Читать книгу Geschichten der Nebelwelt - Inga Kozuruba - Страница 7

Kapitel 9

Оглавление

Der Richter erwachte am Morgen zur gewohnten frühen Stunde und fühlte sich kaum erfrischt. Die scheußlichen Albträume machten ihm zu schaffen. Mit dieser Art Schreckgespenstern hatte ihn der Schlaf bisher noch nie gequält, und jetzt suchten sie ihn gleich zwei Nächte in Folge heim. Doch da musste er jetzt durch. Leicht benebelt und mechanisch aß er sein Frühstück, verabschiedete sich von seinem Hausdiener, und machte sich auf den Weg zum Rathaus. Er setzte wie gewohnt einen Fuß vor den anderen, nickte gedankenverloren der Bäckerwitwe zu, und bemerkte erst dann, dass er deutlich langsamer unterwegs war im Vergleich zu seinem gewohnten Tempo. Als ob etwas ihn ihm die kommenden Dinge von sich schieben, noch etwas Zeit schinden wollte. Er atmete tief durch, um sich zusammenzureißen, und begann, schneller zu gehen. Er musste noch einiges erledigen, bevor er sich mit der Oberin zum Mittagessen treffen würde. Denn am Nachmittag würde er die Stadtherren aufsuchen müssen, um mit ihnen die noch anstehenden Vorbereitungen zu besprechen. Und auch wenn nur zwei von ihnen derzeit in der Stadt waren, so würde die Angelegenheit dennoch einiges an Zeit benötigen.

Frau Petrana Eisenmeister, eine verbitterte und strenge Witwe, neigte dazu, sich pedantisch mit allerhand Details aufzuhalten. Sie war zudem dem Klerus wohlgesonnen und würde gewiss verlangen, dass die Stadt im besten Licht erscheinen müsste – wozu auch gehörte, dass die hochrangigen Mitglieder des Rächerordens die bestmöglichen Unterkünfte erhielten. Karl hoffte insgeheim, dass sie den ranghöchsten von ihnen eine persönliche Einladung auf ihr Anwesen aussprechen würde. Dann könnte ihr straff geführter Haushalt, in dem es angeblich strenger zuging als in einem Kloster, sicherlich alles nötige dafür tun, damit die Herrschaften des Ordens nichts auszusetzen hätten.

Für Femeon Waldherr würde Karl ebenfalls einiges an Zeit benötigen, allerdings aus anderen Gründen. Dieser Stadtherr war so ziemlich das genaue Gegenteil von Frau Eisenmeister – ein weicher, freundlicher Mann, der dazu neigte, ständig abzuschweifen und nie auf den Punkt zu kommen. Er war eine recht unterhaltsame Gesellschaft bei geselligen Zusammenkünften, doch wann immer es um wichtige Themen ging, war der Mann in seiner Inkompetenz nicht zu ertragen. Seine Frau Daria war diejenige, die sich um alle Geschäfte kümmerte – unglücklicherweise hielt sie sich häufig nicht in der Stadt auf sondern sah persönlich und zusammen mit ihrem Sohn nach den Holzfällern und dem Holztransport über den Fluss. Wenn man der Gerüchteküche glauben konnte, so verließ mit der Hausherrin auch jegliche Disziplin den Haushalt des Waldherr-Anwesens, da Femeon selbst den Leuten allerhand durchgehen ließ und sich nicht im Geringsten um die Dinge kümmerte, die eine Frau Eisenmeister als verderbten Verfall der Sitten bezeichnet hätte.

