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Kapitel 2: Echos und Visionen

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Die Brücke war weder abgesperrt noch heruntergekommen, aber außer Andy setzte niemand einen Fuß auf den Bürgersteig, obwohl die Fahrzeuge unbeirrt ihren Weg über die Fahrbahnen fortsetzen. Er wunderte sich ein wenig, aber ließ sich nicht weiter stören. Er wollte auf die andere Seite des Flusses kommen. Das war die beste Gelegenheit. Von dieser Brücke aus schien der Weg zum sonnenbeschienenen Gebäude am kürzesten zu sein. Er setzte einen Fuß nach dem anderen auf, legte einen Meter nach dem anderen zurück. Es schien alles halb so wild zu sein – keine Glasscherben, die seine nackten Füße hätten zerschneiden können, keine herausstehenden Stahlgräten oder spitze Steinkanten. Die Brücke brach auch nicht plötzlich unter ihm zusammen. Und dennoch wankte er etwa in der Mitte seines Weges. Aus einem ihm unbegreiflichen Grund gaben seine Beine nach, als ob ihm etwas den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Er musste sich ins Gelände krallen, um nicht auf dem Beton aufzuschlagen, oder schlimmer noch, ins Wasser zu fliegen. Er hielt sich fest und wunderte sich darüber, wie schwer sein Atem plötzlich ging, als ob er nicht nur sich selbst stabilisieren, sondern gleich noch eine Handvoll Menschen mittragen musste. Doch das Echo ließ nach einigen mühsamen Atemzügen nach und seine Arme hörten zu zittern auf. Echo? Wieso drängte sich ihm ausgerechnet dieses Wort auf?

Andy hangelte sich entlang des Geländers zur anderen Seite des Flusses, aber etwas Vergleichbares passierte ihm nicht noch ein weiteres Mal. Er sah zurück, doch die Brücke sah nicht anders aus als zuvor. Andys Blick verweilte noch einen Augenblick länger auf ihr, dann schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Er hatte ein Ziel und wollte nicht über seltsamen Gedankengängen brüten und damit womöglich erneut zu spät kommen. Der Sonnenstrahl war immer noch da, und inzwischen würde er das Gebäude selbst ohne seine Weisung nicht mehr verfehlen, aber das war nicht das Entscheidende in diesem Moment. Das Problem war, dass der Sonnenstrahl seine Farbe und Intensität verlor. Der Winkel musste sich geändert haben. Der Abend brach an. Und wenn dieses Gebäude nicht zufällig ein Hotel war, dann sollt er sich beeilen, um danach noch eines finden zu können.

Diesmal irrte er nicht mehr ziellos durch die Straßen, aber das war nicht das Einzige, das sich geändert hatte. Die Straßen selbst waren andere geworden. Auch wenn der seltsame, kaum fassbare Hauch des Verfalls über allem schwebte, waren diese Häuser nicht mehr so heruntergekommen wie die zuvor, die Gesichter der Menschen waren nicht mehr ganz so teilnahmslos, und mit der einsetzenden Nacht kam plötzlich mehr Licht in diese Stadt. Es waren nur die Straßenlaternen, die nach und nach angingen, aber ihr Licht spiegelte und brach sich in den unzähligen, winzigen Regentropfen. Er bemerkte erst nach einer Weile, dass er mit leicht geöffnetem Mund dastand und das funkelnde Schauspiel bewunderte. Und er schüttelte sich. So etwas war ihm noch nie passiert, zumindest konnte er sich an nicht Vergleichbares erinnern.

Die Dunkelheit kam schneller über die Stadt als Andy es erwartet hätte. Oder hatte ihn der Anblick so sehr verzaubert, dass er die Zeit aus den Augen verloren hatte? Er war sich nicht sicher, was alles da im Spiel gewesen war, aber er wusste, dass er ganz dringend weitergehen musste. Also eilte er in die Richtung, die er noch gut genug im Gedächtnis hatte. Die Häuser zogen nach und nach an ihm vorbei. Den durchgehend besser gekleideten Passanten stand zwar die Verwunderung über seine barfüßige, durchnässte und leicht zerzauste Erscheinung ins Gesicht geschrieben, aber er beschloss, nicht darauf zu achten. Er war nicht für dieses Viertel, diese Stadt oder dieses Was-auch-immer zuständig, also konnte es ihm auch egal sein, welchen Eindruck er bei irgendwelchen Leuten dort hinterließ. Diese Personen hatten sicherlich nichts mit seinem Fall zu tun. Es waren unbeteiligte Statisten, gemeines Volk. Warum auch immer ihm gerade dieser Ausdruck durch den Kopf ging.

Da war es, das Gebäude, das er schon vor Stunden erblickt und nun endlich beinahe erreicht hatte. Er konnte es sehen, ein bewundernswertes Stück Architektur mit zeitlosen, klaren Linien, hoch aufragend und schlank, dem Himmel entgegenstrebend. Die Details, die Verzierungen in smaragdgrünen Tönen, die sich überall in diesem Stadtteil finden ließen, fügten eine weiter Komponente hinzu, durchbrachen die steinern-gläserne Fassade mit dem edelsten Farbton der Farbe des Lebens und der Hoffnung. Seltsam, diese Gedanken, die er schon wieder hatte. Er hielt sich nicht für einen Romantiker. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war, dass er schon so gut wie vor den gläsernen Türen des Gebäudes war, das eindeutig ein Hotel sein musste. In seinem Inneren stieß Andy einen Jubelschrei aus, nach außen hin zeigte sein müdes Gesicht immerhin ein Lächeln. Wieder ein kleiner Glücksfall an einem Tag, an dem seit seinem Aufwachen fast alles schief gelaufen war.

Seine Schritte wurden langsamer als seine Gedanken zu einem früheren Verlauf zurückkehrten. Er fragte sich erneut, wie viel von dem, was ihm an diesem einen Tag passiert war, auch Elaine widerfahren war. Sie konnte unmöglich stundenlang durch die Stadt geirrt sein, nachdem sie bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft hier einen Anruf von Zuhause aus getätigt hatte. Doch Andy war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob dieses kurze Telefonat irgendeine Aussagekraft hatte. War es nicht vielleicht sogar so, dass Elaine ihre beste Freundin über ihren Verbleib angelogen hatte? Sollte dies stimmen, wer wusste dann schon, was alles in dieser seltsamen Gegend passiert sein mochte. War es ihr einfach nur peinlich gewesen, dass sie sich verirrt hatte, nicht mehr zurück konnte und in ein Hotel einchecken musste? Hatte jemand sie dazu gezwungen, ihre Freundin anzulügen, damit sie sich keine Sorgen machte? Oder war da eine wesentlich subtilere Form der Manipulation am Werk gewesen, so dass Elaine glaubte, freiwillig zu handeln?

