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Kapitel 1: Der falsche Zug

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Das Geräusch, das Andy aus dem Schlaf riss, war nicht sein Wecker. Es waren durch die dünne Wand seines Appartements nur schwach gedämpfte Geräusche einer der vielen Talkshows, von denen sich seine ältere, allein lebende Nachbarin von früh bis spät berieseln ließ. Im Halbschlaf verfluchte er das erneute Wiederaufleben der öffentlichen Anprangerung als Unterhaltung, das ihn seinen kostbaren Schlaf kostete, bis er endlich bemerkte, dass an der ganzen Situation etwas falsch war. Eigentlich hätte er seinen Wecker verfluchen müssen, dieses schrill kreischende Ding, das sogar einen Toten aufwecken könnte. Doch sein Wecker verhielt sich an diesem Montagmorgen erstaunlich still. Ein Blick aus halb geöffneten Augen in seine Richtung zeigte Andy den Grund dafür. Der Wecker zeigte eine blinkende Uhrzeit, die auf keinen Fall korrekt sein konnte. Das war ein todsicheres Zeichen dafür, dass es irgendwann in der Nacht einen Stromausfall gegeben haben musste. Und offensichtlich hatte dieser Ausfall lange genug gedauert, um nicht nur seinen Wecker zu verstellen, sondern auch die Programmierung des Alarms zu löschen. Andy griff nach seiner Armbanduhr und fluchte leise, als seine Wahrnehmung sich von der digitalen Zeitanzeige auf die analogen Zeiger umgestellt hatte und Andy begriff, dass er verschlafen hatte.

Normalerweise wäre es nicht so dramatisch gewesen, schließlich konnte er als ein freischaffender Detektiv seine Arbeitszeiten selbst einteilen, aber ausgerechnet an diesem Tag hatte er einen Termin. Und wenn er sich nicht höllisch beeilen würde, würde er ihn verpassen. Er hetzte unter die Dusche und schrubbte sich wie ein Verrückter die Zähne, während sich die andere Hand der Haarwäsche widmete. In seinen Gedanken war er schon einen Schritt weiter und warf eine Kleinigkeit nach der anderen aus seinem gewohnten morgendlichen Ablauf, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

„Meine Damen und Herren, wir haben doch keine Zeit!“, schoss ihm eine beliebte Phrase irgendeines Moderators durch den Kopf´, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Nur auf seinen Kaffee wollte Andy nicht verzichten. Sein Kaffee am Morgen war ihm heilig.

Während er sich eilends ein Kleidungsstück nach dem anderen überzog und den Inhalt seiner Aktentasche zusammenklaubte, brühte ihm seine alte, aber zuverlässige Kaffeemaschine sein wichtigstes Lebensmittel auf. Keine Frage, für Andy war Kaffee ein Lebensmittel, ein Überlebensmittel sogar. Vielleicht war er süchtig, aber immerhin war dies keine so hinderliche Sucht wie Zigaretten oder Alkohol. Und es war letztlich auch unwichtig. Wichtiger war die Tatsache, dass an diesem Morgen der Kaffee unerwartet heiß war, als er den ersten Schluck nahm. Im Nachhinein war diese Tatsache vollkommen einleuchtend, schließlich hatte Andy normalerweise genug Zeit, um das Getränk auf die von ihm gewohnte Temperatur abkühlen zu lassen. Mit Milch würde er seinen Kaffee niemals verschandeln. An diesem Montag hatte er jedoch keine Zeit gehabt und schrie auf, als die Flüssigkeit ihm den Mund und die Kehle verbrühte.

Er war sich nicht sicher, ob es wirklich ein Schrei des Schmerzes, oder doch nur der Überraschung war, aber angenehm war die Situation nicht. Vor allem deshalb, weil er die Tasse fallen ließ, die ihren Inhalt über die Küche und sein Hemd und sich schließlich selbst in vielen Splittern auf dem Boden verteilte. Laut fluchend riss Andy sich Hemd und Unterhemd vom Leib, die sich bereitwillig mit der dampfenden Flüssigkeit vollgesogen hatten und rauschte zurück in sein Schlafzimmer, um sich hastig einen Ersatz überzuziehen. Ein erneuter Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er gerade noch die Zeit dazu hatte, bevor er aus seiner Wohnung rennen musste, um seine U-Bahn zu erwischen. Für einen weiteren Versuch, seinen Kaffee zu bekommen, geschweige denn, die Küche zu säubern, blieb ihm keine Zeit mehr. Also zog er sich wieder an, schlüpfte hastig in seine Schuhe, warf sich seinen Trenchcoat über, griff nach seiner Tasche und rannte aus der Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel.

Wie er so etwas doch hasste! „Gentlemen, they walk, but never run.”

Das war eine Zeile von Sting und Andy kannte wenige Aussprüche, denen er so vorbehaltlos zustimmen würde. Und dennoch musste er genau das tun, was er verabscheute – wie ein Verrückter durch die Gegend zu rennen, nur um eine Bahn zu erwischen und einen Termin nicht zu versäumen.

„Ich komme zu spät, ich komme so was von zu spät“, hämmerte es in seinem Kopf.

Offensichtlich kam er eben rechtzeitig an, um sich durch die gerade schließenden Türen hindurch zu schlängeln. Den beinahe eingeklemmten Zipfel seines Mantels konnte er im letzten Moment hinein zerren, bevor sie sich endgültig schließen konnten und der Zug sich in Bewegung setzte.

Sobald der Wagen, in dem Andy sich zwischen die anderen Fahrgäste gezwängt hatte, von der Dunkelheit des unterirdischen Tunnels geschluckt wurde, beschlich ihn sofort ein ungutes Gefühl. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Zuerst dachte er, dass dieses Gefühl auf die ungewohnt lange, holprige Fahrt zurückzuführen war. War das eine U-Bahn oder eine Achterbahn? Nur die Tatsache, dass er nicht kopfüber an die Decke stürzte sprach für die erste Alternative. Das unter diesen Umständen ungewöhnlich ruhige Verhalten der anderen Fahrgäste war ebenfalls merkwürdig, aber auch das war nicht der Grund für das flaue Gefühl in seinem Magen. Dann dämmerte es ihm. Er war in den falschen Zug gestiegen. Die Anzeige für die Gleisbelegung hatte sich bereits auf die leere Position umgeschaltet, als er am Gleis angekommen war, oder sie war defekt gewesen, jedenfalls konnte er nicht mit Sicherheit sagen, dass er tatsächlich die richtige Bahn erwischt hatte. Es war vermutlich das klügste, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und zu hoffen, dass er seinen Termin trotz dieses Fehlers immer noch wahrnehmen konnte.