Auf den Straßen der Stadt war mit dem guten Wetter nun definitiv die gewohnte Geschäftstüchtigkeit eingekehrt. Der Richter achtete nicht besonders auf das Treiben der Leute um ihn herum, da er sich so schnell wie möglich im Rathaus einfinden wollte. Er hatte aber auch nie Interesse daran gezeigt, sich mit den Menschen auf einer so nahen Weise zu befassen. Ihr Geschnatter, ihre Gerüche, ihre oft zu aufdringliche Nähe bereiteten ihm Unbehagen. Er fand keinen Vergnügen daran, sich darüber zu unterhalten, wer mit wem zugange war, wo schon wieder ein Kind geboren wurde, oder mal wieder jemand verstorben war. Verbrechen interessierten ihn, weil das sein Beruf und seine Verantwortung war, aber mit allem anderen konnten die Leute ihm wirklich gestohlen bleiben. Und jetzt, wo es erneut warm wurde und die Leute immer öfter miteinander in Berührung kamen, war er froh, sich so schnell wie möglich wieder in seine Stube zu seinen Dokumenten zurückziehen zu können. Es gab nur sehr wenige Menschen auf der Welt, mit denen er irgendeine Form von Nähe unterhalten wollen würde, und dazu zählte keiner der Leute um ihn herum.

Auf seinem Schreibtisch häuften sich die Rückmeldungen, die ihm von den Boten gebracht wurden. Karl inspizierte sie sorgfältig eine nach der anderen und seine innere Unruhe legte sich ein wenig. Die Stadt hatte genug Vorräte vorzuweisen, um einige Tausend zusätzlicher Münder für ein bis zwei Wochen versorgen zu können – das, was die Pilger nicht hatten aufbrauchen können, da ihre Rückkehr aus dem Kloster nicht stattgefunden hatte. Alternativ würde man mit den vorhandenen Vorräten eine längere Belagerung überstehen können, sollte sich aus irgendeinem Grund ein solcher Notfall einstellen. Der letzte große Krieg lag zwar dankenswerter Weise schon etliche Jahrhunderte zurück, doch man konnte ja nie wissen, was die Zukunft mit sich brachte.

Auch hinsichtlich der möglichen Unterkünfte gab es nichts zu befürchten. Den „Lustigen Bären“ setzte Karl bewusst möglichst weit nach unten auf die Liste, mit dem Vermerk, dass dort nur einfache Leute und Söldner einkehrten und man den ranghöchsten Rächern eine ihres Standes würdigere Unterkunft anbieten wolle. Die Gaststätten rund um die Kirche der Stadt setzte Karl dagegen möglichst vorn auf die Liste, da die Mitglieder des Klerus sicherlich die Nähe des heiligen Ortes bevorzugen würden. Die Möglichkeit einer Aufnahme im Anwesen der Familie Eisenmeister versah er noch mit einem Fragezeichen. Er wollte sich dazu erst noch die Zustimmung der Stadtherrin einholen.

Der Glockenschlag der Kirchturmuhr riss Karl aus seiner Arbeit und er erschrak ein wenig. Beinahe hätte er seine Verabredung mit Oberin Klarina verpasst. Eilig räumte er die Dokumente an den ihnen zugewiesenen Platz und machte sich auf den Weg zum Kloster der Schwesternschaft, wo die Oberin ihn empfangen wollte. Besonderen Appetit hatte er zwar nicht, aber das war vermutlich auch gut so. Das Kloster würde ihm ein eher einfaches Mittagsmahl anbieten, und es würde einen guten Eindruck bei Klarina erwecken, wenn ihm das genügte. Zum Glück war das Rathaus nicht allzu weit von der Kirche und dem Kloster mit seinem Hospital und dem Waisenhaus entfernt.

Die Oberin wartete bereits auf ihn, als er dort eintraf und von einer der Novizinnen zu ihr gebracht wurde. Sie erhob sich zur Begrüßung und verbeugte sich leicht. Der Richter erwiderte diese Geste und verbeugte sich ein wenig tiefer als Zeichen seiner Ehrerbietung.