Andy war ein Mensch der felsenfesten Überzeugung, dass das Böse nur durch menschliches Handeln hervorgebracht wurde. Doch inzwischen fragte er sich auch, ob eine Stadt nicht genauso ein Ungeheuer sein konnte. Konnte eine Stadt einen Menschen zugrunde richten, ohne dass irgendwelche Personen daran beteiligt waren? Personen waren ein Teil der Stadt. Aber sie wurden erst dann zu Akteuren, wenn sie sich von der Masse abhoben, wenn sie individuelle Taten vollbrachten und eigene Entscheidungen abseits der gängigen Norm trafen. War Elaine vielleicht an irgendwelche besonderen Außenseiter geraten? Hatten die Mutter und ihr Sohn aus der Kneipe irgendetwas mit ihrem Schicksal zu tun? War sie wirklich tot, oder hatte die Frau ihn angelogen, damit er Ruhe gab?

Andy schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, die für den Zeitpunkt unangemessen waren, und ging auf den Eingang des Hotels zu. Ein Page versperrte ihm den Weg: „Es tut mir Leid, aber so kann ich Sie unmöglich hier rein lassen. Sie tragen nicht einmal eine Krawatte, von Schuhen ganz zu schweigen.“

Andy seufzte müde und fixierte den Blick des Mannes. Solche Leute kannte er zur Genüge, sie machten nur ihren Job – aber er musste den seinigen erledigen. „Ich brauche ein Zimmer für die Nacht und eine Auskunft. Ich kann bezahlen und Ihnen erklären, warum ich im Augenblick eine so unangemessene Erscheinung habe. Je schneller ich hier ein Zimmer bekomme, desto schneller bin ich hier weg und sehe wie ein normaler Mensch aus. Verstehen wir uns?“

Der Page wollte ihm zuerst noch etwas entgegnen, öffnete sogar den Mund – und dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich von abweisend zu höflich, wenn auch immer noch kühl: „Ich verstehe. Kommen Sie mit, ich bringe Sie zur Rezeption.“

Der Page machte auf dem Absatz kehrt und öffnete Andy die Tür. Andy ging hinein, mit einem leichten Grinsen der Freude, auch wenn er sehr überrascht war, dass er nicht länger mit dem Mann hatte diskutieren oder ihn hatte bestechen müssen.

Im Empfangsbereich zog Andy sofort alle Blicke auf sich, und ihm war sonnenklar, dass dies nicht auf seine blendende Erscheinung zurückzuführen war. Aber er biss die Zähne zusammen, setzte ein Lächeln auf und folgte dem Pagen. Was auch immer sich die Leute denken mussten, sie hatten garantiert keine Ahnung von dem, was tatsächlich passiert war. Und er würde sich nicht von tadelnden Blicken fertig machen lassen, die von falschen Annahmen ausgingen und damit vollkommen unberechtigt waren. Auch wenn er in ihrer Situation vermutlich genauso reagiert hätte, er war in seiner eigenen Situation und nicht in ihrer.

Der Page beugte sich leicht über den Schalter und flüsterte dem Mann an der Rezeption schnell etwas zu. So sehr Andy seine Ohren auch anstrengte – und er war immer der Meinung, dass er über ein ausgezeichnetes, nicht durch Kopfhörer- oder Disco-Dauerbelastung angegriffenes Gehör verfügte – er verstand nicht eine Silbe davon. Danach verlief jedoch alles in gewohnten Bahnen. Der Angestellte des Hotels nahm Andys Personalien auf, wies ihm ein Zimmer zu – noch immer mit einem Zimmerschlüssel, nicht mit einer Schlüsselkarte – und fragte nach dem Zahlungswunsch, während er den Schlüssel auf die Theke legte. Andy nickte und zog seine Brieftasche hervor, suchte eine seiner Kreditkarten heraus und reichte sie weiter.

Der Angestellte zog eine Augenbraue hoch, als er seinen Blick über die Karte gleiten ließ: „Damit wollen Sie bezahlen?“

Andy stutzte: „Ja, gibt es ein Problem? Akzeptieren Sie diese Karten nicht?“

Der Angestellte lächelte zuckersüß, als ob er es mit einer begriffsstutzigen Person zu tun hatte: „Sie sind nicht von hier, habe ich recht?“

Andy nickte verwirrt über diese Frage. Wäre er von hier, würde er wohl kaum ein Hotelzimmer nehmen.

Der Angestellte lächelte noch breiter: „Das erklärt alles. Ich werde sehen, was ich machen kann.“

Er legte die Kreditkarte vor sich auf die Theke ab, genau parallel zur Kante ausgerichtet, und griff nach einem Telefonhörer. Seine Finger wählten blitzschnell eine Nummer, so dass selbst ein geübter Zuschauer nicht hätte erkennen können, um welche Ziffern es sich dabei handelte, und wartete einige Augenblicke. Dann begann er zu sprechen. Die Verwirrung auf Andys Gesicht wurde größer, ob er es nun wollte oder nicht. Der Angestellte murmelte, nuschelte, tuschelte irgendetwas ins Telefon, das Andy nicht im Geringsten verstehen konnte, egal wie sehr er sich auch anstrengte.

Mehr noch, die Bruchstücke dieser einseitigen Konversation, die er erhaschen konnte, ließen sich keiner Sprache zuordnen, mit der Andy jemals in Kontakt gekommen war. Wenn es etwas gab, das die Bezeichnung Kauderwelsch verdiente, dann war es dieses Telefonat. Doch bevor diese ganze Sache allzu seltsam wurde, hörte der Angestellte zu sprechen auf und lauschte offensichtlich den Anweisungen von der anderen Seite der Leitung. Diese kommentierte er lediglich mit Lauten der Bestätigung, mit den von jedermann verständlichen Hmhms und Ahas, immer wieder begleitet von einem leichten Kopfnicken.

Dann legte er den Hörer auf und lächelte Andy an: „Es ist alles geregelt. Sie können auf Ihr Zimmer gehen. Die Aufzüge sind dort drüben“, er deutete zu seiner linken.

