickt hatte, dort die alte Frau Renz, die sich eines Tages auf dem Dachboden erhängt hatte. Die Leute fragten sich noch heute, wie sie das mit dem Knoten nur hinbekommen hatte, so schwer habe sie doch die Gicht gehabt in ihren Fingern. Da hatte die jüdische Familie gewohnt, dort der Onkel von dem, die Cousine von der und so weiter. Svenja war die kleinere der beiden Enkeltöchter, und sie liebte das. An den alten Musiklehrer vom Opa Hans denkt sie heute noch jedes Mal, wenn sie mit dem Auto durch die Yorckstraße fährt.

Der Opa hat die Geschichten immer angefangen, und die Oma hat sie zu Ende erzählt. Den Opa hat das geärgert.

Den beiden Enkeltöchtern war Regenwetter sonntags am liebsten. Dann unterhielten sich die Großen im Esszimmer. Der Opa schlief dabei fast jedes Mal ein. Er kippte auf dem kleinen Beistellsofa einfach zur Seite weg. Die Enkeltöchter hörten sein Schnarchen auch noch im Nebenzimmer, dem eigentlichen „Wohnzimmer“ mit Riesenschrankwand und Bordüren an den Kissen. Dort durften sie bis zum Abendessen fernsehen. „Bonanza“, „Lassie“, „Unsere kleine Farm“, „Die Waltons“. Die Oma bestückte den Couchtisch flächendeckend mit Süßigkeiten: Schaumerdbeeren von Haribo, Flips, Chips, Salzstangen, Brausetütchen und Katzenzungen.

Svenja war kein dickes Kind. Ihr wurde kein einziges Mal schlecht, obwohl sie sich ranhielt. Sie blieb Bohnenstange, bis sie 15 war, und John-Boy war ihre erste große Liebe.

Es klingelt. „Schwester Monika“, sagt die Oma von heute und geht zur Tür.

„Ich komme schon“, sagt sie beim Öffnen, „bin schon da.“

Schwester Monika ist klein und stämmig und freundlich.

„Wie geht’s, Frau Thienemann?“, fragt sie und schiebt die Oma in Richtung Ohrensessel. Seit einem Jahr braucht sie Hilfe beim Anziehen der Stützstrümpfe, jeden Morgen.

„Meine Enkelin“, sagt die Oma und nickt stolz in Richtung Esstisch.

„Hallo“, sagt Schwester Monika, und gibt Svenja die Hand ohne sie anzusehen.

„Dann wollen wir mal.“

Die Oma öffnet ihre Bundfaltenstoffhose und lässt sie runterrutschen. Die Enkeltochter schaut weg. Und wieder hin. Der Oma ist das nicht unangenehm. Halb nackt wirkt die Oma noch älter und hilfloser.

Es stört die Enkelin, dass jemand Fremdes die Oma anfasst.

Mit achtundsechzig Jahren ist die Oma zum ersten Mal gestürzt. „Typisch“, hatte ihre Schwiegertochter, Georgs Frau, dazu nur gemeint.

„Was fährt sie auch extra mit dem Bus in die Stadt, nur um drei Orangen zu kaufen. Die hätten wir ihr doch auch mitbringen können.“

Die Oma war aus dem Bus gestiegen und hatte fast schon mit beiden Füßen auf der Straße gestanden. Dann ist es passiert.

„Und immer voll aufs Gesicht, ausgerechnet.“ Die Schwiegertochter meinte es nicht so.

Als der Opa starb, hat die Oma ein Jahr lang Schwarz getragen. Im Dorf, im alten Dorf, das von den Zugezogenen auf den Windwiesen noch nichts gewusst hat, haben die anderen Frauen bis zu sieben Jahre Trauer getragen. Witwentracht.

Den Granatschmuck ließ die Oma im Kästchen liegen, und auch die Augenbrauen zog sie sich nicht mehr nach.

Bei der Beerdigung hat sich der Pfarrer vertan und den Großvater Otto genannt, nicht Hans.

