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EPISODE 2

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2A. INNEN/AUSSEN – HAUS/AUTO – TAG

„I heard that you like the bad girls, Honey, is that true?”

Die Musik meines Handyweckers riss mich aus dem Schlaf. Das Display zeigte 7:30. Viel zu früh. Ich zog die Bettdecke über meinen Kopf. In den letzten Tagen hatte ich nie einen Fuß vor elf vor das Bett gesetzt. Noch halb im Schlaf schaltete ich das Lied aus und quälte mich aus dem Bett. Ich öffnete die Türen meines Kleiderschranks. In der vergangenen Woche hatte ich kaum klar denken können, noch weniger hatte ich mir Gedanken über mein Aussehen gemacht. Mit ein bisschen Make-Up brachte ich es fertig, meinem Gesicht eine halbwegs gesunde Farbe zu verleihen. Beinahe war ich stolz auf mich. Ich sah fast normal aus. Wie früher. Ich würde Jürgen schon davon überzeugen können, dass das hilflose Mädchen von gestern mit dem verschmierten Make-Up und den Tränen in den Augen eine andere gewesen war. Ein böser Traum. Oder zumindest im Ausnahmezustand.

Die Küche war leer. Meine Mutter war schon weg. Ich stellte das Radio an, um die Stille zu übertönen. Am Kühlschrank hing ein Blatt Papier. Ich warf einen Blick drauf. Es war ihre alberne Lebenskurve. Jeden Tag trug sie fein säuberlich darauf ein, wie es ihr ging. Die y-Achse zeigte den Monat in Tagen an und auf der x-Achse gab es drei Smileys, einer lächelte, einer hatte einen Strichmund und einer hatte die Mundwinkel nach unten verzogen. Irgendwo dazwischen markierte meine Mutter jeden Morgen einen sogenannten Stimmungspunkt. Heute lag er irgendwo zwischen dem lächelnden und dem Strichmundsmiley. Ich fragte mich, was diese Aufzeichnungen für einen Sinn haben sollten. Hätte ich eine Lebenskurve, so wäre sie seit Jahren im Sinkflug. Wie ein abstürzendes Flugzeug, das immer weiter an Höhe verliert, sich noch eine Weile in der Luft halten kann, bis es schließlich in den Abgrund gerissen wird.

Als ich die Wohnung verließ, wartete Jürgen schon vor der Tür in seiner Protzkarre. Er hupte. Er hatte es wohl eilig. Während der Fahrt trommelte er mit seinen Fingern unruhig auf dem Lenkrad. Er tat das immer, wenn er unter Druck war. Ich wusste, dass er zurzeit mit dem Dreh für eines seiner unzähligen Projekte beschäftigt war. Ich hatte es in der Zeitung gelesen. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe. Zwischen uns herrschte Stille. Einer dieser stillen Momente, wo man besser den Mund hält, denn alles, was man sagen würde, wäre sowieso nur falsch.

„Macht‘s dir was aus, wenn wir bei mir im Büro frühstücken?“ brach Jürgen schließlich das Schweigen. „Wo arbeitest du momentan?“ fragte ich. Hoffentlich fiel ihm der desinteressierte Unterton in meiner Stimme nicht allzu sehr auf, aber es fiel mir schwer allzu freundlich zu sein. „In Köln Ossendorf. Für eine neue Produktion wurde ein ganzes Studio für drei Monate angemietet. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.“ Ich nickte. „Bist du deshalb wieder zurück?“ „Ja, unter anderem.“ Konzentriert blickte er auf die Straße, als er das sagte. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Weil er ganz genau wusste, dass er mich im Stich gelassen hatte. Sein einziges Kind. Zumindest das einzige, von dem ich wusste. Vielleicht hatte er ja noch ein paar uneheliche Kinder, die er geheim hielt. Würde zu ihm passen. Ich hatte nicht einmal Lust, zu fragen, um welchen Film es diesmal ging. Oder überhaupt etwas zu sagen. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Wir bewegten uns auf dünnem Eis und ich wusste genau auf welches Thema wir zusteuerten. Schritt für Schritt. Doch ich würde behutsam über das Eis gleiten, das Einbrechen so weit herauszögern, wie es möglich war. Stumm blickte ich aus dem Fenster.