Andys Blick folgte der Handbewegung und traf auf zwei Türen. Da begann er auch endlich, das Innere des Raums wahrzunehmen. Das Design der Umgebung passte auch hier tadellos zur äußeren Erscheinung des Gebäudes, eine elegante Gestaltung mit Marmor und Glas, Verzierungen in Gold und Smaragdgrün. Er war sich nicht sicher, ob einzelne Partien tatsächlich aus Malachit waren, weil er sich nicht so genau mit den Steinen auskannte, um dies treffsicher entscheiden zu können, aber zumindest kam ihm dieser Begriff in den Sinn.

„Ihr Zimmer befindet sich im achten Stockwerk, halten Sie sich nach dem Verlassen des Aufzugs rechts. Ich werde Ihnen den Zimmerservice zu Ihnen schicken, der sich um Ihre Bekleidung kümmern kann. Bis morgen wird die hauseigene Reinigung alles in Ordnung bringen.“

Andy staunte ein wenig über diese unerwartete Freundlichkeit, ermahnte sich dann aber, dass dies zum Beruf des Mannes gehörte. Es war offensichtlich, dass er an eines der besseren Hotels geraten war, und auch wenn sich ihm die Sorge um mögliche Kosten einer solchen Unterbringung unangenehm ins Bewusstsein drängeln wollte, schob Andy sie ganz schnell beiseite. Kreditkarten waren genau in solchen Situationen sehr nützlich, und offensichtlich wurde zumindest eine davon hier akzeptiert. Alles andere würde sich später klären lassen.

„Brauchen Sie eine Begleitung?“ Andy sah überrascht zurück, offensichtlich verwirrt über diese Frage, die ihn zurück in die gegenwärtige Situation riss und auf die er im ersten Augenblick nicht antworten konnte.

„Brauchen Sie jemanden, der Sie bis zu Ihrem Zimmer begleitet?“

Andy lächelte bei dieser Wiederholung, bei der sich alles gleich wesentlich verständlicher gestaltete, und schüttelte den Kopf: „Nein, das wird nicht nötig sein, Sie haben alles hervorragend erklärt.“ Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zum Aufzug.

„Ach ja, wenn das Licht ab und zu flackern sollte, machen Sie sich keine Sorgen. Es sind nur die Glühbirnen. Aber vielleicht wurden sie schon ausgewechselt, dann sollte es keine Probleme geben“, hörte er noch.

Mit einem Nicken ging Andy weiter und zuckte mental mit den Schultern. Flackerndes Licht war seine geringste Sorge und nach all dem, das ihm an diesem Tag zugestoßen war, sicherlich auch das harmloseste Übel. Während Andys Füße die letzten Schritte dieses Tages taten und ihn immer näher zu den Türen des Aufzugs brachten, drängten sich ihm im Geiste die vielen Übel auf, die eine Fahrt mit dem Aufzug wesentlich unangenehmer gestalten konnten als flackerndes Licht. Für einen kurzen Moment sah er sich selbst von den Schiebetüren eingeklemmt und erbarmungslos zerquetscht werden, dann wiederum in Kälte und Dunkelheit festsitzen, in der niemand seine Schreie hören und ihn herausholen konnte, in einer überhitzten Kabine ersticken oder gar bei einem plötzlichen Brand bei lebendigem Leibe zu Asche werden, oder einfach nur nach dem Riss der tragenden Kabel in die Tiefe stürzen. Andy biss die Zähne zusammen und war plötzlich froh, dass seine Füße so schmerzten, dass es ihm nicht schwer fiel, diese schrecklichen Bilder abzuschütteln.

Als sein Zeigefinger den Knopf drückte und sich die Türen des Aufzugs öffneten, war von diesen beklemmenden Visionen keine Spur mehr geblieben. Stattdessen lächelte er leicht, ebenso über diese Reaktion überrascht wie über die Momentaufnahmen zuvor. Für sein Lächeln gab es jedoch einen guten Grund, dachte er sich, es war eine angemessene Reaktion auf eine ästhetisch ansprechende Gestaltung eines Raums, die nicht selten äußerst ungünstig ausfiel oder einfach nur lieblos eingerichtet wurde. Für einen Augenblick tat es ihm sogar leid, dass seine verdreckten Füße den blank polierten Boden der Kabine beschmutzen würden. Aber – da führte kein Weg daran vorbei, also ging er hinein und wählte seine Etage.

Die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich mit einem kaum spürbaren Ruck in Bewegung. Langsam zogen die Zahlen über der Tür vorbei, eine altmodische, analoge Anzeige ebenso wie der altmodische Schlüssel, den Andy ausgehändigt bekam. Ein altmodisches, aber schönes Exemplar, stellte er fest. Der Schlüssel wirkte golden, war aber vermutlich aus Messing. Seine filigranen, verschnörkelten Linien nahmen Andys Aufmerksamkeit für die gesamte Fahrt in Beschlag, in der er darüber rätselte, ob das Design eher ein barockes sein sollte oder doch mehr dem Jugendstil zuzusprechen war. Die Tatsache, dass Andy kein Kunstkenner war, und sich nur dunkel aus dem Kunstunterricht an die beiden Begriffe erinnern konnte, machte ihm die Entscheidung nicht leichter. So oder so war es ein schönes Ding.

Da öffnete sich schon die Tür und Andy trat auf den Gang hinaus. Er war in diffuses, weiches Licht getaucht, das von der gesamten Decke auszugehen schien und ihn über die Konstruktion staunen ließ. Die Tür seines Zimmers war leicht zu finden und ebenso leicht zu öffnen. Andy ging hinein und tastete nach dem Lichtschalter. Wie von einem ihm unbekannten Raum erwartet fand er ihn nicht sofort. Als das Licht schließlich den Raum flutete, schluckte Andy und fragte sich, ob man ihm nicht ein falsches Zimmer zugewiesen hatte. Es kam ihm viel zu groß vor. Seine Vermutung bestätigte sich, als er herumging und anstelle eines Raums drei Zimmer vorfand, dazu noch ein Bad.