Genau das tat Andy auch, als der Zug anhielt und sich die Türen erneut öffneten. Er hetzte hinaus, und stellte verblüfft fest, dass er der einzige war, der den Zug verließ. Die Türen schlossen sich sofort und der Zug rauschte davon. Irritiert starrte Andy vor sich hin. Er konnte seinen Augen nicht glauben. Auf der Seite eines Wagens war ein Schriftzug in Regenbogenfarben gesprüht worden, das Wort Tornado, und auch das Bild eines solchen Naturschauspiels im für Sprayer üblichen Stil. Er schluckte und erinnerte sich sofort an einen Job, den er inzwischen nur aus Gründen der persönlichen Besessenheit verfolgte, nicht aus Gründen seiner Lösbarkeit. Eine aus ihrer Wohnung verschwundene junge Frau, die abgesehen von ihrem Pyjama weder Geld noch Kleidung mitgenommen hatte, eine Wohnung, die keinerlei Kampfspuren aufwies, und eine von innen abgeschlossene Haustür, der Schlüsselbund achtlos auf das kleine Schuhregal neben dem Eingang geworfen, genau in einen der abgetragenen, fleckigen Sneakers.

Die einzige sinnvolle Spur war in seinen Augen ein mit einem schwarzen Permanentmarker vollkommen verschmiertes Comicheft, von dem nur ein Panel halbwegs zu erkennen war, und das genau den Zug zeigte, mit dem er eben gereist war. Wohlgemerkt war Andy der einzige, der darin ein Zeichen sah. Warum hätte die vermisste Elaine dieses Heft sonst unter ihrem Kopfkissen aufbewahrt? Allerdings war niemand bereit, diesem Hinweis auch nur die Spur einer Bedeutung beizumessen – niemand außer Andy. Und ausgerechnet dann, als er den Zug mal vor die Linse bekam, vergaß er, mit seiner Handykamera ein Bild davon zu schießen!

Aber so sehr Andy sich auch darüber ärgerte, diese Gelegenheit verpasst zu haben, noch viel schlimmer war die Tatsache, dass er nun dastand und wartete, und wartete, und wartete, und keine andere U-Bahn vorbei kam. Jetzt saß er wirklich in der Klemme. Seinen Termin hatte er definitiv verpasst. Aufgebracht sah er sich um, in der Hoffnung, einen Fahrplan zu finden, der ihm sagen konnte, wann die nächste Fahrgelegenheit ihn zurück in sein gewohntes Leben bringen würde. Was für ein verrückter Gedanke das war. Genauso verrückt wie die Tatsache, dass er keinen einzigen Fahrplan, Stadtplan und nicht einmal eine Uhr entdecken konnte. Da war nur eine Tafel voller seltsam bekritzelter Zettel, die er nicht lesen konnte – was für Sauklauen! – und Graffiti an den Wänden, das für ihn genauso unleserlich war wie jeder einzelne Graffiti-Schriftzug den er bisher sah. Ausgenommen den verfluchten Tornado, natürlich!

Das flaue Gefühl in Andys Bauch wuchs heran zu etwas, das sich in einer viel zu nahen Zukunft als Magenkrampf erweisen würde, wenn er sich nicht wieder in den Griff bekam. Resignierend warf Andy einen Blick auf seine Armbanduhr, wie um sich bestätigen zu lassen, dass er seinen Termin auf jeden Fall verpasst hatte. Ein wehleidiges Stöhnen entwich seiner Kehle, als er sah, dass die Uhr genau dann stehen geblieben war, als er in den verfluchten Zug gestiegen war. Hatte sich an diesem Tag denn alle Technik gegen ihn verschworen? Der kleine Bildschirm seines Handys zeigte nur die Meldung, dass er kein Netz hatte. Das wiederum war unter der Erde nicht verwunderlich. Also machte sich Andy mit durch seine Verärgerung beschleunigten Schritten auf den Weg zum Ausgang. Vielleicht konnte er das Schlimmste durch einen Anruf abwenden und seinen Termin verschieben, jetzt wo er mit Sicherheit zu spät war.

Es gab zwei Rolltreppen am Ausgang und beide reagierten nicht auf das Betreten der Druckplatte, das sie ansonsten zur Bewegung animiert hätte. Mit einem Seufzer, das der Stimme in seinem Hinterkopf und der Behauptung: „Das hast du doch gewusst“, recht gab, begann Andy den herkömmlichen Aufstieg nach oben.

Wie mühsam das war! Wie gewohnt, wenn er in Eile war, nahm Andy mehrmals zwei Treppenstufen auf einmal, und ließ dabei völlig außer Acht, dass die Stufen einer Rolltreppe höher waren als die normaler Treppen. Er war gänzlich außer Atem, als er endlich oben ankam und vom Nieselregen empfangen wurde. In diesem Augenblick fiel ihm auch wieder ein, dass er eigentlich noch einen Regenschirm mitnehmen wollte. Vermutlich konnte er froh sein, dass er in seiner Eile wenigstens seine Tasche und sein Portemonnaie mitgenommen hatte. Aber der Regen war im Moment seine geringste Sorge. Schlimmer war die Tatsache, dass sein Handy immer noch kein Netz hatte. Es reagierte zudem weder auf das Betätigen des Ausschaltknopfes noch auf irgendeine andere Aktion. Nur das Entfernen des Akkus ließ den Bildschirm verlöschen – aber nach dem erneuten Einsetzen ließ das Handy sich nicht mehr einschalten. Andy war kurz davor, das Ding auf dem Bürgersteig zu zerschmettern, warf es dann aber doch einfach nur in seine Tasche. So viel zu diesem eigentlich so einfachen Plan.

Er sah sich um, konnte aber keine Telefonzelle sehen. Das war aber nicht das einzige, das an dieser Straße nicht vorhanden war. Es fehlten ebenso jegliche Straßenschilder, Verkehrsschilder, Ampeln oder Zebrastreifen. Er sah zwar Plakatwände und Liftfaßsäulen – die verschmierten Fetzen, die daran klebten, waren jedoch dermaßen wenig aussagekräftig, dass es nur eine Verschwendung der Zeit war, sie einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Die einzige Aussage, die Andy von ihrem Zustand ableiten konnte, war, dass diese Gegend verdammt heruntergekommen sein musste. Unschlüssig stand er auf der Straße herum und sah keinen einzigen Bus und auch kein Taxi. Es gab da nur die Gleise einer Straßenbahn, aber keine Möglichkeit, zu ihnen zu kommen, geschweige denn eine Haltestelle. Vielleicht konnte ihm einer der seltenen Fußgänger weiterhelfen?

„Verzeihung, ich suche die nächste Haltestelle...“

„Können Sie mir vielleicht sagen, wo die Straßenbahn hält?“

„Entschuldigung, kann ich Sie kurz etwas fragen?“

„Hey, Sie, warten Sie mal!“

Egal was Andy auch sagte, er bekam keine Antwort. Die Leute verhielten sich so, als wäre er nicht existent, und gingen einfach an ihm vorbei. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Vor allem konnte er einfach nicht fassen, dass er gestrandet war und weder herausfinden konnte, wo er sich befand, noch eine Möglichkeit fand, von diesem unbekannten Ort wegzukommen.