„Und wie sieht es aus? Bist du dir klarer darüber geworden, wie du in den nächsten Monaten deine Zeit nutzen willst?“ fragte Jürgen schließlich in die Stille hinein. Schneller als gedacht, bekam das Eis seine ersten Risse. „Nein, keine Ahnung. Ist doch auch egal“, fügte ich dann hinzu. Den Trotz in meiner Stimme hörte sogar ich. Jürgen holte tief Luft. „Hör mir für einen Augenblick zu, ohne mich zu unterbrechen, in Ordnung? Ich weiß, dass du seit einer Zeit gewisse…“ Er zögerte für einen Moment. „… Probleme hast. Und ich habe mich zu wenig um dich gekümmert. War weg. Ich verspreche dir, dass ich mir ab jetzt mehr Zeit für dich nehme. Wirklich. Ehrenwort.“

Er warf einen Blick in den rechten Seitenspiegel. „Für den Dreh bin ich schon verpflichtet. Alle Verträge sind unterschrieben, du weißt schon.“ Plötzlich überquerte er zwei Spuren gleichzeitig. Ohne den Blinker anzumachen. Aus irgendeinem Grund machte mich das tierisch sauer. Aber ich sagte nichts. „Bei der Besetzung ist eine Schauspielerin überraschend abgesprungen. Und jetzt stehen wir quasi mit leeren Händen da. Die Proben sind schon morgen, übermorgen beginnen die Dreharbeiten. Als ich dich gestern so gesehen habe“, er hatte meinen traurigen Anblick des Vortages also keinesfalls vergessen. „ … hatte ich die Idee, dass du für die Schauspielerin einspringen könntest. Ich habe sofort den Produzenten angerufen und ihm ein Foto von dir geschickt. Es war nicht einfach ihn rumzukriegen, die eigentliche Besetzung war größer als du und braunhaarig, aber letztendlich hat er zugestimmt. Ein bisschen Druck meinerseits war da natürlich auch nötig. Aber ich bin schließlich der Regisseur. Ohne mich können sie das Projekt genauso wenig durchbringen. Und du bist meine Tochter. Du könntest Privatunterricht am Set bekommen. Dein Abitur genau um die Zeit machen, zu der du es auch normalerweise machen würdest. Wäre das nicht toll? Ich weiß, es wird eine komplett neue Erfahrung, aber ich glaube der Abstand wird dir gut tun. Andere Mädchen würden davon träumen, so eine Chance zu bekommen. Und eine Daily Soap ist ein interessantes Format, auch wenn man das beim ersten Hören wahrscheinlich nicht sofort denken würde. Und dadurch, dass jeden Tag 25 Minuten Spielzeit gedreht werden müssen, wirst du fast jeden Tag eingesetzt werden. Und ganz nebenbei, es ist die allererste Daily Soap, bei der ich Regie führe. Deswegen bin ich selbst auch sehr gespannt, wie es wird. Der Sender konnte sogar ein paar Newcomer überzeugen mitzuwirken.“