Sie zog eine Augenbraue hoch und sprach, als sie sich wieder setzte: „Es ist sehr ungewohnt, dass Ihr nicht pünktlich erscheint, werter Richter. Ist etwas passiert?“

Er schüttelte den Kopf und lächelte beschwichtigend, während er ebenfalls Platz nahm: „Ich war nur sehr von meinem Tagwerk eingenommen, das ist alles.“

Sie lächelte versöhnlich: „Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt man – umso besser, dass Ihr Euch nicht davon anstecken lasst. Nun, bei uns gibt es heute einen Gemüseeintopf mit dunklem Brot. Ich hoffe, das ist Euch genehm.“

Eine der Schwestern deckte den Tisch, während die Oberin sprach, und füllte die einfachen Tonteller mit der Mahlzeit, ergänzt mit einer Scheibe Brot für jeden der Beiden.

Der Richter sog den wohlriechenden Duft der Speise ein und lächelte: „Ich danke Euch für diese Speisen, mehr ist wahrlich nicht nötig.“

Die Oberin nickte mit einem Lächeln und die Schwester ließ sie allein. Klarina faltete die Hände vor der Brust, Karl ebenso, und sie sprach ein einfaches Gebet vor dem Essen, mit dem Dank an den himmlischen Vater und die himmlische Mutter für diese Gaben. Dann verspeisten sie den Eintopf schweigend Löffel für Löffel, um im Anschluss mit dem Gespräch zu beginnen. Oberin Klarina bat den Richter, ihr dazu in den Kräutergarten zu folgen, wo sie nach dem Mahl zu spazieren pflegte und gleichzeitig nach den Pflanzen sah, die nicht nur ihre Mahlzeiten mit ihrem Aroma bereicherten, sondern auch in den heilenden Tees, Salben und Tinkturen Verwendung fanden. Es war einer der wenigen Orte, an denen in Ausnahmefällen die Anwesenheit eines Mannes gestattet war, zumindest im Falle eines Würdenträgers wie Karl einer war.

„Nun, was wolltet Ihr besprechen, Richter?“, fragte sie ihn leise, um die wenigen im Garten anwesenden Schwestern nicht in die Versuchung der Neugier zu locken.

Karl seufzte leise: „Ich weiß ehrlich nicht, wie ich anfangen soll. Es ist... eine neblige Sorge, die mich seit ein paar Tagen umtreibt – um genau zu sein, seit der Dämonenjäger zum Kloster aufgebrochen ist. Träume und Ahnungen sind nichts, womit ich mich bislang abgegeben habe, doch nun...“

Klarina warf ihm einen prüfenden Blick zu: „Ihr tut gut daran, damit zu mir zu kommen. Erzählt mir von den Träumen.“

Karl nickte und schilderte ihr alles, woran er sich erinnern konnte. Er beschrieb den Zweigesichtigen und erwähnte auch, dass er inzwischen wusste, dass das Gesicht zu einem der Wachmänner gehörte, und dass eben dieser Wachmann den verrückten Timeon in die Obhut der Schwestern gebracht hatte. Er erzählte vom geschändeten Symbol des Glaubens und dass er befürchtete, dass dies womöglich den Tod oder sogar den Fall des Dämonenjägers bedeutete. Er erwähnte auch den jüngsten Traum, der für ihn nichts anderes bedeutete als ein schreckliches Unheil, das der Stadt drohte. Seinen Besuch bei Bjarn Bärenpranke und die Warnung bezüglich dessen Familie sprach er vorerst nicht an. Er war sich zwar sicher, dass diese Leute von einer Frau wie Klarina selbst nichts zu befürchten hatten. Schließlich war sie keine Fanatikerin. Doch er konnte nicht sagen, ob sie sich nicht verpflichtet fühlen würde, das an die Rächer zu berichten, wenn diese danach fragen würden. Es war besser, keine unnötige Aufmerksamkeit auf diejenigen zu lenken, die grundlos beschuldigt werden könnten.