Unbekannter Ort schien sogar die richtige Bezeichnung zu sein. Er kannte die Stadt, in der er lebte, gut genug, und er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Straße wie die, in der er sich im Augenblick befand, gesehen zu haben. Zugegeben, er war kein Taxifahrer, und er kannte auch nicht jeden Winkel seiner Stadt, aber das alles um ihn herum konnte kaum dazu gehören. Irgendwie wirkte alles so merkwürdig vertraut, und gleichzeitig so fremd, dass Andy das Gefühl hatte, er würde gleich überschnappen. Was für ein Unsinn!

Die Schienen der Straßenbahn waren seine einzige Spur in Richtung eines Rückwegs, oder aber die Rückkehr unter die Erde in der Hoffnung, doch noch eine U-Bahn zu erwischen. Andy musste jedoch irritiert feststellen, dass es keinen Weg mehr nach unten gab. Er drehte sich mehrmals um die eigene Achse, sah jedoch kein Anzeichen davon, dass es in seiner Sichtweite irgendwann einmal eine U-Bahn-Station gegeben hatte. Das konnte nicht stimmen. Er schloss die Augen, zählte bis drei und sah sich erneut um. Es gab keinen Weg mehr nach unten. Es gab nur die Straße und die Straßenbahn. Drehte er jetzt wirklich durch?

Vielleicht war er bei seiner Suche nach einem Schild oder bei seiner erfolglosen Befragung von ganz und gar nicht hilfsbereiten Passanten unbemerkt um eine Ecke gelaufen? Er hielt sich zwar nicht für zerstreut, geschweige denn hysterisch, aber in Anbetracht seiner verzwickten, verwirrenden Lage konnte er nicht ausschließen, dass ihm tatsächlich so etwas passiert war. Aber egal welche Straßenecken er auch überprüfte, er fand keine Spur mehr von der U-Bahn-Station. Er konnte froh sein, dass er die Schienen der Straßenbahn wiedergefunden hatte, die für ihn wenigstens einen Wegweiser darstellten. Egal in welche Richtung er ihnen folgen würde, früher oder später würde er eine Haltestelle finden und von dort aus weiterreisen können.

In dem Augenblick fuhr leise scheppernd eine seltsame, altmodisch anmutende Straßenbahn an ihm vorbei. Er war sich nicht sicher, ob die Wagen nur in einem Retro-Look gestaltet waren, oder tatsächlich aus der Geburtszeit dieses Fortbewegungsmittels stammten. Und zum ersten Mal seit seinem Auftauchen in diesem Teil der Stadt wurde jemand auf ihn aufmerksam. Es war ein Schulmädchen in einer dunklen, britischen Schuluniform, vielleicht sechzehn Jahre alt, dünn wie ein Model und blass wie ein Junkie, mit einem durchdringenden Blick der großen, dunklen Augen unter dem bis an die Augenbrauen reichenden, perfekt waagrecht verlaufenden Pony der ebenso dunklen, glatten Haare. Als einzige Person sah sie ihn direkt an, und ihr Blick blieb so lange an ihm hängen bis der Winkel des Fensters zu seiner Position dies unmöglich machte. Sie bewegte ihr Gesicht nicht ein wenig, und dennoch war ihr Blick direkt auf ihn gerichtet, wie man es von manchen unheimlichen Gemälden her kannte.

Konnte das ein Zufall sein? Andy musste erneut an das beinahe vollkommen unleserliche Comicheft unter Elaines Kopfkissen denken. Es musste einen Zusammenhang zwischen íhrem Verschwinden und diesem Tornado-Zug geben. War Elaine am Ende genauso wie er jetzt irgendwo hineingeraten und – ja, was dann? Was auch immer dann passiert war, es konnte nichts Gutes gewesen sein. Es hatte dazu geführt, dass aus einer jungen Frau mit einer vielversprechenden Zukunft ein depressiver Schatten ihrer Selbst geworden war, bevor sie endgültig verschwand. Plötzlich drängte sich ihm die Frage auf, ob eine Stadt ein menschenvernichtendes Ungeheuer sein konnte. Andy schüttelte nur seinen Kopf. Es waren immer Menschen, die eine Schuld zu tragen hatten. Und diese Schuldigen würde er sicherlich irgendwo hier finden. Irgendwo in dieser Gegend, in der er gestrandet war, so wie einige Monate zuvor die arme Elaine. Wieso dachte er eigentlich ständig daran, gestrandet zu sein? Und wohin war er eigentlich unterwegs?

Während seine Gedanken seltsame Kurven nahmen und ihm eine verrückte Möglichkeit nach der anderen vorschlugen, welche schrecklichen Dinge Elaine zugestoßen sein konnten, die eine Erklärung für ihren Zustand vor dem Verschwinden sein würden, hatte er sich offensichtlich in Bewegung gesetzt, und zwar in die Richtung der vorbeigefahrenen Straßenbahn. Zuerst war er gelaufen, in der unbewussten Hoffnung, das Fahrzeug bei der nächsten Haltestelle einholen zu können, sofern sie nicht zu weit entfernt war. Aber dies war ihm nicht vergönnt. Keuchend versuchte er, zumindest ein hastiges Schritttempo zu halten, doch die Straßenbahn holte er nicht mehr ein. Stur lief er weiter, die Gleise entlang, bis er schließlich durch einen Zufall dieses seltsame Mädchen in der Tür eines Lokals verschwinden sah. Den Schriftzug über der Tür konnte Andy nicht entziffern, egal wie er sich bemühte. Vermutlich war das irgendein Insider-Gag, oder eine bewusste Verwendung fremder Schriftzeichen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Andy überquerte die Straße und trat ein.

Eine leicht mit Zigarettenrauch versetzte Luft umschloss Andy, kaum dass sich die Tür hinter ihm schloss. Das Lokal war wohl eine Mischung aus einem Imbiss, einer Kneipe, einer Bar, und weiß der Geier was noch alles dazugehörte. Ein perfekter Treffpunkt für Leute, die etwas zu essen haben wollten, einen Drink, etwas Unterhaltung oder die mal das Tanzbein schwingen wollten. Für alles bot sich hier eine Gelegenheit. Besonders gut besucht schien es an einem Montag Morgen nicht zu sein, was zu erwarten war. Ein Wunder, dass das Lokal überhaupt geöffnet hatte. Er sah nur wenige Leute, und diese ignorierten ihn wie der Rest der Welt in dieser Gegend. Die meisten begnügten sich mit ihrem Kaffee oder ihrem Essen. Das Mädchen sah er nicht mehr.