„Aha. Wen denn?“, fragte ich teilnahmelos, doch Jürgen ignorierte meinen gelangweilten Tonfall und fuhr unbeirrt fort. „Zum einen Olivia Ahlen. Ich kenne sie zwar noch nicht persönlich, aber alles was ich soweit gehört habe, klingt vielversprechend. Und natürlich Max Riekel. “ Ich runzelte die Stirn. Den Namen hatte ich noch nie gehört. „Keine Ahnung, wer das ist.“ „Nicht?“ ich hörte die Verwunderung in seiner Stimme. „Aber du wirst ihn noch früh genug kennenlernen, das kann ich dir versprechen. Wenn ich mich recht erinnere, hat deine Rolle eine kleine Lovestory mit ihm.“ Ich runzelte die Stirn. „Klingt ja … interessant.“ Jürgen überging meine letzte Bemerkung. „Er war letztes Jahr sogar für den Nachwuchspreis nominiert. Aber wie auch immer, ich weiß, es wird eine komplett neue Erfahrung, aber ich glaube der Abstand wird dir gut tun. Und wenn dir etwas nicht passt, kannst du zu mir kommen und wir klären das dann. Was hältst du davon, du schaust dir gleich erst mal alles an? Dann kannst du dir ein Bild davon machen und wenn du willst, bist du dabei. Im Cast. Also, was denkst du darüber, in einer Daily Soap mitzuspielen, so als richtige Schauspielerin?“ Er schaute zu mir herüber. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie er an jenem Tag, als ich ihn das letzte Mal in unserem Haus gesehen hatte, hektisch seine Koffer gepackt hatte. Unachtsam Socken, Pullover und Zahnbürste in seinen Koffer gestopft hatte, ohne wirklich hinzuschauen. Die Eile in seinem Gesicht und der schuldbewusste Blick. Mit meinem Hasen ihm Arm hatte ich barfuß auf den Holzdielen gestanden und ihn an seinem Ärmel gezogen. „Papa, wo gehst du hin?“ hatte ich gefragt, immer und immer wieder. „Papa muss einen Film drehen, meine Bienchen“, war seine Antwort gewesen. Er hatte weggeschaut, als er das sagte. Sein Koffer war so voll gewesen, dass er kaum den Reißverschluss zugezogen bekam, dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Auf meinen Zehenspitzen hatte ich aus meinem Zimmerfenster geblickt und gerade noch sehen können, wie ein Taxi davon fuhr. Niemand sagte mir, dass er nicht mehr zurückgekommen würde, aber ich konnte es spüren. Ich konnte mir selbst nicht erklären warum. Aber man merkt solche Dinge als Kind. Jeden Tag war meine Wut ein kleines Stück größer geworden, darüber, dass er mich allein ließ, um irgendwo einen Film zu drehen. Den leeren Stuhl am Küchentisch. Wie Mamas Bett viel zu groß für sie allein gewesen war und ich immer zu ihr unter die Bettdecke gekrochen war. Fortan war das unsere Familie gewesen. Die Fotoalben waren gefüllt mit Fotos von uns zweien. Manchmal dachte ich traurig, dass ich keinen Vater hatte. Zumindest war nichts von einem zu sehen. Er schien immer so weit fort. Die Postkarten, auf deren Rückseite Fotos von Ländern abgedruckt waren, von denen ich noch nie im Leben etwas gehört hatte, schienen genauso fremd wie er. Und jetzt saß er hier vor mir und meinte über mein Leben bestimmen zu können.

„Luise?“, hörte ich Jürgens fragende Stimme. „Das war immer deine Welt, nicht meine.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht erstarrte augenblicklich. Er hat das verdient, dachte ich. Er ist doch selbst schuld. Ich hörte, wie er schwer ausatmete. „Luise, ich will dir nichts vorschreiben, mach mit deinem Leben, was du willst“ sagte er mit leiser, gepresster Stimme. „Allerdings kann ich dir versichern, dass ich nicht ewig dein Konto auffüllen werde, damit du das Geld raushauen kannst, wie es dir gefällt. Du wirst nicht ewig jung bleiben und irgendwann findest du dich ohne Schulabschluss oder eine vernünftige Ausbildung wieder und was dann? Ich will dir nicht dabei zusehen, wie du dein gesamtes Leben schon jetzt in die Tonne trittst, als wäre es nichts wert. Du bist erst 17 …“

„In den ersten 17 Jahren warst du ja erstaunlich oft anwesend“, warf ich dazwischen. Ich benahm mich nicht wie die unberührbare, kühle Erwachsene, die ich mir vorgenommen hatte zu sein. Irgendwo in mir war noch immer das kleine Mädchen, das nicht verstehen will, dass ihr Vater die Familie verlassen hat. Doch vielleicht war ich auch dabei, eine der letzten Personen, denen ich etwas bedeutete, von mir weg zu stoßen. Ich schloss die Augen. Die Kälte des eisigen Wintertages schien jede Faser meines Körpers zu durchströmen.