Er nahm den Hörer des im ersten Zimmer eingerichteten Telefons ab und hörte den ihm bereits bekannten Angestellten: „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Ja, das auf jeden Fall – aber ein Einzelzimmer wäre für mich vollkommen ausreichend gewesen.“

„Leider ist dies die kleinste Einheit, die noch frei ist. Wir werden sie Ihnen allerdings als ein Einzelzimmer berechnen. Haben Sie noch einen Wunsch?“

Andy stutze, aber beschloss, diese Aussage einfach so zu akzeptieren, solange sie zu seinen Gunsten ausfiel: „Ähm... könnte ich morgen um sieben Uhr einen Weckruf bekommen?“

„Selbstverständlich. Ich verbinde Sie mit dem Zimmerservice.“ Einige wenige Töne später hörte er eine Frauenstimme, die ihm die Weckzeit bestätigte und ihm noch die Möglichkeit eines Abendessens anbot. Dieses nahm Andy dankend an, nachdem ihm mit einem Magenknurren bewusst wurde, dass er an diesem Tag nicht allzu viel zu sich genommen hatte.

Eine hervorragende Mahlzeit und eine heiße Dusche später fühlte Andy sich wie ein neuer Mensch. In einem smaragdgrünen Bademantel – seine Kleidung war wie angekündigt von der Reinigung abgeholt worden – entspannte er sich auf dem großen Bett und ließ seine Gedanken schweifen. Endlich ergab sich für ihn die Möglichkeit, in Ruhe über die Lage nachzudenken, in die er geraten war. Er wusste nicht, wo er sich befand. Seine Stadt konnte es mit Sicherheit nicht sein, ein Hotel wie dieses hatte er noch nie gesehen, und er kannte alle Hotels. Wie er in der kurzen Fahrt von nur einer U-Bahn-Station in eine andere Stadt geraten konnte, das konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, aber es war offensichtlich irgendwie geschehen. Er war „nicht von hier“, hörte er ständig, aber keiner von den Leuten aus dieser Gegend hatte auch nur ansatzweise den Willen angedeutet, ihm zu erklären was „hier“ eigentlich bedeutete. Zumindest sprachen sie alle seine Sprache, auch wenn Andy sich nicht erklären konnte, warum er erst nach einer Weile in der Lage war, auch die Schrift zu lesen, die sich nicht von der ihm geläufigen unterschied.

Das alles machte nur dann Sinn, wenn Andy an übernatürliche Dinge glauben würde. Nun war er nicht allzu abergläubisch, und dennoch kam er inzwischen nicht umhin sich zu fragen, wie sich seine merkwürdige Reise in diese Gegend erklären ließ. Oder wie die U-Bahn-Station einfach verschwunden sein konnte, obwohl er sich sicher war, sich kaum von ihr entfernt zu haben. Vor allem fragte er sich, woher all die Sätze in seinem Notizblock herkamen. Hatte er sie tatsächlich geschrieben, ohne das zu bemerken, wie das manchen Leuten angeblich passierte? Oder kam das alles auf eine andere Weise zustande, ohne dass er irgendetwas dazu beitrug? Zumindest das würde sich leicht überprüfen lassen. Wenn der Block sich von alleine füllte, dann sollte sich das Geschriebene inzwischen erweitert haben.

Andy griff nach seiner Tasche, zog den Block heraus und seufzte. Es waren neue Zeilen hinzugekommen, die sein merkwürdiges Erlebnis auf der Brücke beschrieben und damit endeten, wie er es sich auf dem Bett gemütlich machte. Und wieder kamen die fünf geisterhaften Gesichter vor, die ihm gar nicht aufgefallen waren, nicht mal als ein seltsames, unangenehmes Gefühl. Sie waren in den Spiegelungen der Gläser im Erdgeschoss des Hotels gewesen und in den vielen Spiegeln, die die Wände schmückten und den ohnehin großzügig bemessenen Raum noch größer erscheinen ließen. Sie waren mit ihm im Aufzug mitgefahren, folgten ihm auf dem Gang und waren sogar im Badezimmer gewesen. Jetzt spürte Andy das mulmige Gefühl im Magen.

Der letzte Satz, den er las, lautete: „Und während ich die neuen Zeilen in meinem Notizbuch las, beobachteten sie mich neugierig grinsend aus der durch wenige Glanzlichter unterbrochenen Schwärze der Fenster.“ Langsam hob Andy den Blick zum Fenster und erstarrte. Sie waren tatsächlich da.

Da war eine leichenblasse, weißblonde Frau mit dunkel umschatteten, schwarzen Augen unter boshaft zackigen, starken Augenbrauen, die pinkfarbenen Lippen zu einem amüsierten und zugleich gruseligen, leicht schiefen Schmunzeln verzogen. Da war ein junger, hübscher Bursche, noch keine zwanzig, mit zerzaustem, blondem Haar, das unter einer Narrenkappe hervorlugte. Da waren ein großer, breitschultriger Mann mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren und Vollbart und ein Schönling mit schwarzem Haar und hellen Augen. Und schließlich war da Elaine, oder eine junge Frau, die wie Elaine aussah. Es waren ihre hübschen, klassischen Gesichtszüge, ihre blauen Augen, ihre brünetten Haare. Nur hatte er sie noch nie in einem tiefroten, viktorianisch anmutenden Kleid oder mit einer ebensolchen Hochsteckfrisur gesehen.

Sie hauchte gegen die Fensterscheibe, so dass diese beschlug, und schrieb etwas mit dem zierlichen Finger einer blutrot behandschuhten Hand: „Ich habe dir etwas zu erzählen, Andy.“

Sein anfänglicher Schrecken wandelte sich augenblicklich in Neugier, er stand vom Bett auf und ging zum Fenster. Für einen Moment sah er fünf Paar Hände nach sich greifen, die ihn durch das Fenster zogen, damit sein Körper auf der sich daraus ergebenden Flugbahn auf dem Boden auftreffen und einen sofortigen Tod erleiden konnte, verscheuchte das Bild aber sofort.

„Elaine?“, war das einzige Wort, das er herausbringen konnte.

Die junge Frau schüttelte den Kopf, hauchte erneut gegen das Glas und schrieb: „Nein. Ich bin Alice. Elaine ist tot. Siren hat dich nicht angelogen.“

Siren musste also die Frau aus der Kneipe gewesen sein. Das musste ein Künstlername sein, vielleicht war sie tatsächlich eine Sängerin.

„Wieso siehst du aus wie Elaine? Was willst du mir erzählen?“, fragte er dann.