Unschlüssig näherte Andy sich dem Tresen, hinter dem eine Frau seines, auf die vierzig zugehenden Alters sich gerade um den Abwasch einiger Tassen kümmerte. Sie hatte hochgestecktes, leicht golden schimmerndes rotes Haar und war sogar verdammt hübsch, obwohl ihr Alter ihr mehr als deutlich anzumerken war. Fältchen der Trauer dominierten ihren Ausdruck, auch wenn sie sich nicht allzu deutlich zeigten. Gerade als er sie ansprechen wollte sah sie zu ihm und er war sofort baff über den Blick ihrer Augen, von denen er nicht sagen konnte, ob sie grau, blau oder doch grün waren.

„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte sie und eine Gänsehaut jagte über seinen Rücken. Eine Frau mit einer solchen Stimme sollte nicht in einem kleinen Lokal arbeiten, sondern auf der Bühne stehen.

„Ich...“, Andy erinnerte sich plötzlich daran, dass er an diesem Tag weder etwas gegessen, noch seinen üblichen Morgenkaffee zu sich genommen hatte. Vielleicht war das eine Erklärung für all die merkwürdigen Dinge gewesen, die ihm passiert waren? Unachtsamkeit auf Grund von einem Mangel an Substanzen, die sein Körper jeden Morgen benötigte?

„Ich nehme einen Kaffee und... haben Sie ein Frühstücksmenü?“ Er hoffte, dass es für so etwas noch nicht zu spät war. In dem diffusen Licht des herbstlichen Nieselregens war ihm jegliches Zeitempfinden verloren gegangen.

Die Frau lächelte leicht und nickte: „Selbstverständlich. Um genau zu sein haben Sie zwei zur Auswahl.“ Sie reichte ihm eine einfache Karte.

Andy nahm sie entgegen und blinzelte verwirrt. Wieder konnte er kein einziges Wort entziffern. Also versuchte er es auf gut Glück. Das Essen war ohnehin zweitrangig: „Ähm... ich nehme dann die erste Variante. Den Kaffee bitte stark, schwarz und ungesüßt.“

Sie lächelte und nickte, und verschwand hinter der Tür, die offensichtlich in die Küche führte. Eine Minute später kehrte sie mit einer großen Tasse zurück, aus der dampfend der für Andy schönste Geruch des Morgens aufstieg. Genau so sollte der Kaffee duften und nicht anders! Er lächelte und nahm die Tasse in Empfang.

„Der Rest kommt gleich“, fügte die Frau hinzu, die Andy in seinen Gedanken nicht als eine einfache Bedienung titulieren wollte. Irgendwie schien es ihm, dass diese Bezeichnung ihr nicht gerecht wurde, warum auch immer er daran denken musste.

Der Rest seiner Bestellung ließ nicht lange auf sich warten. Es war genau das Frühstück, das er versäumt hatte – Toast mit einigen hauchdünnen Scheiben Salami belegt, und einige Scheiben, die er sich nach Belieben mit einer kleinen Auswahl an Konfitüre bestreichen konnte. Innerlich atmete Andy erleichtert durch. Er hatte also richtig geraten, was für ein Glück. Der erste Lichtblick eines so schrecklichen Tages.

Als er seine Mahlzeit beendet hatte und die Tasse leer war – die Frau hatte ihm den Kaffee so lange nachgeschenkt, bis er ihr das Zeichen gab, dass er genug hatte – fiel ihm wieder ein, warum er eigentlich in dieses Lokal hineingegangen war: „Entschuldigen Sie – aber haben Sie vorhin ein Mädchen gesehen? Sechzehn Jahre alt, würde ich sagen, dunkle Haare, Schuluniform... warum auch immer sie an einem Montagvormittag nicht in der Schule ist.“

Die Augen der Frau fixierten ihn plötzlich und er war überrascht von der plötzlichen Welle des Misstrauens, die durch den Raum schwappte: „Warum interessiert Sie das?“

Andys wohliges, sattes Gefühl machte plötzlich der wachen Aufmerksamkeit Platz: „Ich wollte ihr ein paar Fragen stellen. Wissen Sie, ich suche jemanden, und irgendwie schien es mir, sie könnte mir da vielleicht weiterhelfen. Aber vielleicht können Sie das ja auch?“

Die Frau zog eine Augenbraue hoch: „Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber fragen Sie ruhig. Kostet ja nichts.“ Der Klang ihrer Stimme hatte inzwischen an Weichheit und Freundlichkeit eingebüßt, Reserviertheit und Beherrschung hatten sich hineingeschlichen.

Irgendetwas stimmte da nicht. Wenn er nur wüsste, was es war. Er öffnete seine Tasche und zog eine kleine Schutzhülle hervor, die ein Foto der vermissten Elaine bewahrte. Es war einige Monate vor ihrem Verschwinden von ihrer besten Freundin bei einem gemeinsamen Wochenendtrip aufgenommen worden und mit Sicherheit das jüngste und treffendste Abbild der Verschwundenen. Für einen Augenblick glaubte er, schieres Entsetzen im Gesicht der Frau zu lesen, das an wahnsinnige, übermächtige Panik grenzte. Aber als er gerade in dem Moment unwillkürlich blinzelte, war danach keine Spur mehr von diesem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen, als ob er sich das nur eingebildet hatte. Dennoch blieb das Gefühl bestehen, dass diese Frau etwas wusste, etwas Wichtiges sogar.

„Sie haben Elaine schon mal gesehen, richtig?“, hakte er nach.

„Sie sollten besser gehen, und nicht wieder zurückkommen. Fragen Sie nicht wieder nach, und vergessen Sie sie am besten“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie war so präsent, dass Andy mit den Zähnen knirschen musste, um nicht sofort auf dem Absatz kehrt zu machen und tatsächlich aus dem Lokal zu verschwinden, auch wenn er noch nicht bezahlt hatte. Was zum Teufel war das?

„Wovor haben Sie Angst? Ich bin mir sicher, dass man für Ihren Schutz sorgen kann, wenn Sie etwas Wichtiges zu diesem Fall mitzuteilen haben. Was ist mit Elaine passiert?“

Er beobachtete sie nun genauer und bemerkte, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, die Knöchel drückten sich weiß durch die ohnehin helle Haut, und sah dann auch den Ehering, den sie trug. „Sie haben doch keine Ahnung, worum es geht. Sie sind nicht von hier, habe ich recht?“

Zumindest kannte Andy diesen Teil der Stadt nicht, also nickte er.

„Dann gehen Sie zurück, wo auch immer Sie hergekommen sind, und lassen Sie die... Dinge ruhen.“

Er hätte schwören können, sie wollte etwas anderes sagen. Und der ungesagte Ausdruck gefiel ihm überhaupt nicht. Er sollte die Toten ruhen lassen, wollte sie etwa das sagen?

„Ich bin auf der Suche nach Antworten, und ich gehe nicht eher bis ich sie habe.“

„Doch, das werden Sie. Notfalls schmeiße ich Sie raus“, hörte er dann eine weitere Stimme hinter sich. Sie gehörte offensichtlich einem jungen Mann, der gerade den Stimmbruch hinter sich hatte.