„Otto Thienemann fuhr für sein Leben gerne Kanu.“ Mit achtzehn ist ihr Hans das letzte Mal mit dem Kanu unterwegs gewesen.

Die schönste Erinnerung an den Opa ist, wie er nach dem Essen (die Zeit der Russischen Eier ist längst vorbei und die beiden Enkeltöchter so gut wie aus dem Haus) in seiner Hemdtasche nach den Revals kramt. „Wer Reval raucht, frisst kleine Kinder“, hieß es. Der Opa hätte eher sich selbst aufgefressen.

Die Schachtel hatte das gleiche Orange wie Creme 21. Sie war immer ganz zerknickt, wenn er sie aus seiner Brusttasche hervorholte. Dann strich er sie glatt, Tabak krümelte heraus und die Oma zog die Augenbrauen hoch.

„Kommst du mit rüber und erzählst mir von deinem neuen Freund?“

Svenja ging mit ihm zusammen ins andere Zimmer, wo sie ihm nicht von ihrem neuen Freund erzählte, sie hatte seit drei Jahren denselben und alle wussten das. Der Opa wollte eine von ihren Camels und sie eine von seinen Revals. Möglicherweise war er ein kluger Opa. Sie stießen den Rauch durch die Nasenlöcher aus, und er versuchte, ihr das Kringelmachen beizubringen. Die Eltern haben erst Jahre später mitbekommen, dass die jüngere Tochter raucht. Da war der Opa schon an Nierenversagen gestorben. Mit neunundsechzig Jahren auf der Krankenhaustoilette.

Fast bis zuletzt hat die Enkeltochter in seinem Gesicht erkennen können, wie gut er als junger Mann aussah.

Die Oma war sehr tapfer. Sie weinte, wenn sie alleine war. „Alleinstehend“ war ab sofort wörtlich zu nehmen.

In dieser Zeit fingen die Gespräche an. Der Opa sei nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, aber welcher Mann sei das schon.

„Vor allem die Männer meiner Generation.“

Sie habe sofort gespürt, dass der Kollege in Freiburg gar kein Kollege gewesen sei.

„Ein Jahr lang hat er mich hinterher nicht mehr anfassen dürfen, nichts ist da mehr gelaufen.“

Und noch immer kommen ihr, Triumph in der Stimme, die Tränen.

Einmal sagte sie ohne Einleitung und Umschweife: „Ich hatte noch nie einen Orgasmus.“

Svenja erschrak nicht, es kam ihr ganz normal vor, dass sie auch darüber sprechen wollte. Sie wunderte sich nur darüber, dass die Oma den Begriff so selbstverständlich gebrauchte.

„Ich lag einfach nur da, und war froh, wenn es vorbei war.“

Sie schob einen Teller mit Erdnüsschen zu ihrer Enkelin.

„Männer sind so“, sagte sie und tat Svenja leid.

„Schmusen, das konnte dein Opa nicht.“

Den Opa und die Oma hatte tatsächlich keine der beiden Enkeltöchter je miteinander schmusen sehen, den Vater und die Mutter aber auch nicht. Nur kopulieren.

An manchen Sonntagen wurden Ausflüge gemacht. Ohne die Eltern. Wenn sie mal Ruhe brauchten oder „was vorhatten“. Dafür fuhr das Nachbarsehepaar der Großeltern mit; Kolonne bis in den Schwarzwald. Natürlich fuhren Lindenbergers voraus, schließlich hatte Herr Lindenberger einen cremeweißen Mercedes und der Opa nur einen alten Ford Taunus. Den Opa wurmte das, während Herr Lindenberger Zigarre paffte und ab und zu in den Rückspiegel winkte. Seine Frau war klein und drall und speckig. Sie lachte gäckernd, wie eine Ziege, und stellte hinter jeden Satz ein schwungvolles „gelt?“.