„Das ist eine zu lange Geschichte, um sie hier aufzuschreiben. Bist du ihretwegen hier?“

Andy nickte: „Ja, ich suche sie im Auftrag ihrer Eltern. Das heißt, inzwischen haben wir alle die Suche aufgegeben. Ich bin eigentlich nur in den falschen Zug gestiegen.“

Die Gestalten brachen in lautloses Gelächter aus. Dann schrieb Alice erneut: „Der Tornado hat noch nie einen Fehler gemacht, auch wenn es nicht für alle ein Happy End geben kann. Ich sorge übrigens dafür, dass dein Block sich mit deinen Wahrnehmungen und Gedanken füllt. Dazu wirst du darin morgen früh ein paar Informationen von meiner Seite finden.“

Sie wischte die Fensterscheibe sauber, nachdem er zu Ende gelesen hatte und fügte hinzu: „Für heute Nacht habe ich noch einen Rat für dich: Betrinke dich bis zur Besinnungslosigkeit, wenn du nicht träumen willst. Die Bar ist gut bestückt.“

Auf den fragenden Gesichtsausdruck von Andy fügte sie weitere Zeilen hinzu: „Leute, die nicht von hier sind, vertragen Träume nicht besonders. Wenn dir darin etwas,“ sie legte eine kleine Pause ein und überlegte offensichtlich, welches Wort an dieser Stelle am besten geeignet war, „Unangenehmes zustößt, dann könnte das morgen früh Konsequenzen haben. Schlimmstenfalls bist du tot.“

In Anbetracht von wie durch Geisterhand beschriebenen Blöcken und seltsamen Gestalten an – in? –Spiegeln und Fensterscheiben war Andy irgendwie geneigt, diese Information ernst zu nehmen, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Gestalten die ersten waren, die sich die Mühe machten, ihm etwas zu erzählen. Und sobald sich dieser Gedanke in seinem Kopf formte, blinkte zugleich ein Warnlämpchen in seinem Geist auf. Vielleicht war das auch nur eine Lüge, ein Köder, den er schlucken sollte. Vielleicht steckten sie alle unter einer Decke und wollten ihm dasselbe antun, was auch Elaine widerfahren war.

„Danke für die Warnung. Also... ich werde mich dann mal fertig machen. Nehmt es mir nicht übel, dass ich mein Zimmer zuhänge, aber ihr wisst ja, Privatsphäre.“

Die Gestalten nickten grinsend und winkten, als er die Vorhänge vor das Fenster schob. Dann sah sich Andy im Zimmer um. Wenn er die Sätze in seinem Notizblock richtig interpretiert hatte, dann konnten die Gestalten in jeder spiegelnden Oberfläche auftauchen. Also sollte er sich vorsichtshalber auch darum kümmern. Es gab zumindest keinen Fernseher in den Räumen, das war ein Vorteil. Während eine achtlos über polierte Messingteile am Bett geworfene Decke keinen Verdacht erregen würde, war ein zugedecktes Fernsehgerät sicherlich merkwürdig.

Dann holte er sich einige der kleinen Flaschen aus der Zimmerbar und trug sie ungeöffnet ins vorbereitete, und vollkommen dunkle Schlafzimmer. In der Finsternis spiegelte sich nichts, und einen Morgenmantel würde er sicherlich auch ohne Licht ausziehen können. Die Flaschen stellte er unters Bett. Dann legte er sich hin und grübelte wieder.

Konnte er auch nur einer Person hier trauen? Warum sah Alice genauso aus wie Elaine? War Elaine wirklich tot? Wenn sie in dieser Gegend gestorben war, dann war es sicherlich nicht verwunderlich, dass niemand auch nur eine Spur von ihrer Leiche finden konnte, aber es blieb immer noch die Frage im Raum, wie Elaine aus einer abgeschlossenen Wohnung verschwinden konnte. War sie nicht genauso wie er mit einem Zug in diese Gegend gekommen?

Die Müdigkeit war in der Dunkelheit und der warmen Bequemlichkeit des Bettes überwältigend. Andys Gedanken begannen sich mehr und mehr von den für ihn wichtigen Fragen zu entfernen und beschäftigten sich plötzlich mit dem hervorragenden Essen, das er in dieser Gegend bisher gekostet hatte, und damit, dass es viel zu schade war, dass Siren – wenn sie denn wirklich so hieß – derart in diese Geschichte verwickelt war. Nach seiner nervenaufreibenden Scheidung vor einigen Jahren hatte Andy sich zwar vorgenommen, in Zukunft die Hände von jeglichen Beziehungen zu lassen, aber eigentlich, warum nicht, es könnte ja sein.

An einem warmen, sonnigen Tag im späten Mai konnte ja nichts Böses passieren. Sechs junge Leute saßen auf einer großen, bunt karierten Decke und hatten offensichtlich viel Spaß bei einem Picknick. Fünf von ihnen kamen Andy irgendwie bekannt vor. Er ging auf sie zu, und als er ihnen nahe genug war, um ihre Gesichter zu erkennen, bemerkten sie ihn und sahen ihn an. Sie teilten sich den verspielt-frohen Ausdruck auf ihren Gesichtern, der jedoch bald ernst und traurig wurde, so synchron, als wären sie eine Person und nicht sechs. Dann kam plötzlich ein kalter Wind auf, peitschte durch die Luft, wirbelte herbstliches Laub durch die Gegend, und dann waren sie fort. Fünf der Gesichter hatte Andy an diesem Abend gesehen, und eine von ihnen war Elaine.

Andy schreckte in der Dunkelheit des Hotelzimmers hoch und ließ sich langsam auf das Bett zurück sinken. Was hatte das zu bedeuten? Er konnte es sich nicht erklären. Abgesehen von einem ungewohnt starken Gefühl der Trauer, das ihn so unerwartet überkam, konnte er jedoch nichts Gefährliches in diesem Traum erkennen. Vielleicht wollte Alice aus einem anderen Grund nicht, dass er träumte. Aber es war spät und er war müde, und er wollte schlafen.

Herbstlicher Nieselregen in der Nacht. Ein junger Mann stieg eine Treppe hinab, in eine U-Bahn-Station. Andys Blick folgte dem Unbekannten wie eine Überwachungskamera. Es war so klar, dass der Unbekannte in den Zug mit dem Tornado-Graffiti steigen würde. Aber im Gegensatz zu Andy zeigte er keine Anzeichen des Unwohlseins. Vielleicht lag es daran, dass er ein wenig angeheitert war. Vielleicht aber auch daran, dass ihn keine seltsamen Geistergestalten in den Fenstern verfolgten. Gut gelaunt verließ der junge Mann den Zug bei der nächsten Haltestelle und begab sich nach oben, ohne sich über fehlende Informationstafeln oder dergleichen zu wundern. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit und einem zufriedenen Grinsen schlenderte er durch die Straßen, umgeben vom Funkeln der winzigen Regentropfen im Licht von Straßenlaternen, die die gesamte Szenerie unwirklich, geradezu magisch erscheinen ließen. Vor einer Kneipe blieb der Unbekannte stehen, und hob fragend den Blick, bevor er schulterzuckend eintrat. Es war das Humpty Dumpty.