Als Andy sich umdrehte, sah er überrascht, dass dieser junge Mann einen halben Kopf größer war als er – und Andy war selbst nicht gerade klein gewachsen. Der rothaarige Bursche hatte die Statur und die Attitüde eines Straßenschlägers, oder war zumindest nahe dran. Abgesehen davon sah er der Frau, die sich nun hinter Andy befand, sehr ähnlich.

„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe und verschwinden Sie von hier. Wir haben schon genug Ärger, auch ohne dass irgendwelche Schnüffler sich hier breit machen wollen. Na los, raus!“

Andy war klar, dass der Bursche keine Skrupel davor hatte, ihn notfalls mit Gewalt auf die Straße zu werfen, wenn er es darauf ankommen lassen würde. Wo zum Teufel war er hineingeraten?

Einen Versuch wollte Andy sich jedoch noch zugestehen, bevor er sich geschlagen geben musste. Er drehte sich erneut zur Frau um und legte all seine Bestimmtheit in seine Stimme: „Ich frage Sie zum letzten Mal – was wissen Sie darüber, was Elaine zugestoßen ist?!“

Sie zischte ihn an: „Elaine ist tot, und jetzt gehen Sie endlich! Machen Sie, dass sie wieder nach Hause kommen, solange Sie es noch können, verdammt!“

Im selben Augenblick spürte Andy den kräftigen Griff zweier Hände am Kragen und am Gurt seines Mantels, und wie er auf die Straße gezerrt wurde.

„Wenn Sie sich noch einmal hier blicken lassen, sind Sie dran, verstanden?“, hörte er noch. Dann knallte die Tür hinter ihm zu. In einer letzten, trotzigen Reaktion versuchte Andy, erneut hinein zu kommen, aber die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Verflixt.

Seltsam, dass sie ihn loswerden wollten, obwohl er nicht bezahlt hatte. Wie auch immer die beiden in diese Geschichte verwickelt waren, sie waren es auf jeden Fall. Trotzdem stand er wieder draußen im Nieselregen, und die einzige Antwort, die er bekommen hatte, war die Behauptung, dass die Vermisste tot war. Es war nicht auszuschließen – aber dann musste sie in einem Schlafanzug aus ihrer Wohnung gekommen sein, ohne die von innen abgeschlossene Tür oder eines der Fenster zu öffnen. Das alles war sehr merkwürdig, aber es musste auf jeden Fall festgehalten werden. Im Nieselregen war das Beschreiben eines Notizblocks jedoch keine besonders gute Idee, also sah sich Andy nach einem Dach um. Ins Lokal konnte er nicht mehr zurück.

In dem Augenblick bemerkte Andy, dass er sich vorher wohl einen weiteren Wahrnehmungsfehler geleistet haben musste – der Schriftzug über dem Eingang, der bei Einbruch der Dunkelheit in Neonfarben aufleuchten sollte, besagte eindeutig, dass der Name dieses Imbiss-Kneipe-Clubs „Humpty Dumpty“ war. Wieso benannte jemand ein Lokal mit einem eindeutig erwachsenen Klientel nach einer Figur aus einer Kindergeschichte?

So oder so, er brauchte einen trockenen Platz zum Schreiben, den es in seiner direkten Umgebung nicht gab, also setzte er sich erneut in Bewegung. Er wanderte durch die Straßen und bemerkte als einzige Veränderung, dass die dominante Farbe in der Gestaltung der hoch aufragenden Plattenbauten von Blau zu Gelb wechselte. An diesem Punkt wurde Andy klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmen konnte. So wie seine Füße schmerzten – verflucht seien seine präsentablen, aber für lange Wanderungen gänzlich ungeeigneten Schuhe! – war er inzwischen sicherlich mehrere Kilometer gelaufen. Er hätte längst an seinem Zuhause oder zumindest an einer der angrenzenden Straßen vorbeikommen müssen, sah aber noch immer nicht ein bekanntes Gebäude. Ebenso wenig sah er irgendein öffentliches Verkehrsmittel. Nur ab und zu entdeckte er die Schienen einer Straßenbahn, auf denen sich jedoch keine Fahrzeuge bewegten, wenn er an ihnen vorbeikam, nicht einmal dann, wenn er dem Verlauf eine Weile folgte.

Dann bemerkte Andy plötzlich, dass die Eingangstür eines der Häuser offen stand. Auch wenn es kein öffentlicher Aufenthaltsraum war, so wäre er zumindest vom Regen geschützt. Er könnte sich hinsetzen, seinen pochenden Füßen eine Pause gönnen und endlich alles zu Papier bringen, das er bisher erfahren hatte. Vielleicht würde ihm dabei noch etwas einfallen, auf das er bisher nicht geachtet hatte. Andy sah sich kurz um, stellte erneut fest, dass weiterhin keiner der wenigen Passanten auf ihn achtete, und verschwand hinter der Tür. Er atmete erleichtert durch, als er nicht mehr das schwache Geprassel der Regentropfen auf seiner Haut spürte. Dass er ausgerechnet an diesem Tag seinen Regenschirm zu Hause lassen musste! Aber so war es manchmal, dass sich Pech anhäufte, also atmete er tief durch, um das Selbstmitleid zu verscheuchen. Er hatte endlich einen trockenen Ort gefunden, an dem er sich hinsetzen konnte. Das war der zweite Lichtblick an diesem Tag nach einem unerwartet guten Frühstück. Andy ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf einer der höher gelegenen und sauberen Treppenstufen nieder und löste die Schnürsenkel seiner Schuhe, um seinen Füßen endlich Freiraum zu geben.

Was für eine Wohltat! Er zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte sich damit über das Gesicht und über die Haare. Es sog sich viel zu schnell mit Wasser voll. Er wrang es so weit von sich wie möglich aus und versuchte erneut, seine Haare etwas trockener zu bekommen, musste jedoch bald kapitulieren. Die Aufnahmekapazität des dünnen Stoffes war viel zu schnell erreicht. Wie hatte er im leichten Nieselregen so nass werden können? War er etwa länger herumgelaufen als er gedacht hatte? Am diffusen, herbstlichen Tageslicht konnte er nicht erkennen, wie spät es war.

