Читать книгу Weihnachtspfeffer - Inga Droemer - Страница 7
Stromsperre
Оглавление"Fast jeden Abend kam zu der monatelangen Kälte, der schon am frühen Nachmittag beginnenden Dunkelheit und den stundenlangen Schneefällen noch die fast tägliche Stromsperre hinzu. Auf den Dörfern wurde einfach der Strom abgestellt, sicherlich um Geld zu sparen. Wir waren abgeschnitten von der Außenwelt, von der Zivilisation. Ein Notfall hätte nicht eintreten dürfen. Doch daran dachten wir gar nicht erst. Wir kannten es ja nicht anders, niemand kannte es in den Siebzigern anders. Fast keine Familie im Dorf besaß ein Telefon, geschweige noch ein Auto. Wie haben wir bloß überlebt? Zum Glück heizte Oma ihr Wohnzimmer mit Papier, Holz und Kohle, sonst wäre in diesem Fall die Heizung auch noch ausgefallen und das Telefon hätte seinen Geist aufgegeben. Welch ein Glück, dass es das damals alles noch nicht gab, sonst wäre man in
solchen Momenten panisch geworden. Aber so war uns dieser sogenannten Luxus fremd, wir begnügten uns mit dem, was wir hatten, mussten uns mit dem Einfachsten zufrieden geben, Kerzen aufstellen und uns bis zum nächsten Morgen gedulden, da wurde es ja wieder hell.
Jeden Abend saßen wir gemeinsam im einzig warmen Raum im Haus, dem Wohnzimmer meiner Oma. Hier stand noch eine geschnitzte Holzbank direkt am Ofen, auf ihr saß meine abgearbeitete Mutter am liebsten. Der dunkel gebeizte rustikale Schreibtisch und das passende Buffet waren noch älter als meine Oma. Auf dem Schreibtisch links am Fenster im Hellen thronte ihre Klivie im satten Grün, verzweigt mit vielen neuen blättrigen Ablegern. Oma spreizte sie mehrmals täglich ganz vorsichtig auseinander und hielt nach den orangenen Blüten Ausschau, sie guckte sie förmlich herbei. Rechts in der Ecke stand schräg ihr Fernsehapparat, der der Dreh- und Angelpunkt für die ganze Familie war. Jeden Augenblick sollte die Lieblingsserie von meinem Bruder und mir beginnen, „Rauchende Colts“, mit Festus, unserem Starcowboy, diesem alten, von der Sonne braungebrannten, zerknitterten kleinen Kerl mit seinen abgeknickten Ohren, nur durch sie rutschte ihm sein Cowboyhut nicht ins Gesicht. Er hatte immer seinen Esel Muhli an der Leine und wenn er mit seinem krächzenden, viel zu hohen Männerstimmchen drauflos quasselte, war er der absolute Held für uns Kinder. Gerade hatten wir uns die Stühle so hingestellt, dass wir alle vier gut sehen konnten, da war schon wieder Stromsperre. Es war zum blau ärgern!