2B. RÜCKBLENDE – INNEN – JUGENDZENTRUM – NACHT

Alkohol durchströmte mein Blut. Meine Fingerspitzen fühlten sich seltsam stumpf an. Es war Freitagabend. Anfang Juni, vor wenigen Monaten war ich sechzehn geworden. Wir waren im einzigen Jugendzentrum, was unsere Kleinstadt zu bieten hatte auf einer Vorfi. Es waren die gleichen Gesichter wie immer, aber es war eine super Möglichkeit sich gedankenlos zu besaufen. Es waren die wenigen Stunden, in denen man tun und lassen konnte, was man wollte und nachher dem Alkohol die Schuld in die Schuhe schob. Die Momente, in denen man den Stress hinter sich lassen konnte, die Sorgen, die einen quälten, die Selbstzweifel vergessen, seinem eigenen Leben entfliehen – für ein paar mickrige Stunden. Und doch schienen diese wenigen Stunden auszureichen, um ein Maximum an Spaß zu haben und sich selbst aufzutanken, um die nächste mit Stunden vollgepackte Schulwoche zu überstehen. Denn das machte G8, die Schulverkürzung auf zwölf Jahre, mit unserer Zeit. Sie nahm sie uns. Schlicht und einfach. Leistung war alles, was zählte. Und wenn man die nicht zeigte, dann konnte man nichts, war nichts. War selbst schuld. Wir fühlten uns eingeengt, der Luft zum Atmen genommen. Doch der Freitagabend gehörte nicht dem Schulministerium oder unseren zukünftigen Arbeitgebern, sondern nur uns. Je mehr Stress es in der Schule gab, desto mehr wurde getrunken und desto extremer waren die Abstürze.

An dem Abend trugen Gianna und ich die gleichen Outfits – ein weit ausgeschnittenes weißes Spitzenshirt und darüber einen Pailettenrock- für die wir unser letztes Taschengeld geopfert hatten. Wir standen am Kicker und spielten Jungs gegen Mädchen. Der kleine Ball flog zwischen uns hin und her. Keiner konnte mehr richtig zielen. Wir alle waren schon zu betrunken. Nach dem Spiel, was wir haushoch verloren, ließen wir uns von den Jungs zwei Tequila Shots ausgeben. Gianna zog mich in eine Ecke. „Wie wär‘s, wir spielen ein Spiel?“ fragte sie mich ein wenig lallend. „Was für ein Spiel?“ fragte ich. „Das Punkte-Spiel“, sagte Gianna geheimnisvoll. „Davon hab ich im Internet gelesen. Es werden Punkte verteilt. Für Flirten gibt es einen Punkt, für Küssen zwei und alles darüber klären wir, wenn es dazu kommt.“ Sie kicherte.“ Bist du dabei?“ „Klar.“ Gianna lächelte zufrieden. „Auf Ex, Lu?“ fragte sie und hielt ihren Shot in die Luft. „Aber sowas von!“ Ich stieß mein Glas kurz an ihres, streute eilig Salz auf meine Hand und würgte dann den Inhalt hinunter. „Los geht’s“ rief Gianna. „Die Spiele sind eröffnet!“ Sie grinste mir noch kurz mit einem verschwörerischen Lächeln zu und verschwand dann in der Menge. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Ich bestellte mir einen Erdbeerlimes, den ich auch so schnell es ging runterkippte. Und danach noch einen Jägermeister, nur zur Sicherheit. Ich sah Chris an der Wand neben der Tanzfläche lehnen. Zielgerichtet ging ich auf ihn zu und versuchte mich möglichst lässig neben ihn zu stellen. „Hey“, sagte ich. „Coole Party, was?“ „Ja, find‘ ich auch.“ Er nahm einen Schluck Bier aus der Flasche, die er in der Hand hielt. Als er aufblickte, biss ich auf meine Lippen und lächelte ihn an. Ich hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass das der ultimative Flirttrick sei. „Darf ich das was fragen?“ Ich versuchte so unschuldig wie möglich zu klingen. „Klar“, antwortete Chris und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Einen kurzen Moment zögerte ich, aber ehe ich genauer darüber nachdenken konnte, waren die Worte schon über meine Lippen gekommen. „Hast du Lust mich zu küssen?“ Er grinste. „Direkt, aber steh‘ ich drauf.“ Zwei Minuten später lehnten wir draußen an der Wand und küssten uns.