Seine Füße pulsierten noch immer, auch wenn der Schmerz langsam am Abklingen war. An ein erneutes Anziehen der Schuhe war noch nicht zu denken. Andy zückte sein Notizbuch und seinen Bleistift und hielt dann inne. Was sollte er denn schreiben? Dass er in einen ihm unbekannten Zug gestiegen, an einer ihm unbekannten Haltestelle wieder ausgestiegen war und sich nun in einem ihm vollkommen fremden Stadtteil befand? Dass er durch einen merkwürdigen Zufall auf eine Frau gestoßen war, die etwas über die Vermisste wusste, und sie nicht mal nach ihrem Namen gefragt hatte? Sollte er etwa hinschreiben, dass er keine Straßenschilder finden konnte und auch nicht mehr zur Station zurückfand, dass es weder eine Straßenbahn noch ein Taxi gab, dass er in den Stunden, in denen er herumgelaufen war, bis auf dieses eine Lokal keine Geschäfte, keine Kneipen und keine Hotels gefunden hatte? Auch wenn er sich genau in dieser Lage befand, zögerte er, den Bleistift anzusetzen. Jeder Leser würde diese Aufzeichnungen für ein Lügengebilde, oder noch schlimmer, für das Geschwafel eines Verrückten halten. Konnte man innerhalb weniger Stunden verrückt werden, wenn man jegliche Orientierungsmöglichkeit verlor? Hatte das damals ausgereicht, um Elaine den Lebenssinn zu rauben?

Er wollte sein Notizbuch wieder zuklappen und sah mit Schrecken, dass er trotz seines Zögerns ohne darauf zu achten etwas geschrieben haben musste. Es war seine säuberliche, gut leserliche Schrift. In Worten, die seine hätten sein können war all das dokumentiert, was ihm seit seinem Aufbruch mit dem Zug passiert war. Es war, als ob er bereits angefangen hatte, einen Bericht für seine Auftraggeber, Elaines Eltern, zu schreiben. Nur dass er sich sicher war, dass er kein Wort davon verfasst hatte. Er hatte nicht einmal das Papier mit der Spitze seines Bleistifts berührt, der noch immer so lang und so spitz war wie zuvor. Aber woher kamen dann diese Worte? Und bestand womöglich sogar ein Zusammenhang zwischen diesem Block mit dem Heft, das man bei Elaine gefunden hatte?

Den Überresten nach hätten es Bilder aus ihrer Hand sein können. Vielleicht waren sie das, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte sie mit derselben Mischung aus Staunen und Angst feststellen müssen, dass in einem ihrer noch unbenutzten Hefte, das vermutlich zur Aufzeichnung einer Vorlesung gedacht war, plötzlich Bilder auftauchten. Bilder, die so aussahen, als ob sie durch sie selbst angefertigt waren, es aber auf keinen Fall sein konnten. Sie gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die Tagebücher führten, zumindest hatte man keines bei ihr gefunden. Warum sollte sie ein Tagebuch in Bildern erstellen? Oder waren die Erlebnisse dieser Stunden oder Tage derart gravierend gewesen, dass sie unbedingt ihren Weg aufs Papier hatten finden müssen?

Andy las das Geschriebene noch einmal durch, das sich für seine eigene Handschrift ausgab. Konnte er das wirklich aufs Papier gebracht haben? Sein Bericht begann in diesem Notizblock damit, dass der Wecker dank einem nächtlichen Stromausfall nicht klingelte, dass er sich hastig für die Arbeit fertig machte, dass er weder Frühstück noch seinen Morgenkaffee hatte und dass er in den Zug mit dem Tornado-Graffity gestiegen war. So weit stimmte alles, auch wenn Andy sich sicher war, dass er erst nach der Abfahrt der U-Bahn gemerkt hatte, in welchem Zug er sich befand. Schließlich war er zu spät zu einem wichtigen Termin, viel zu spät.

Auch der Abschnitt, der sich mit seinem bisherigen Aufenthalt in diesem unbekannten Stadtteil und mit seiner Begegnung in der Kneipe beschäftigte, entsprach haargenau dem, das Andy erlebt hatte. Nur die Fahrt selbst, die fiel aus dem Rahmen. Er las diesen Teil erneut, und merkte erst gegen Ende, dass er seine Zähne fest aneinander gepresst hatte, so dass sie bei der kleinsten Kieferbewegung knirschten. Die Worte erklärten ihm haargenau, warum er sich während der Fahrt so unwohl gefühlt hatte. Dieses Empfinden hatte nur bedingt etwas mit der Befürchtung zu tun, dass er sich womöglich in die falsche Bahn gesetzt hatte, wie er zuerst gedacht hatte.

Auf dem Papier stand schwarz auf weiß, dass Andys Blick trotz des überfüllten Wagens manchmal ein Stück der Fenster erhaschen konnte, hinter denen nur Dunkelheit war und die darum das Innere des Wagens spiegelten. Diese Spiegelungen waren das eigentliche Problem gewesen. In ihnen sah er Leute, die nicht im Wagen gewesen waren. Ihre Gesichter waren gespenstisch blass, mit einem violetten Unterton – aber das war völlig normal. Genauso sahen auch alle anderen Fahrgäste in diesen Spiegelbildern aus. Das lag an den Fenstern selbst. Nur die zusätzlichen Leute, fünf an der Zahl, die gehörten da nicht hin. Als ob es Geister wären, die ihn aus dem Spiegel heraus ansahen. Und eine von ihnen sah genau so aus wie die Vermisste.

Andy wurde sich seiner Anspannung bewusst, löste die Umklammerung seiner steif werdenden Finger und klappte das Notizbuch zu. Das konnte nicht von ihm sein, das konnte so nicht stimmen. Das war völlig absurd. Diese sogenannten Geister waren sicherlich nur Einbildung gewesen. Vermutlich nicht einmal das. Das musste irgendein kranker Scherz sein. Er hatte das jedenfalls nicht geschrieben. Andy war sich selbst vollkommen sicher, dass er auf keinen Fall so viele Sätze in der kurzen Zeit seiner Grübelei zu Papier bringen konnte. Er nahm eine gewisse Langsamkeit in Kauf, damit seine Schrift stets gut leserlich blieb, genauso wie er an einer Tastatur lieber etwas langsamer tippte, als ständig Fehler korrigieren zu müssen. Und selbst wenn ihm seine Wahrnehmung der Zeit einen weiteren Streich gespielt hätte, hätte er nicht so viel schreiben können. Also hatte er nichts geschrieben. Wie kamen dann diese Worte in seiner eigenen Handschrift in seinen Block?

Er konnte es sich nicht erklären außer dadurch, dass er einen Blackout gehabt haben musste. Sein Gedächtnis hatte ihn aber noch nie derartig im Stich gelassen. War das wirklich das Alter, das sich meldete? Oder lag alles einfach nur am Stress? Es war sicherlich der Stress. Seit seinem ersten Schultag war ihm nichts Vergleichbares passiert, außer in manchen seiner Alpträume. Seit er Lesen und Schreiben gelernt hatte, war er niemals mehr in einer solchen Situation gewesen. Nur half ihm dieses Wissen an einem Ort ohne Schilder nicht weiter. Seit er sich erinnern konnte, hatte er sich noch nie so verlassen und hilflos gefühlt. Und er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass es Elaine genauso gegangen sein musste. Aber war das genug, um sie so weit in die Depression zu treiben? Er glaubte nicht daran. Es musste noch etwas passiert sein, während sie auf diesen Straßen herumgelaufen war. Aber er würde es sicherlich nicht herausfinden, würde er weiterhin in diesem Haus sitzen bleiben. Auch wenn ihm der Gedanke, wieder in seine Schuhe zu schlüpfen und weiterzugehen sehr unangenehm war, er musste weiter. Vielleicht würde er ja eine Telefonzelle auftreiben können, auch wenn das im Zeitalter von Handys nicht mehr so einfach war wie früher.