Die Oberin hörte ihm zu, nickte hin und wieder mit dem Kopf, unternahm meist aber keine Anstalten, ihn zu unterbrechen. Nur hin und wieder fragte sie nach, was genau er gemeint hatte, als wollte sie sich ein besseres Bild von dem machen, was ihm in seinen Träumen erschienen war. Die Erwähnung des Zweigesichtigen hatte bei ihr zunächst keine besondere Reaktion hervorgerufen. Doch Karl merkte, dass seine Entdeckung von dessen Identität sie deutlich beunruhigte – mehr als er erwartet hätte.

Als er zu Ende gesprochen hatte, geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Klarina legte ihm ihre rechte Hand auf den linken Oberarm, knapp unterhalb der Schulter, und sah ihm ernst in die Augen. Er war überrascht über diese Geste, und noch viel mehr darüber, dass sie ihn nicht störte, wie das normalerweise der Fall gewesen wäre.

„Was ich Euch jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben, zumindest vorerst. Der Dämonenjäger hat angedeutet, dass der Wahnsinn, der Timeon in Besitz genommen hat, auf andere Personen übergehen kann, insbesondere auf die mit einem schwachen Willen, die selbst den einfachen, gewöhnlichen Versuchungen der Welt nicht widerstehen können. Doch diese... Besessenheit könnte sogar von noch stärkerer Natur sein, da wir selbst bei einigen der Schwestern ihren Einfluss hatten feststellen können.“

Der Richter sog erstaunt und auch etwas entsetzt den Atem an und gab sich Mühe, sich die Reaktion möglichst wenig anmerken zu lassen.

Die Oberin sprach unterdessen weiter: „Ihr müsst Euch um unser Kloster keine Gedanken machen. Wir haben alle nötigen Schritte unternommen, um zu verhindern, dass sich der Wahn ausbreitet. Die Schwestern sind außer Gefahr, unsere Kranken und anderen Schützlinge versorgt und selbst der unglückliche Timeon befindet sich auf dem Weg der Besserung und wird wohl wieder in den Schoß der Heiligen Familie zurückfinden.“

Karl führte mit seiner Antwort den Gedanken zu Ende: „Es sind also eher die Menschen außerhalb des Klosters, um die wir uns Sorgen machen müssen.“

Klarina nickte und hielt kurz inne, als ob sie sich nicht sicher war, wie sie weitersprechen sollte. Dann fasste sie sich schließlich: „Und ich bitte Euch um die Erlaubnis, in Euren Geist hinein zu forschen. Ich muss wissen, wo die Ursprünge der Albträume liegen, die Euch heimsuchen.“

Karl nickte: „Das könnt Ihr gerne tun, und solltet Ihr sogar.“

Sie lächelte: „Dann schließt Eure Augen und atmet tief und langsam.“

Er tat wie geheißen und spürte, wie sie die andere Hand auf seinen rechten Oberarm legte und damit einen Kreis bildete. Dann glitten ihre Hände ein wenig nach unten, so dass sie sich auf Höhe seines Herzens befanden. Sie begann, eine Melodie zu summen, die für ihn einen recht klerikalen Klang hatte, von der Tonalität her an die Gesänge erinnernd, die dem Geist des Heiligen Mittlers zuzuordnen waren – der nicht zuletzt für das Aufdecken der Wahrheit verantwortlich war. Dann spürte er, wie ihre Präsenz seine Seele berührte und war überwältigt in diesem einen Moment, in dem erneut alle Emotionen auflebten, die seine Träume in ihm geweckt hatten – Verwirrung, Schrecken, bis hin zum Ekel über die Melodie des Zweigesichtigen, die er selbst nachgesummt hatte. Doch dann spürte er den Hauch einer weiteren Präsenz, die wie ein erfrischender, kühler Wind an ihm vorbeizog und den Dunst des Grauens von ihm nahm.