Andy wälzte sich unruhig hin und her, als sein Blick dem Fremden weiterhin folgte und das erblickte, was dieser sah. Es war Siren, aber sie stand nicht hinter einem Tresen, sondern auf einer Bühne. Sie sah gut zehn Jahre jünger aus, aber es war unverkennbar sie. Es waren ihr Haar, ihre Augen, aber vor allem ihre Stimme. Und dennoch schien es eine andere Frau zu sein. Ihr Haar floss offen über die Schultern, das funkelnde Kleid wäre in manchen Staaten der Welt Grund für eine Anzeige wegen Unzucht gewesen, und so wie ihre Hände das Mikrophon an den Mund hielten, in das sie ein sinnliches Lied raunte – es war besser, den Blick abzuwenden. Das Publikum und der Fremde, dem Andy gefolgt war, hatten jedenfalls nur Augen für sie, aber Andy sah noch jemand anderen, der auch dem Fremden bald auffiel. Ein großer, kräftiger Mann, mit dunkelblondem Haar und Vollbart, der gewiss nicht nur der Bodyguard der Sängerin war, so wie er sie mit seinen Blicken verschlang. Dazu sah Andy noch ein innig verschlungenes Pärchen und einen Jugendlichen am Ende seiner Teenager-Zeit. Schon wieder bekannte Gesichter aus dem Spiegel und vom Traum mit der Picknick-Szenerie. Nur Elaine/Alice sah er nicht – noch nicht. Der Teenager holte den überraschten Fremden an den offensichtlich äußerst exklusiven Tisch, und schon bald gesellten sich diejenigen dazu, die Andy noch vermisste. Jetzt waren es sieben bekannte Gesichter, zu denen er zum Teil auch Namen hatten, und ein Unbekannter. Verwirrt sah er zu, wie sich die Leute mit dem Unbekannten unterhielten, und wie sie dann gemeinsam die Kneipe verließen.

Beinahe wäre sein Kamera-Blick ihnen gefolgt, aber dann blieb er an einer der Frauen an der Theke hängen, die den Acht offensichtlich nicht im geringsten aufgefallen war. Eine weitere Unbekannte, nein, ein Unbekannter, ein androgyner junger Mann in schwarz. Beinahe hätte Andy ihn für ein Mädchen gehalten, es war vermutlich nur wegen der Dunkelheit in dieser verrauchten Kneipe. Niemand anderer hatte vom Traum-Beobachter Notiz genommen, aber dieser hier schon.

Ach, die kleine Avera ist so berechenbar, aber genau dafür lieben wir sie alle so sehr. Es wäre schade, wenn ihr etwas zustoßen würde, bevor sie ihren Ritter findet. Nicht wahr? Pass ein wenig auf sie auf, würdest du? Ein Sturm wird kommen.“

Die ebenso androgyne Stimme, die mal weiblicher, mal männlicher klang, jagte Andy einen Schauer über den Körper, von dem er nicht sagen konnte, ob es Angst oder Wohlgefühl war. Dann war er wieder wach und starrte in die Dunkelheit. War das die Siren, die er kannte? War das vor zehn Jahren passiert? Aber was hatte Elaine da verloren? Oder war es ihre Doppelgängerin Alice gewesen? Vielleicht sollte er Siren morgen fragen, ob ihr Mann gemeinsam mit diesen Leuten gestorben war oder was er mit der Geschichte zu tun hatte.

Siren. Wieder dämmerte er weg und diesmal drehte sich alles nur um sie, das jüngere Bild von ihr. Ihre Stimme flüsterte ihm verlockende Dinge ins Ohr, während sich ihr Körper viel zu nah an seinem befand. Er hatte den Ehering an ihrem Finger gesehen, warum tat sie das? Ihr Mann würde nichts erfahren, dafür würde sie sorgen, es würde ihr kleines Geheimnis bleiben. Eine kleine, harmlose Abwechslung ohne jegliche Konsequenzen, wen störte das schon? Ihre Nähe machte ihn verrückt, vor allem in Anbetracht der langen Zeit des Alleinseins, aber es wäre nicht richtig gewesen.

„Wenn dir darin etwas Unangenehmes zustößt, dann könnte das morgen früh Konsequenzen haben. Schlimmstenfalls bist du tot“, hallte ihm eine Frauenstimme durch den Kopf, die er zwar noch nie gehört hatte, aber von der er sich sicher war, dass sie Elaine oder Alice gehören musste.

Vielleicht war das ja ein Test. Er würde sich nicht reinlegen lassen. Also drückte er Siren vorsichtig, aber bestimmt von sich weg und erklärte ihr ruhig, warum es besser wäre, wenn es nie zu all dem kommen würde, wovon sie flüsterte. Weil manche Dinge wichtiger waren als Lust. Mit einer hochgezogenen Augenbraue verschwand sie aus seiner Nähe, seinem Blickfeld, und für einen Augenblick bereute er es, sich nicht auf ihr Angebot eingelassen zu haben. Aber dann spürte er nur ein kräftiges Schulterklopfen und begriff, dass es tatsächlich eine Finte gewesen war. So viel dazu.

Wieder war Andy wach, und wieder war es immer noch Nacht. Also schloss er erneut seine Augen und dämmerte langsam weg. Irgendwann, irgendwie, würde sich alles aufklären. Und bis dahin würde er wohl mitspielen müssen bei dieser Geschichte. Was auch immer.