Der Opa ließ sich seine gute Laune nicht nehmen, darum wurde im zweiten Fahrzeug lauthals gesungen: „Wenn die bunten Fahnen wehen“, „My Bonnie is over the ocean“, „Es saßen zehn Gestalten auf einem Donnerbalken“, „Ein belegtes Brot mit Schinken“ und so weiter.

Die Oma und der Opa trugen Wanderkleidung, Lindenbergers auch, und natürlich: Spazierstöcke mit Wanderabzeichen aus dem Schönen Berner Oberland, dem Engadin und aus Kufstein. Wenn Herr Lindenberger beim Wandern zu singen anfing und die Mädchen zum Mitsingen ermunterte, blieben sie stumm wie Fische. Der Opa grinste.

Lindenbergers hatten keine Enkelkinder und mochten die beiden Schwestern. Jeder Ameisenhügel am Wegesrand bekam Lindenbergers Wanderstock zu spüren: Er setzte ihn jedes Mal direkt an der Spitze an und bohrte ihn schwungvoll und mit einer Drehbewegung so tief und fest hinein, wie es ging.

„Passt mal auf, was da jetzt gleich los ist.“ Er freute sich.

Dann der Standardspruch seiner Frau: „Ameisengift ist gut gegen Rheuma.“

Seine Standardantwort: „Da weiß ich was Besseres.“ Zwinker, zwinker, erst zur Oma und dann zu seiner Frau, die gut gelaunt lachte und die beiden kleinen Mädchen an ihre bloßen, verschwitzten Arme drückte.

Ritte auf Opa Hans’ Rücken fielen nach solchen Tagen aus, wurden am nächsten Morgen aber noch vor dem Frühstück nachgeholt.

Zuerst ist der Opa gestorben, dann die Frau Lindenberger, dann der Herr Lindenberger, und jetzt lebt nur noch die Oma.

Es ist passiert, als sie mal wieder stürzte. In der Stadt lag Schnee. An den Straßenecken türmten sich meterhohe Berge, die in der Nacht mit einer neuen Pulverschicht überzogen worden waren. Die Luft war eisig und der Himmel strahlend blau. Es war Anfang Dezember, die Leute waren in Weihnachtsstimmung und hatten noch nicht genug von Christkindlesmärkten, Weihnachtsbeleuchtung und verkleideten Nikoläusen. Die Stadtbediensteten in ihren orangefarbenen Anoraks hatten am Vorabend gründlich gestreut und am Morgen Schotter nachgeschaufelt.

Die Oma hatte gute Laune. Sie hatte bei der Metzgerei „Sack“ ein Paar Wiener gekauft und sich schon auf den Kartoffelsalat gefreut, den sie später dazu bereiten wollte, mit Brühe und geschmelzten Zwiebelchen. Eine Fernsehzeitschrift hatte sie sich auch besorgt, jetzt fehlten nur noch Orangen, wie immer drei Stück. Eine davon wollte sie später mit Nelken bestücken, weil das so gut roch.

Und genau in diesem Moment ist sie wieder gestürzt, aufs Gesicht. Natürlich. Sie lag auf der Kopfsteinbrücke, die über die Alb führt, und war zu wenig benommen, um sich nicht zu schämen. Gleich mehrere Passanten wandten sich ihr zu und wollten ihr beim Aufstehen helfen. Ein älterer Herr war aber der Schnellste von allen. Er beugte sich zu ihr herunter und fragte, ob er ihr aufhelfen dürfte.

„Dürfte!“ Die Oma ist ganz aufgeregt. „Dürfte! Stell dir das mal vor!“

Dann fasste er sie behutsam unter den Achseln und zog sie in die Senkrechte. Anschließend trat er von hinten an ihre linke Seite, wobei er ihr den rechten Arm um die Schultern legte und sie behutsam drückte.

„Wird es gehen?“

Die Oma nickte nur stumm und befangen.

Dann hakte er sich bei ihr unter und fragte sie, ob sie es weit habe.

Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war, und ganz langsam gingen sie zusammen los.

Den ganzen weiten Weg hat er sie nach Hause begleitet, die Kronenstraße entlang, über die breite Pforzheimer Straße mit den beiden Zebrastreifen, an der Herz-Jesu-Kirche vorbei und am Park, über den Dickhäuter Platz und bis vor ihre Haustüre in der Heinrich-Magnani-Straße.

Die ganze Zeit hat sie ihn gespürt.

„Er war sehr gut gekleidet, sein Haar voll und grau. Er sah reich aus, wenn ich ehrlich bin. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, wie gütig seine Augen sind und wie schön. Aber seine ganze Art war ja so. Wie ein Gentleman, so war er zu mir. Er trug edle Handschuhe aus Kalbsleder und einen Schal. Einen Hut? Ich glaube nicht, nein. Ich habe ihn sogar gerochen, er roch sehr gut. Als wir an der Kirche vorbei waren, habe ich an seiner Nase einen kleinen Tropfen entdeckt, der zu klein war, um zur Erde zu fallen, aber beständig gezittert hat. Er konnte ja schlecht sein Taschentuch hervorholen: Mit dem rechten Arm hatte er mich untergehakt und in der linken Hand trug er meine Einkäufe. Dieser Tropfen hat mich gerührt und überhaupt nicht geekelt, ganz anders als sonst immer. Er sah ja auch so vornehm aus. Als wir da waren, hat er mir seine Karte dagelassen und sich meine Nummer notiert. Es ist schrecklich, ich glaube, ich vergesse schon sein Gesicht! Ich bekomme die Teile nicht mehr richtig zusammen. Aber einen Hut hat er wirklich nicht getragen, glaube ich. Komisch, es war ja so kalt. Am Abend hat er dann angerufen, stell dir vor. Er wollte fragen, wie es mir ergangen sei und ob ich mich von dem Schock erholt habe. Da hatte ich mir schon lange das Blut aus dem Gesicht gewaschen und mich umgezogen. Aber den Kartoffelsalat habe ich doch nicht mehr gemacht. Ich war ja noch ganz zittrig. Ich glaube, wegen ihm.

Er heißt Friedrich Laubenstein. Ein schöner Name, finde ich jedenfalls.“

Sein erster Brief kam zu Weihnachten. Er war sechs Seiten lang und in grüner Tinte geschrieben. Die Oma weinte, während sie ihn las. Noch nie hatte jemand für sie einen derart liebevollen und besorgten Ton angeschlagen. Und wie lange war es her, dass sich jemand für sie, nur für sie, so viel Zeit genommen hatte? Am Ende des Briefes stand ein Heine-Zitat: „Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,/ Und ertrage Dein Geschick./ Neuer Frühling gibt zurück,/ Was der Winter Dir genommen.“

Wer, bitte schön, hätte sich da nicht verliebt?

Friedrich Laubenstein ist fünfzehn Jahre jünger als die Oma. Er ist vermögend und Besitzer einer Kunststofffabrik im Karlsruher Rheinhafen, die er nun endlich auflösen möchte.

Den ersten Brief der Oma erhielt er noch im alten Jahr; geschrieben in einer Mischung aus ergebener Dankbarkeit und freudiger Erwartung, altmodisch mit topaktuellem Inhalt.

Die Oma schlief nur noch sehr wenig. Wenn überhaupt, dann nur mithilfe ihres Radios, das Schlager spielte, Operetten, bekannte Opern, und tagsüber Glückwünsche übermittelte.

„Alles könnte man mir nehmen, nur die Musik, die nicht.“

Morgens erwachte sie voller Hoffnung und Freude darauf, ihn genau an diesem Tag wiederzusehen. Denn natürlich hatte sie ihn eingeladen, schon weil es sich so gehörte. Gut möglich, dass er sich bei ihr melden würde oder auf einen spontanen Besuch vorbeikäme. Heute. Oder schon bald.