„Ihr könnt die Augen wieder öffnen“, hörte er Klarinas herbe Stimme, in der trotz der Besorgnis auch eine Spur Hoffnung mitschwang. All das konnte er auch aus ihrem Gesicht herauslesen, in das er nun sah.

Sie lächelte schwach, während sie ihre Hände von seinen Armen löste: „Ihr müsst Euch nicht fürchten vor diesen Träumen. Der Dämonenjäger selbst hat sie euch geschickt, als Warnung. Ich habe deutlich seine Präsenz und seine Absicht in ihnen gespürt. Sie sind so schrecklich, damit Ihr sie nicht zur Seite schiebt, damit Ihr nicht untätig bleibt. Er war es gewesen, der die Verderbnis im Wachmann gespürt hatte, er hatte wohl nur keine Möglichkeit, sich selbst dieses Problems anzunehmen. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Leute hier, dafür zu sorgen, dass unsere Stadt dem Bösen nicht anheimfällt.“

Er nickte und war zumindest etwas erleichtert: „Wenigstens etwas Gutes inmitten der schlechten Nachrichten. Doch können wir noch etwas vollbringen, bevor die Rächer hier eintreffen?“

Sie blickte ihn an, als wäre sie sich nicht sicher: „Nun, was das Kloster angeht, kann ich Euch versichern, dass wir uns gegen jegliche Widrigkeiten halten können. Ich werde umgehend mit dem Großen Bruder Dobreon sprechen. Wenn es jemandem gelingt, ein Wunder zu wirken, dann ihm. Und Ihr solltet euch um die weltlichen Dinge kümmern.“

Karl nickte: „Ja, ich werde heute noch mit den Stadtherren über die Angelegenheit sprechen und auch schnellstmöglich den Hauptmann der Wache aufsuchen. Sagt, worauf müssen wir achten, um die Betroffenen von den Reinen zu unterscheiden?“

Die Oberin senkte die Augen, straffte sich und sah ihn dann wieder ernst an: „Es... ist kein Thema, über das ich gerne spreche, aber natürlich solltet Ihr das wissen. Da die Verderbtheit von den fleischlichen Teleram ausgeht... müssen wir mit allen Schwächen des Fleisches rechnen.“

Der Richter verzog seinen Mund: „Also alles angefangen mit der Wollust bis hin zu Raserei und Blutdurst?“

Sie nickte: „Ja, Zügellosigkeit und Gewalt.“

Der Richter grinste schief: „Zumindest letzteres fällt in meinen Zuständigkeitsbereich und auch in den der Stadtwache. Für das erstere sollte wohl eher der Große Bruder eine Lösung finden. Wir können unmöglich allen Leuten hier Keuschheitsgürtel anlegen.“

Karl hatte es nicht erwartet, aber der Oberin entwich tatsächlich ein kurzes Lachen: „Das wäre eine zu einfache Lösung. Gebt gut auf Euch Acht, Herr Richter. Und möge die Heilige Familie uns beistehen.“

Er verbeugte sich abermals vor ihr, diesmal zum Abschied: „Ich danke Euch. Ich werde mein Möglichstes tun.“

Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus. Er wollte nicht einen Augenblick vergeuden und sich sofort auf den Weg zum Hauptmann der Wache machen. Die Oberin schlug das Schutzzeichen über sich und wandte sich ebenfalls zum Gehen. Sie instruierte die Schwestern mit den bevorstehenden Aufgaben und begab sich zur Kirche. Und dann nahm sie sich vor, nach dem Gespräch mit dem Großen Bruder in den Teil der Stadt zu gehen, in den sie bisher noch nie auch nur in Gedanken einen Fuß gesetzt hatte. Sie musste wissen, wie es um die größten Sünder und Sünderinnen in dieser Stadt stand.