Ihm war heiß, so heiß, wie vor so langer Zeit, als er noch eine ihn liebende Ehefrau hatte und keine Geldsorgen oder andere Männer in ihr Leben eingedrungen waren. Hier hatte er diejenige, die er vom ersten Augenblick an begehrt hatte und für die er beinahe gestorben war. Sie war ein wenig verstimmt gewesen über den Widerstand dieses Grünschnabels, mit dem sie nur bedingt gerechnet hatte, aber eigentlich war es zu erwarten gewesen. Der Bote machte keine Fehler. Jedenfalls war es an ihm gewesen, seine Geliebte darüber hinweg zu trösten, und er war der felsenfesten Überzeugung, dass es ihm gelungen war. Vielleicht war es gar keine Willensstärke gewesen, sondern schnöde Angst. Oder er war am Ende doch nicht so sehr an Frauen interessiert wie er dachte. Gründe gab es jedenfalls mehr als genug. Aber eigentlich war es nicht wichtig. Sie hatten einander, die perfekten Verkörperungen von Mann und Frau – jeder wusste es, und jeder beneidete sie darum.

Plötzlich knickte ihr Kopf in einem seltsamen Winkel nach hinten, ein Schwall warmen Blutes schoss aus ihren geöffneten Lippen, und ihr Körper erschlaffte. Zuerst dachte er, dass es irgendein Scherz sein musste. Dann dämmerte ihm, dass sie tot war. Jemand hatte sie umgebracht. Da sah er nur noch rot. Sein Körper tobte, wütete, schlug aus nach dem Schatten, der ihn seines kostbarsten Schatzes beraubt hatte. Doch plötzlich war da keine Bewegungsfreiheit mehr. Etwas zerdrückte seinen Hals, er bekam keine Luft. Rot wurde langsam zu schwarz. Es gab nur einen, der so stark war. Nur einen. Aber wie konnte das sein, er war doch schon lange tot?

Als das Klingeln des Telefons durch den Raum fuhr rechnete Andy nicht mehr damit, lebend aufzuwachen. Es war wie der rettende Hahnenschrei in einer Gespenstergeschichte. Ihm war kalt und er schlotterte trotz der warmen Decke um seinen Körper. Zuerst lag er wie paralysiert auf dem Bett, den Körper an seine Unterlage gepresst, die Hände ins Laken gekrallt, und konnte nicht mal den kleinsten Finger dazu bringen, sich zu bewegen. Beim fünften Klingeln schließlich konnte Andy seinen rechten Arm losreißen und griff mit zitternden Fingern nach dem Telefonhörer.

Die freundliche Frauenstimme vom vorangegangenen Abend flötete ihm ein „Guten Morgen!“ ins Ohr und informierte ihn darüber, dass es sieben Uhr war. Ihre Frage, ob er ein Frühstück wünschte, beantwortete er mit einem geistesabwesenden Ja und bedankte sich für die Information, dass seine Kleidung in wenigen Minuten zusammen mit dem Frühstück angeliefert werden würde. Dann legte er den Hörer auf die Gabel und setzte sich langsam auf.

Vorsichtig, ein wenig wankend, ging er zum Fenster und schob die Vorhänge auseinander, um etwas mehr Licht zu haben und sich erneut zu vergewissern, dass er nicht tot war. Er war zweifach erleichtert, als das durch die beständigen Herbstwolken dringende Licht erst ihn traf, und dann das Zimmer flutete. Es schien alles in Ordnung zu sein, und es waren keine seltsamen Gestalten im Fensterglas zu sehen. Die Anspannung des Schreckens verließ langsam seine Glieder und er streckte sich, um die letzten Reste davon zu vertreiben.

Im Badezimmer zuckte er zusammen, als Alice ihn vorwurfsvoll aus dem Spiegel anblickte. Sie schrieb daraufhin: „Ich habe dir doch gesagt, betrinke dich. Du wolltest nicht hören.“

Andy rollte die Augen: „Es ist doch nichts passiert, nur ein Alptraum, weiter nichts.“

Alice zog eine Augenbraue hoch, antwortete aber nichts darauf. Andy sah sie an, sie sah ihn an. Sie standen eine Weile herum, er vor dem Spiegel, sie darin. Dann räusperte er sich: „Ich wäre jetzt gern ungestört, wenn du verstehst, was ich meine. Privatsphäre. Oder muss ich hier ein Handtuch drüber hängen?“

Sie kicherte mit einem schelmischen Glitzern in den Augen: „Ich hatte gestern schon das Vergnügen, schon vergessen? Aber wenn du unbedingt darauf bestehst, gehe ich wieder. Vergiss dein Tagebuch“, sie strich die letzten Worte und ersetzte sie mit, „deinen Notizblock nicht.“ Dann hauchte sie ihm einen Kuss zu und spazierte mit hochgezogener Nase geziert aus dem Spiegel.

Verdattert und auch ein wenig wütend blieb Andy stehen. Was bildeten sich diese komischen Gestalten eigentlich ein? Aber dann atmete er tief durch und widmete sich stattdessen lieber seiner Morgentoilette. Komisch, seinen Bartwuchs hatte er weniger stark in Erinnerung. Als ob zuvor eigentlich kein einzelner Tag, sondern zwei oder drei an ihm vorbeigezogen wären.

Als er wieder aus dem Badezimmer trat, klopfte es dezent an der Tür. Der Zimmerservice brachte ihm sein Frühstück und seine Kleidung.

Als Andy dem jungen Burschen ein Trinkgeld geben wollte, sah dieser ihn verdutzt an und winkte mit einem Lächeln ab: „Das... kann ich leider nicht annehmen. Aber danke für die Absicht.“

Der Page verschwand wieder und Andy steckte den Schein mit einem Schulterzucken wieder in seine Brieftasche.

Das Frühstück war wie erwartet hervorragend, allerdings erinnerte Andy sich an Alices Bemerkung im Badezimmer und beschloss, die Zeit gleich zu nutzen und einen Blick in sein Notizbuch zu werfen. Er war nicht überrascht, darin die Beschreibung seiner Träume zu lesen, ebenso wie einige seiner Gedanken dazu. Das Geschriebene verlor nach und nach den Charakter eines Berichtes und ging tatsächlich eher in ein Logbuch oder gar ein Tagebuch über. Wieder stellte er fest, dass es von manchen Personen, die er entweder bereits persönlich getroffen hatte oder die in seinen Träumen vorkamen, bis zu drei verschiedene Versionen gab. Er glaubte zuerst, dass diese Versionen vielleicht irgendeinen zeitlichen Bezug zueinander hatten – so war die Siren, die er getroffen hatte, deutlich älter als die aus seinen Träumen. Aber in seinen Träumen war Siren getötet worden, zusammen mit ihrem Geliebten oder Ehemann, und hier lebte sie. Und während er Elaine in zwei verschiedenen Situationen in Gesellschaft der beiden gesehen hatte, hatte die Gestalt, die sich Alice nannte – Andy weigerte sich, sie als Geist zu bezeichnen – und die Siren, die er in der Kneipe getroffen hatte, nichts miteinander zu tun. Oder zumindest gehörten sie nicht so eng zusammen wie die anderen Gruppen.