Oma zündete die Kerzen an, sie hatte sich im Vorfeld alles bereit gelegt. Wir waren bockig, hatten uns so auf unsere Lieblingssendung gefreut, war es doch in dieser Woche schon zum vierten Mal, das wir bei Kerzenschein sitzen mussten. Das Kerzenlicht schmeichelte dem spartanisch eingerichteten Wohnzimmer meiner Oma zwar, gerade in der Adventszeit, gab dem schlichten Raum eine besonders festliche Note, aber wir Kinder wollten viel lieber fernsehen. Und jeden Abend bei Kerzenschein gemeinsam mit Mutti und Oma zusammen sitzen, war irgendwann auch nicht mehr lustig. Ihre Geschichten von früher hatten wir nun schon tausend mal gehört. Eigene Kinderzimmer, wo wir uns hätten zurückziehen können, daran dachte damals niemand. Ab und zu spielte ich auf meinem Akkordeon ein paar Weihnachtslieder zur größten Freude der beiden Frauen, aber mein Bruder schien genervt von meiner Musik zu sein, machte Faxen, lenkte mich ab und nahm mir die Freude am Musizieren. Zu späterer Stunde versuchten wir uns im Schattenspiel und projektierten mit unseren kleinen Händen die unterschiedlichsten Figuren an die bunte Tapete. Ich konnte nur einen hoppelnden lustigen singenden Hasen Namens Cäsar mit der Rechten und ein gefräßiges Krokodil mit der linken Hand, das sein Maul suchend auf und zu bewegte. Mein Bruder schien begeistert von meinen Figuren zu sein, beobachtete faszinierend das Spiel an der Wand. Er vergaß zu atmen, sein Mund stand offen. Bei soviel Spannung, wie es mit dem Hasen und dem Krokodil weiter gehen würde, hatte er wohl vergessen, ihn zu schließen. Das schien mir der geeignete Moment zu sein, ihn aus seinen Träumen erwachen zu lassen. Mit einer unbändigen Lautstärke bekam das Krokodil den kleinen Hasen zu fassen. Dieser werte sich krampfhaft, wollte ein letztes mal fliehen, doch das Krokodil zerrte immer heftiger, immer wilder und gieriger an ihm, bis dem Hasen die Luft ausging und der Kampf verstummte. Mein kleiner, dicker Bruder erschrak in der Dunkelheit und zuckte augenblicklich zusammen. Meine Mutter tröstete ihn sofort, nahm ihn auf den Schoß und meckerte mit mir, weil er sich so erschrocken hatte und weinte. Gott der Arme! Bevorzugte sie diesen kleinen Wicht etwa? Sie drückte und tröstete ihn immer noch. Wie er sich an sie schmiegte! Ich setzte mich zu Oma auf den Schoß und genoss ihre innige Zuneigung: „Er hat mich ja auch nicht Akkordeon spielen lassen!“ tuschelte ich ihr leise verlegen ins Ohr. Trotz allem hatten wir Spaß, lachten gemeinsam und erfreuten uns an solch innigen Momenten.
Bei jedem Gang über den stockfinsteren langen Flur zur eiskalten Toilette oder in die Küche nahmen wir eine Kerze mit, um nicht im Dunkeln zu stehen. Oma hatte sie mit flüssigem Wachs auf einer Untertasse aufgeklebt. Doch manchmal kippte sie um und spritze das Wachs auf den nagelneuen blauen Perlon Teppich im Flur.
Ich erinnere mich deshalb noch ganz genau an diese Geschichte, weil ich am nächsten Tag den Wachsfleck aus dem Teppich bügeln sollte, ich, mit Hilfe der märkischen Volksstimme, die sollte wie ein Löschblatt das geschmolzene Wachs in sich aufnehmen. Oma hatte mir alles genau erklärt, auch das das Bügeleisen nicht so heiß sein dürfe. Aber ich hatte mal wieder nicht zugehört, wollte viel lieber fernsehen, zu meinem Bruder, der saß schon vor dem Apparat und guckte „Rauchenden Colts“.
Ich musste mich beeilen, um nicht soviel von der Serie zu verpassen, erhitzte das Bügeleisen, bis das rote Lämpchen ausging, legte die Zeitung auf den großen Wachsfleck und stellte das Bügeleisen direkt darüber. Als ich nach einem Weilchen gucken wollte, ob sich der Wachsfleck schon aufgelöst hatte, klebte die Volksstimme in Spiegelschrift in der Größe der Bügeleisensohle auf dem Teppich. Sie war eingebrannt, verschmolzen mit dem Perlon! Auweia, was hatte ich getan. Ich fing sofort an zu weinen, das wollte ich doch
gar nicht. Als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, sah sie den Schandfleck sofort. Sie kniete nieder, fing sofort an zu weinen und schimpfte furchtbar mit mir und meiner Oma, die mich vor ihr in Schutz genommen hatte. All unsere Entschuldigungen halfen nichts, ganz im Gegenteil. Sie tat mir so leid, ich wusste, wie schwer sie jeden Tag arbeiten musste. Aber nun war es passiert, ich hätte die versenkte Stelle höchstens noch raus schneiden können....."