***

Um Hauptmann Forster zu sprechen musste Karl wohl oder übel den Marktplatz überqueren, auf dem jetzt schon ein geschäftiges Treiben herrschte und der Markt wie gewohnt erst am nächsten Tag der Woche, dem Bûrtan, angesetzt war. Die aus größerer Entfernung angereisten Händler waren jetzt schon damit beschäftigt, ihre Stände aufzubauen und die Waren soweit einzuräumen, dass sie diese am Markttag nur noch verkaufen mussten. Der eine oder andere übereifrige Kunde war zudem jetzt schon vor Ort und versuchte, möglicher Konkurrenz zuvorzukommen – oder schlicht und einfach jetzt schon Dinge wieder aufzufüllen, die im Haushalt oder in der Werkstatt nicht mehr vorrätig oder kaputt gegangen waren. Normalerweise würden ein paar Ordnungsleute in der Stadt das Treiben beaufsichtigen und dafür sorgen, dass der Handel in geordneten Bahnen erst am nachfolgenden Tag begann. Doch wie es schien, fühlte sich in diesem Augenblick keiner für diese Aufgabe zuständig.

Karl runzelte die Stirn. Dann fiel ihm auf, dass es wohl am anderen Ende des Marktplatzes eine handfeste Auseinandersetzung zwischen ein paar Männern gab, bei der die Stadtwachen eingegriffen hatten und die Streithähne gerade auseinanderzogen. Je nachdem, wie die Angelegenheit sich weiterentwickelte, würden die beiden Männer möglicherweise mit einem blauen Auge davonkommen und nur ein Bußgeld zahlen. Bei schwerwiegenderen Vergehen konnten die Wachleute vor Ort eine Prügelstrafe erteilen, wie das so üblich war. Sofern kein größerer Schaden entstand, würde es sich damit bewenden. Die Wachleute hatten gewisse Handhabe bei Ruhestörungen und Tunichtguten, als nächste Instanz war der Hauptmann angesprochen, und bei schwerwiegenden Verbrechen hatte dann er als Richter eine Entscheidung zu treffen. Diese Leute würden dann in den Kerker gebracht, wo sie auf die Verhandlung zu warten hatten. Karl schätzte die Situation aber als nicht so schwerwiegend ein, als dass er am nächsten Tag davon hören würde. Es sah nicht so aus, als ob einer der Männer eine Waffe gezogen oder schwere Verletzungen erlitten hätte. Also setzte Karl seinen Marsch zum Hauptquartier der Wache fort.

Das Gebäude lag an einer größeren Kreuzung, über die man alle drei Stadttore gut erreichen konnte, und von der aus die verschiedenen Patrouillen starteten. Erstaunt sah Karl, dass genau zum Zeitpunkt seines Eintreffens ein gebundener Mann von zwei Wachleuten in Richtung Kerker geschleppt wurde. Der Mann wirkte sehr ungehalten und versuchte immerzu, sich loszureißen und möglicherweise sogar einen der Wachleute zu beißen. Es sah sogar so aus, als hatte er sogar Schaum vor dem Mund, doch dessen war sich Karl nicht sicher. Im Zusammenhang mit dem, was die Oberin ihm anvertraut hatte, weckte der Anblick ein starkes Gefühl der Besorgnis in ihm.

Karl fragte sich eilig zum Hauptmann durch, der wohl gerade ein paar der Wachleute instruierte. Hauptmann Forster war ein Mann um die Vierzig. Er hatte ein markantes, wenn auch nicht besonders gutaussehendes Gesicht, war großgewachsen und von kräftiger Statur, und machte damit durchaus einen Eindruck. In den letzten Jahren hatte er allerdings ein wenig um die Leibesmitte zugelegt und Geheimratsecken entwickelt. In seinem dunkelbraunen Haar und Bart waren außerdem auch schon die ersten grauen Haare zu sehen. Doch er war noch immer so kräftig und kampferfahren wie eh und je, wurde von seinen Männern stets mit viel Respekt bedacht und von seiner Ehegattin durchaus eifersüchtig gehütet.