Sie ließ sich neue Dauerwellen machen, bestellte sich beim Baur-Versand zwei neue Blusen und zog sich die Augenbrauen fast bis zum silbrig weißen Haaransatz nach, bis an die Oberkante ihrer erstaunlich kleinen Ohren. Die Schwiegertochter verdrehte entsetzt die Augen, als sie das einmal sah. Sie hätte die Oma auf keinen Fall ermutigt, wenn sie von Friedrich Laubenstein gewusst hätte.

Auf den Tag genau sechs lange Wochen wartete die Oma, bis endlich Antwort von ihm kam. Was ihr dabei am meisten half, war die Tatsache, dass lange Briefe Zeit brauchen.

Dieses Mal schrieb er mehr Persönliches. Dass er Kohelet verehre, einen Propheten des Alten Testaments, dessen Namen sich die Oma aber nie merken konnte; wie wichtig ihm sein Glaube sei, dass er jeden Sonntag in die Kirche gehe und: dass das Leben zuweilen traurig sein konnte. Das verstand die Oma.

Auch deshalb hatte sie das letzte Mal eine Kirche betreten, als der Opa gestorben war. Dem Kirchengott hatte sie nie verzeihen können.

Friedrich Laubenstein beschrieb mit grünen nach rechts geneigten und sehr schwungvollen Worten, wie schön Baden-Baden im Frühling sei. Ob er vielleicht auf einen gemeinsamen Spaziergang entlang der Oos hoffen dürfe?

„Intellektuell bin ich ihm natürlich nicht gewachsen“, sagte die Oma glücklich, „wirklich, ich glaube, er ist mir haushoch überlegen.“

Wo die Liebe hinfällt, dachte sie und träumte.

Beide Briefe liegen auf dem Nachttisch der Oma, und jeden Abend und in jeder Nacht, die seitdem vergeht, liest sie darin, obwohl sie sie längst auswendig kennt. Sie weint viel und wartet. Manchmal wird sie wütend, aber nur ein bisschen.

Einmal hat sie bei ihm angerufen. Sie suchte im Telefonbuch nach seiner Privatnummer, trank ein Gläschen Topinambur und lauschte auf das Tuten im Hörer. Eine Frau nahm ab, und sie sagte, dass sie gern Herrn Laubenstein sprechen würde. Die Frau bat sie, einen Moment zu warten. Dann hörte sie seine Stimme im Hintergrund.

„Ich rufe morgen zurück.“

Was er nicht tat.

„Bestimmt hatte er Damenbesuch.“ Entrüstung.

Manchmal malt sich die Oma aus, wie sie sich eines Tages unverhofft auf der Straße treffen und begrüßen, als habe ihnen und ihrer Liebe die ganze Welt bis dahin riesige Steine in den Weg gelegt. Oder wie sie sich in einem Café gegenübersitzen und sich anschauen ohne zu reden, ganz selbstverständlich und völlig unbefangen.

„Für so was musste ich fünfundachtzig werden“, sagt sie weinend, für so viel Liebe und so viel Schmerz. Das Briefpapier ist schon ganz brüchig vom vielen Zusammenfalten. Die Oma musste die Stellen mit Tesafilm verstärken. Der Gang zum Briefkasten ist einer der Höhepunkte ihres Tages, obwohl ihre Schritte immer schwerer werden.

Jetzt ist sie wieder gestürzt und hat sich die linke Hand gebrochen und den Unterarm. Aber erschöpft war sie schon zuvor. Und sehr viel krummer und meistens ganz still.

Die Enkeltochter hat etwas herausgefunden.

„Du, er ist verheiratet“, sagt Svenja vorsichtig und schiebt der Oma das Schälchen mit den Salzletten zu.

„Habe ich mir gedacht“, sagt sie und hört sich gleichzeitig tapfer und mitgenommen an. Die Enkeltochter weiß beim besten Willen nicht, ob die Oma sie tatsächlich richtig verstanden hat.

Unklare Verhältnisse

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