Mit zusammengebissenen Zähnen schob er langsam den rechten Fuß in den dazugehörigen Schuh und fluchte innerlich. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, diese Pause einzulegen. Jetzt spürte er den Druck und den Schmerz noch deutlicher als zuvor. Aber eine andere Wahl hatte er nicht, also folgte der linke Fuß dem rechten in seine eigene kleine Folterkammer. Noch nicht losgehen, warte erst ab, bis sie sich wieder an die Schuhe gewöhnt haben. Und dann sieh zu, dass du dir etwas zu trinken besorgst. Er bemerkte, dass sein Mund völlig ausgetrocknet war und bedauerte für einen Augenblick, nicht das Wasser aus dem Taschentuch getrunken zu haben. Dann wiederum, wer wusste schon, wie sauber das Regenwasser einer Großstadt wirklich war. Ihm schauderte beim Gedanken daran, welche Chemikalien sich gerade an seinen Haaren oder seiner Haut zu schaffen machten. Was war das für ein seltsames Kribbeln?

Seine Haut fühlte sich warm an und begann zu jucken. Gleichzeitig breitete sich in seinem Magen ein flaues Gefühl aus. War das wirklich nur Wasser gewesen, das stundenlang gegen seinen ungeschützten Kopf geprasselt war? Oder war es der vielfach beschworene saure Regen gewesen? Smog, saurer Regen, das atomare Feuer und der Giftmüll als die Perversion der natürlichen Elemente? Warum dachte er überhaupt an so etwas? War der Stress daran schuld, dass ihm solche verrückten Dinge in den Kopf kamen? Aber das Jucken ging davon nicht weg. Oder doch? Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Es gab keinen Grund dafür durchzudrehen. Er war schließlich nicht in Lebensgefahr. Er wusste nur nicht wo er war. Und er war vom unaufhörlichen Nieselregen durchnässt worden. An Säure statt Regen zu denken war doch einfach nur lächerlich. Er hatte nie welchen erlebt. Das war sicher nur eine weitere urbane Legende, ins Leben gerufen durch übereifrige Umweltschützer. Das Kribbeln wurde schwächer und ebbte ab, und dann stellte er fest, dass seine Haare schon so gut wie trocken waren. Er grinste, um sich selbst aufzumuntern. Nur die Nerven, weiter nichts. Es waren nur seine überstrapazierten Nerven.

Seine Füße pochten noch immer, beschwerten sich stumpf über das unpassende Schuhwerk, aber er musste trotzdem weiter. Wenn er bis zum Einbruch der Dunkelheit keinen Hinweis auf Elaines Schicksal gefunden hatte, dann sollte er besser ein Hotel finden, um dort unterzukommen. Der Gedanke, irgendwo auf einer noch nicht gefundenen Parkbank oder unter einer womöglich vorhandenen Brücke zu schlafen, jagte ihm unangenehme Schauer über die Haut. Er war weder obdach-, noch mittellos, und der Gedanke, dass man ihn dafür halten könnte, widerstrebte ihm zutiefst. Er wusste zu gut, wie man solche Menschen behandelte. Er war kein Herumtreiber, kein Krimineller, kein Verlierer und nichts von all den anderen Stereotypen. Er hatte einfach nur Pech gehabt, und das nicht mal über längere Zeit hinweg, sondern nur mit der Wahl eines einzigen Zugs. Oder war das etwa schon genug, um sein Leben zu ruinieren? Würde er eine dieser Gestalten werden, die kaum noch an die Menschen erinnerten, die sie mal waren? Würde er eine dieser ungepflegten Kreaturen sein, die nach Schweiß, Alkohol und Urin stanken, und keine Spur mehr von der Würde eines Menschen trugen?

Er biss sich auf die Zunge und schüttelte den Kopf. Er würde nicht im Sumpf aus Selbstmitleid und Elend versinken. Was auch immer Elaine in die Depression getrieben hatte, würde ihn nicht bekommen. Er hatte ein abschreckendes Beispiel vor Augen, und er war verdammt noch eins ein Mann, der schon mit schlimmeren Dingen zu tun hatte als grundlosen Ängsten und seltsamen Gedanken. Die schlimmsten Dinge, die einem passieren konnten, wurden immer von Menschen in Gang gesetzt, und nicht vom Pech, Schicksal oder irgendwelchen Göttern. Von Unfällen und Naturkatastrophen mal abgesehen war alles Unglück von Menschenhand gemacht. Er hatte nichts zu befürchten, zumindest solange nicht, bis er an einen Sadisten geriet. Wem war Elaine eigentlich in dieser Stadt begegnet? Dieser Frau mit der Stimme einer Sirene? Was sollte eigentlich dieser Vergleich, der plötzlich in seinem Kopf aufgetaucht war?

Während er sich erneut dem Nieselregen aussetzte, kehrten seine Gedanken erneut zu einem früheren Punkt in ihrem Verlauf zurück. Für ihn bestand nun kein Zweifel mehr, dass Elaines Unglück mit Sicherheit auf eine Person zurückzuführen war, wenn nicht sogar auf mehrere. Über einen Unfall hätte sie gesprochen. Es gab keinen Grund, so etwas zu verschweigen. Da nichts ohne einen Grund geschah, musste jemand dafür verantwortlich sein. Und er war der einzige, der die Chance hatte, diese Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Also würde er es tun. Das war sein Job, seine Berufung. Das war der Grund, warum er in den Zug gestiegen war. Es war kein Pech und auch kein falscher Zug. Es war das einzig richtige gewesen, das er in diesem Augenblick hatte tun können und er hatte es getan. Er würde sich ein Hotel suchen und dann zu diesem Lokal mit dem seltsamen Namen zurückkehren.

Andys Blick glitt nach oben als die Wolken aufrissen und ein Sonnenstrahl durch sie hindurch zwischen die grauen Klötze der Häuser fiel. Das erste Mal, dass er das Licht der Sonne sah, seit er unter der Erde hervorgekommen war. Dieser Strahl lenkte seinen Blick wie ein Zeigefinger nach unten. War das ein Zufall? War das ein Hinweis, dem er folgen sollte? Konnte in einer Stadt ohne Straßenschilder und ohne eine Auskunft ein Lichtstrahl als Ersatz dienen? War das nicht etwas kitschig?