Der Richter wartete ab bis der Hauptmann seine Besprechung abgeschlossen hatte und ihn bemerkte. Der ohnehin schon missmutige Gesichtsausdruck von Forster verdunkelte sich noch etwas mehr.

„Ich grüße Euch, Herr Richter“, sprach er ihn mit seinem dunklen Bass an. „Ich vermute, es sind keine guten Neuigkeiten, die Euch zu mir führen.“

Karl schüttelte den Kopf: „Unglücklicherweise nein. Können wir irgendwo unter vier Augen miteinander sprechen?“

Der Hauptmann zog die Augenbrauen zusammen, nickte dann aber und deutete dem Richter an, er möge ihm folgen. Die beiden zogen sich in einen ruhigen, gut gesicherten Raum zurück, in dem der Hauptmann Aufzeichnungen bearbeitete und sich um die Verwaltung der Bußgelder kümmerte.

Ohne Umschweife begann Forster zu reden: „Also, was gibt es in der Stadt, dass der Richter zum Hauptmann kommt? Sagt mir bitte nicht, dass die Ereignisse der letzten Tage damit zu tun haben. Wir geben uns alle Mühe, die Dinge unter Kontrolle zu halten.“

Der Richter zog eine Augenbraue hoch: „Meint Ihr etwa den Besuch des Dämonenjägers?“

Der Hauptmann sah ihn verdutzt an: „Ich meine die vielen Prügeleien und Beschwerden über aufdringliche Männer und Frauen bis hin zu Vergewaltigungen. Was soll der Dämonenjäger damit zu tun haben?“

Karl atmete tief durch und fasste sich an die Stirn. Dann sah er den Hauptmann an: „Der Dämonenjäger hatte durchblicken lassen, dass der unglückselige Glücksritter Timeon eine dämonische Verderbnis in die Stadt eingeschleppt hat, und dass zumindest einer der Wachleute betroffen ist. Doch mir scheint es jetzt, als ob die Sache größere Ausmaße angenommen hat als befürchtet.“

Der Hauptmann gab einen wütenden Aufschrei von sich und schlug mit der Hand auf die Tischplatte. Der Richter zuckte zusammen und fragte sich sofort, ob der Hauptmann nicht möglicherweise selbst schon betroffen war. Doch andererseits hatte Forster schon immer ein aufbrausendes Temperament – er hatte es nur stets gut genug unter Kontrolle. Vielleicht hatte auch er einen Nordmann-Vorfahren in seiner Ahnenlinie, von dem niemand mehr etwas wusste.

Forster knurrte unterdessen: „Falls das stimmt, dann haben wir vermutlich keine Möglichkeit mehr, etwas zu unternehmen. Wie zeigt sich diese Verderbnis? Und welcher Wachmann soll betroffen sein?“

Karl seufzte: „Durch Gewalttaten und Zügellosigkeit. Und die Rede war von Lans.“

Der Hauptmann verengte die Augen: „Nun, was Gewalttaten und Zügellosigkeit angeht, die Schwierigkeiten haben wir seit knapp einer Woche. Wir haben allerdings vermutet, dass das grässliche Leuchten im Kloster im Dunkeln die Ursache dafür ist, dass so viele Leute sich ungehörig benehmen – weil die meisten Gewalttaten bei Nacht passiert sind. Was Lans angeht kann ich nicht glauben, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Sein Verhalten ist tadellos, und er hatte noch nie auch nur eine andere Frau unangemessen angeblickt. Er ist ein wirklich sehr treuer Ehemann, seit Jahren verheiratet und noch immer wie frisch verliebt.“

Karl zog eine Augenbraue hoch und sah Forster skeptisch an: „Noch immer?“

Forster rollte mit den Augen: „Um genau zu sein, war es in den letzten Jahren ruhiger gewesen und Lans hatte mehr Zeit mit den Männern beim Bier verbracht als bei seiner Frau, aber jetzt scheint bei den beiden alles wieder in bester Ordnung zu sein. Ich glaube, sie machen sich sogar Hoffnung auf Nachwuchs, der ihnen bisher verwehrt blieb.“