Eine halbe Stunde später trafen Gianna und ich uns in der Toilettenkabine. Stürmisch umarmte sie mich. Alles schien sich zu drehen. „Und wie viele hast du?“ „Bisher vier.“ Ich musste daran denken, wie einfach die Sache doch gewesen war. „Hey“, hatte ich zu einem Jungen an der Bar gesagt, den ich vorher noch nie gesehen hatte. „Lust rumzumachen?“ Und schon lagen seine Lippen auf meinen. Bei zwei weiteren war es genau dasselbe Spiel gewesen. „Nicht schlecht, meine Liebe“, sagte Gianna anerkennend. „Das macht –Trommelwirbel-vier Mal zwei, also insgesamt acht Punkte für die beste Freundin der Welt, Lu!“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. „Also ich hab bisher nur mit zwei Typen rumgemacht. Aber jetzt halt dich fest, bei einem der beiden ist der Mund nicht das einzige, was ich geküsst habe!“ Sie sah mich vielsagend an. „Was?“ war alles was ich rausbrachte. Ich konnte es nicht glauben, ihre Worte löste in mir ein unwohles Gefühl aus. Ich hatte nicht gedacht, dass sie so weit gehen würde. „Ich weiß, ich weiß“ kommentierte sie kichernd meinen ungläubigen Gesichtsausdruck. „Du glaubst gar nicht, wie komisch das ist, aber dafür bekomme ich mindestens zehn Punkte, oder nicht?“ Sie zählte an ihren Händen ab. „Zwei mal zwei für Rummachen und einmal zehn für du weißt schon“ Sie gluckste. „Damit liege ich eindeutig vorne. Zwölf Punkte.“ Sie streckte die Arme in die Luft. „Also Lu, leg dich ins Zeug oder der Abend geht an mich.“ Nachdem wir die enge Toilettenkabine verlassen hatten, steuerte Gianna taumelnd auf die Bar zu und bestellte sich einen Vodka Energy. Erst da fiel mir auf, wie betrunken sie schon war. Sie musste mehr Alk intus haben als ich. „Warum trinkst du so viel? Gianna lass das!“ Ich versuchte ihr das Glas aus der Hand zu reißen. Aber sie hielt so sehr daran fest, wie ein Baby seine Nuckelflasche. „Ich hab Stress Zuhause, lass mir jetzt die Ablenkung und misch‘ dich nicht in mein Leben ein. Ich weiß schon, wie viel gut für mich ist.“ So zickig reagierte sie sonst nie. Ich ließ von ihr ab.

Später sah ich sie mit einem Typen, den ich nicht kannte und sie auch nicht, da war ich mir ziemlich sicher, auf der Tanzfläche. Sie tanzten so eng verschlungen, dass man kaum erkennen konnte, wo ihr Körper endete und seiner anfing. Irgendwann zog er sie an der Hand mit sich und sie verschwanden von der Bildfläche. Ich wusste nicht, was ich davon denken sollte. Am liebsten wäre ich ihr hinterhergerannt und hätte sie von ihm fortgezogen. Aber das tat ich nicht. Ich blieb einfach stehen. Wie eine Statue. Aber in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auf einmal merkte ich, dass Sven neben mir stand. „Auch was?“ Er hielt mir seine halbleere Flasche hin. Ich schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung bei dir?“ „Ja schon, es ist nur“, setzte ich an. „Gianna und ich haben dieses Spiel gespielt.“ „Was für ein Spiel?“ fragte Sven und trank einen Schluck Bier. „Wer mit mehr Typen rummacht, bekommt so und so viele Punkte. Vielleicht war es eine dumme Idee. Und jetzt ist sie verschwunden und ich hab keine Ahnung wo sie ist.“