Er atmete tief durch. Was kostete es ihn schon, dorthin zu gehen? Eine bessere Alternative hatte er sowieso nicht. Wenn er ohnehin ohne eine Richtung herumirrte, konnte er ebenso gut in eine Richtung gehen, wo es nicht regnete. Würde er dort weder eine Spur, noch ein Hotel finden, würde er zumindest nicht nasser werden als in einer anderen. Also beschloss er, weiterhin das Nörgeln seiner Füße zu ignorieren und bog an der nächsten Ecke in eine andere Richtung als die bisherige.

Jeder Schritt machte sich schmerzhaft bewusst, jedes Aufsetzen seiner Füße, jedes Abrollen, jedes Abheben. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Er kam dem von der Sonne beschienenen Fleck einfach nicht näher, egal wie viele Schritte er tat. Dabei war er sich so sicher, dass er stets die richtige Richtung einhielt. Er war sich nur nicht sicher, ob seine Füße ihn nicht zu sehr davon ablenkten. Als sich bei einem Schritt unerwartet nicht nur sein schmerzender Fuß, sondern auch seine Kehle mit einem unterdrückten Aufstöhnen meldete, merkte er, dass es genug war. Er musste diese Schuhe loswerden, nasse Straßen hin oder her. Also blieb er stehen, immer noch unschlüssig darüber, ob das wirklich die beste Lösung war, löste seufzend die Knoten seiner Schnürsenkel und zog mühsam die Schuhe von seinen Füßen. Seine Socken stopfte er in die Schuhe, die er mit den Schnürsenkeln aneinander band und nun in die Hand nahm. Seine Füße sahen nicht besonders gut aus, aber zumindest war keine der Blasen aufgegangen oder blutig gescheuert worden. Immerhin etwas Gutes.

Es war ein seltsames Gefühl, barfuß auf den regennassen Straßen der Stadt zu laufen. Aber es war auch überraschend angenehm. Das Wasser und der flüssige Matsch kühlten seine Füße und linderten den Schmerz, zudem fühlte sich der Asphalt nicht so rau und unangenehm an wie er es befürchtet hatte. Er konnte froh sein, dass es nicht die brütende Hitze des Sommers war, mit der er sich abplagen musste, sondern nur der herbstliche Nieselregen. Ansonsten hätte er seine Füße nicht nur in diesen Schuhen malträtiert, sondern hätte jetzt auch noch über aufgeheizte Straßen laufen müssen.

Schon bald spürte er den Schmerz seiner Füße kaum noch und konnte sich ganz und gar dem Gehen zuwenden. Der Sonnenstrahl war immer noch da und er schien noch immer an dieselbe Stelle wie vorher. Das war merkwürdig, aber nicht so eigenartig wie die Sache mit seinem Notizblock. Für einen Moment verspürte er den Anflug der Neugierde, wollte wieder einen Blick auf die Seiten werfen, ob inzwischen etwas ohne sein Zutun hinzugekommen war oder nicht. Dann schüttelte er darüber den Kopf und ging weiter. Er hatte keine Zeit, um sich von so etwas ablenken zu lassen. Außerdem, wieso sollte da plötzlich etwas drin stehen, das er auf keinen Fall selbst geschrieben haben könnte? Diesmal hatte er nicht einmal dazu angesetzt, um etwas zu notieren, also konnte er auch nicht gedankenverloren etwas geschrieben haben. Darum würde es auch keine neuen Sätze auf dem Papier geben.

Seine durch kühle Nässe besänftigten Füße trugen ihn langsam in einen anderen Teil der Stadt. Er konnte Bäume und Sträucher sehen und vereinzelt auch Blumenbeete, die im Regen jedoch weitaus weniger schön wirkten als sie es bei strahlendem Sonnenschein getan hätten. Die Häuser in dieser Gegend wirkten nicht so heruntergekommen und die Menschen auf den Straßen waren besser gekleidet. Auf ihr Verhalten hatte dies jedoch keine Auswirkung. Sie waren immer noch so abweisend und stumm wie vorher. Der Sonnenstrahl war noch nicht verschwunden und schien an denselben Ort wie schon die ganze Zeit. Wenigstens konnte Andy so nicht sein vorläufiges Ziel aus den Augen verlieren. Es war ein größeres Gebäude auf der anderen Seite des Flusses, der die Stadt teilte. Andy musste eine Zeitlang an der Uferpromenade entlang wandern, bis er endlich eine Brücke fand. Sie schienen rar zu sein, und das obwohl die Stadt doch so groß zu sein schien. Sie war auch viel schmaler als die Hauptstraße, die auf sie zuführte und auf dem anderen Ufer von ihr wegging. Das tat dem Straßenverkehr jedoch keinen Abbruch; er lief genauso reibungslos ab wie auf allen anderen Straßen dieser Stadt.

Andy blieb zögernd stehen. Auf beiden Seiten der Fahrbahn gab es auch Fußgängerwege. Doch er sah keine einzige Person die Brücke betreten. Es war seltsam, fuhren die Fahrzeuge doch einwandfrei über sie hinweg. Hatte er vielleicht ein Schild übersehen, das Passanten das Betreten der Brücke aus irgendeinem Grund nicht gestattete? Nein, ein solches Schild gab es nicht – weder bei dem einen, noch bei dem anderen Weg. Doch Andy zögerte weiterhin. Das Fehlen von Schilden jeglicher Art war symptomatisch für diese Gegend. Zugleich schien es sehr wohl Regeln zu geben, nach denen der Straßenverkehr ablief. Demnach war diese Brücke wohl für Fußgänger gesperrt. Oder etwa nicht? Andy wartete eine Weile, in der Hoffnung, doch noch jemanden zu sehen, der über die Brücke zum anderen Ufer laufen würde. Nichts dergleichen geschah. Er knurrte leise vor Verärgerung und beschloss, nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, auf die andere Seite des Flusses zu kommen. Vielleicht gab es ja eine Brücke, die explizit für Fußgänger gedacht war.

Doch auch die nächste Brücke, die er nach einiger Zeit erreichte, bot genau dasselbe Bild. Die Fahrzeuge bewegten sich problemlos von einer Seite auf die andere, die Fußgänger mieden jedoch die Wege, als ob es sie gar nicht gab. Das fand Andy noch merkwürdiger. Aber er musste auf die andere Seite kommen. Dort war dieses von der Sonne beschienene, beeindruckende Gebäude mit großzügigen smaragdgrünen Verzierungen, das er sich näher ansehen wollte und das vielleicht sogar eine Spur vom Verbleib der verschwundenen jungen Frau enthielt. Er würde jetzt einfach auf die andere Seite des Flusses gehen. Warum auch immer die Leute nicht die Brücke betraten, er konnte keinen Grund dafür erkennen. Sie sah nicht baufällig aus und auch nicht besonders gefährlich. Also setzte er seinen Fuß auf den senkrecht abweichenden Weg und hatte schon bald nichts außer etwas Stahl, Beton und Luft zwischen sich und dem Wasser darunter.

Der Träumer und der Schnüffler

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