Der Richter seufzte und dachte sich, dass sich eine so plötzlich wieder entflammte Leidenschaft für ihn schon sehr verdächtig anhörte, wollte aber nicht weiter nachbohren: „Na schön, wie auch immer. Falls Euch ein unangemessen grausames oder lüsternes Verhalten der Wachleute zu Ohren kommen sollte, dann wendet Euch bitte an Oberin Klarina oder an den Großen Bruder persönlich. Sie werden sicherlich wissen, was zu tun ist, um der Verderbnis Herr zu werden.“

Der Hauptmann grinste schief: „Oh ich kann mir gut vorstellen, was sie sagen würden. Gebete, Enthaltsamkeit, Mäßigung und überhaupt der Verzicht auf alles, was auch nur ansatzweise Spaß macht. Und spätestens beim Bier werden die Männer ungehalten sein.“

Der Richter rollte mit den Augen: „Wie auch immer. Wir müssen wachsam sein und uns nichts zuschulden kommen lassen.“ Dann sprach er etwas leiser: „Schon allein deshalb, weil wir die Ankunft des Rächerordens erwarten.“

Der Hauptmann nickte. Das war eine Tatsache, die ihm bereits bekannt war, an die er aber offensichtlich nicht denken wollte. Dann sah er den Richter fragend an: „Und wisst Ihr zufällig, wann wir mit ihrem Eintreffen rechnen können?“

Karl seufzte: „Das versuche ich noch immer in Erfahrung zu bringen. Ich vermute aber, frühestens übermorgen. Sonst wäre meine Kundschafterin schon wieder zurück.“

Forster nickte abermals: „Gut, wenigstens haben wir noch ein paar Tage. Ich werde den Männern nochmals einschärfen, in der nächsten Zeit möglichst... tadellos zu sein. Und was machen wir mit denen im Kerker?“

Der Richter überlegte kurz: „Ich denke es ist besser, sie vorerst noch eingesperrt zu lassen, und sie gut zu bewachen. Ich kann im Augenblick nicht sagen, wie sich diese Verderbnis entwickelt, und wie sie sich verbreitet. In jedem Fall ist es sicherlich besser für die Stadt, wenn sie keine Unruhe stiften können, und wer weiß, vielleicht bringen die Gefangenschaft und die kargen Mahlzeiten sogar eine Besserung, als eine Art unfreiwillige Bußezeit.“

Der Hauptmann sah so aus, als wäre er im Prinzip mit dem Vorschlag einverstanden, aber nicht besonders zufrieden: „Und was machen wir mit den Leuten, die keinen Platz mehr im Kerker finden?“

Karl seufzte: „Haben wir die Möglichkeit, ein behelfsmäßiges Gefängnis einzurichten?“

Der Hauptmann überlegte kurz: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Der Richter nickte: „Gut. Dann werde ich sehen, ob ich uns noch die Unterstützung der Stadtherren sichern kann.“

Forster grinste schief: „Viel Glück dabei. Ausgerechnet Eisenmeister und Waldherr sind vor Ort.“

Karl nickte missmutig: „Ich weiß. Euch auch viel Glück... und stellt mehr Männer auf beim Markt. Wer weiß, was da noch passieren könnte.“

Forster nickte: „Ja, das habe ich mir auch gedacht. Ich werde mich bei Euch melden, sollte noch etwas ungewöhnliches passieren. Schickt mir eine Nachricht, wenn sich bei den Stadtherren etwas ergibt.“

Der Richter nickte ebenfalls und reichte Forster die Hand, die dieser mit einem festen Druck bedachte. Dann machte sich der Richter erneut auf den Weg.

Geschichten der Nebelwelt

Подняться наверх