Andy las weiter. Da, zwischen dem letzten Traum, den er in dieser Nacht hatte, und seinem endgültigen Erwachen, ausgelöst durch den Weckruf, das mit „Tag 2“ vom Bisherigen abgesetzt war, lag noch ein weiterer Absatz, ein Einschub in einer anderen Schrift, die Andy sehr an Elaines Schrift erinnerte, aber in kleinen Nuancen anders war. Das musste Alice gewesen sein.

Es war einmal ein Königreich und dessen Spiegelbild. Beide hatten schreckliche Verluste zu beklagen, beiden waren König und Königin gestorben. Nach der angemessenen Zeit der Trauer übernahmen auf beiden Seiten ihre Kinder die Bürde der Regentschaft, die Kronprinzessin auf der einen Seite und der Kronprinz im Spiegelbild, während die jüngeren Geschwister – Bruder der Prinzessin, Schwester des Prinzen – sich weiterhin dem Leben des Müßiggangs widmen konnten. Der Prinzessin stand ihr treuer Agent zur Seite und der Prinz konnte auf die Unterstützung seiner Kanzlerin zählen. Und so schien sich alles wieder einzurenken, solange bis die Thronfolger ihr Gegenstück finden und die Reiche erneut von König und Königin regiert werden würden. Es wurde einmal prophezeit, dass die Prinzessin und der Prinz beide den Engel der Liebe finden mussten, wenn sie ihr Schicksal erfüllen sollten. Ohne ihn wären beide verloren, und die Reiche würden vergehen ohne König und Königin. Aber beide waren noch jung, kaum dem Kindesalter entwachsen, sicherlich hatten sie noch Zeit.

Doch was nur wenigen Eingeweihten bekannt war, der Frieden beider Reiche war brüchig. Ein uralter Fluch lastete auf beiden Seiten, der die Königsfamilien und ihre Ritter entzweite und sie in einem unaufhörlichen Schattenkrieg gefangen hielt. Während das gemeine Volk sein ruhiges Leben führen konnte, führten die Agenten beider Reiche einen nimmer endenden Kampf gegen ihre Spiegelbilder. So war es seit Anbeginn der Zeit, und diese Blutopfer hielten beide Seiten im Gleichgewicht, sorgten für das Überleben beider. Würde eine der Waagschalen jemals kippen, dann würde erst die eine Seite untergehen, und damit auch die andere vergehen, denn alleine können sie nicht sein. Lange Zeit konnte dieser finstere Pakt bewahrt werden, doch etwas war passiert, das dieses Gleichgewicht ins Wanken brachte. Der Kronprinz des Spiegelbildes tat einen unerlaubten Schachzug, holte sich einen Helfer von Außen. Seine Macht wuchs, und das Wahre Reich begann zu bröckeln. Die Wächter des Gleichgewichts versuchten, den Helfershelfer des Prinzen zu schwächen, ihn zum Straucheln zu bringen, ihn seiner neuen Verbündeten zu berauben, doch alles war umsonst. Er lernte zu schnell, wurde zu mächtig. Nun ist er mehr als sie alle zusammen und der Prinz hat beinahe gewonnen.

Der Prinzessin blieb keine andere Wahl, als selbst den Boten auszusenden, um das Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen. Es wird sich zeigen, ob der Bote seiner Bestimmung treu geblieben war oder nicht, ob er den Richtigen gefunden hatte, oder beide Reiche durch den Sieg des Prinzen zum Untergang verdammt sind.

Andy saß vor diesem Text und fragte sich, was das alles sollte. Das konnte doch nur ein Scherz sein! Wollte Alice ihm ein Märchen auf die Nase binden? Was für ein Unsinn! Und vor allem interessierte ihn das alles nicht ein bisschen. Er war wegen Elaine hier, um zu erfahren, was mit ihr geschehen war, und sollte sie tatsächlich tot sein, dann ihren Eltern die traurige Kunde überbringen, damit sie endlich Gewissheit hatten und sich Schritt für Schritt von ihrer Tochter lösen konnten. Dieser Blödsinn half ihm dabei nicht weiter. Es war vermutlich wesentlich sinnvoller, sich noch einmal mit Siren zu unterhalten. Sie hatte ihm zwar nicht viel gesagt, aber ihre wenigen Worte waren wesentlich eindeutiger und klarer gewesen, als dieses merkwürdige Gekritzel.

Für einen Moment drängte sich ihm wieder ein Teil seines Traums ins Bewusstsein, der androgyne junge Mann aus der Kneipe, der von einem Sturm gesprochen hatte. Ein merkwürdiger Zufall. Oder hatte womöglich einfach nur diese Alice ihre Finger im Spiel, die sich offensichtlich sehr viel Mühe gab, damit er das tat, was sie von ihm wollte. Auch wenn er sich nicht wirklich darüber im Klaren war, was sie genau wollte. Sollte er etwa gegen diesen Helfer des Prinzen antreten? Ihn vielleicht sogar töten? Er hatte das ungute Gefühl, dass Alice und die anderen Gestalten sich bestens aufs Töten verstanden. Nur dass er sich nicht unbedingt für einen Killer hielt, auch wenn er in der Lage war, mit Waffen umzugehen. Es waren immer noch Menschen, die Menschen töteten, und im Augenblick würde er sogar eine Wette, die auf Alice als Elaines Mörderin setzte, annehmen. Es gab immer noch zu viele Unbekannte. An einem weiteren Gespräch mit Siren führte kein Weg vorbei.

Andy zog sich seine Kleidung über, nahm seine Tasche und begab sich erneut nach unten, diesmal jedoch über die Treppe. Aus irgendeinem Grund war ihm der Aufzug suspekt geworden, auch wenn es ein ganz normaler Tag zu sein schien und er sich eigentlich keine Sorgen machen musste. Der Angestellte fragte ihn, ob er noch länger verweilen oder abreisen würde, und Andy wählte die erste Option. Dann fragte er nach einem Taxi – und oh Wunder, es gab sie doch! Eine Viertelstunde später hielt ein Fahrzeug vor dem Hotel, nahm Andy als Passagier auf und brachte ihn zum Humpty Dumpty.

Der Träumer und der Schnüffler

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