Ich fragte mich, warum ich so ehrlich war. So war ich sonst nicht. „Verstehe. Und jetzt hast du Angst zu verlieren?“ Ich lachte. „Das habe ich doch längst.“ Sven streckte mir seine Hand entgegen. „Tanzen? Komm zur Ablenkung“, fügte er hinzu, als er meinen wenig begeisterten Blick sah. Als die ersten Klänge von Paul Kalkbrenners „Sky And Sand“ aus den Boxen drangen, ergriff auch mich die Magie der Musik. Die Lichter verschwammen vor meinen Augen zu einem großen bunten Lichtermeer. Die dumpfen Klänge des Basses trommelten auf uns ein und wir schwangen die Arme in die Luft. Ich schloss die Augen. Der Bass war so tief und laut, dass er sich anfühlte, als sei es mein Herzschlag. Bumm, bumm, bumm. Wenn das Leben war, dann war es verdammt gut. Irgendwann stand ich ganz allein mit Sven da, die meisten anderen hatten sich schon auf den Weg nach Hause gemacht oder knutschen herum. Niemand bemerkte uns. Ich fühlte mich gut, auf eine seltsame Weise, benommen von dem Alkohol. Ich merkte, wie Sven meinen Nacken mit Küssen bedeckte und wie er leise stöhnte. Ich wünschte mir, er würde nie wieder damit aufhören und wir würden für immer in diesem bestimmten Moment verharren. Doch so sollte die Nacht nicht enden. Mit der einen Hand stellte er sein Bier auf den Boden und die andere streckte er nach meiner Hand aus und zog mich mit sich. „Wo gehen … wir hin?“ nuschelte ich. „Pscht“ raunte er und hielt seinen Finger vor meine Lippen. „Ich weiß, wie du dir ganz schnell noch ein paar Punkte dazu verdienen könntest.“ Ich nickte und musste kichern. Vielleicht hatte ich ja doch noch nicht verloren. Ich durfte Gianna schließlich nicht zu sehr nachstehen.

Es war, als wollten wir eine endlos lange Spirale hinaufklettern. Doch was war das Ziel? Wohin kletterten wir?


2C. INNEN/AUSSEN – AUTO/FILMWELTEN STUDIOS – TAG

Auf diese Frage hatte ich jetzt eine Antwort. Hätte ich sie damals auch nur im Geringsten erahnt, dann hätte ich alles anders gemacht. Dann hätte ich mich an jenem Abend nicht auf dieses dumme Spiel eingelassen und die Geschichte hätte ein anderes Ende gehabt. Nein, es gäbe überhaupt kein Ende. Wahrscheinlich säße ich jetzt kichernd neben Gianna in der Schule anstatt neben Jürgen im Auto, der mich überreden wollte in irgendeiner komischen Daily Soap mitzuspielen. Was dachte Jürgen sich überhaupt mir ein solches Angebot zu machen? Er hatte vorher noch nie mit mir über seine Filmwelt gesprochen. Vielleicht, weil er dachte, dass ich sie für das Ende unserer Familie verantwortlich machte. Ihm war sicher der Schrecken den Rücken hinunter gelaufen, als er gehört hatte, was passiert war, dass er mich um Haaresbreite nie wieder gesehen hätte und sich statt Worte für seine Siegesrede beinahe Abschiedsworte zu meiner Beerdigung ausdenken hätte müssen. War ihm dann aufgefallen, dass es nichts, aber auch gar nichts gab, was er hätte sagen können? Hatte es ihn so erschreckt, was er am Telefon gehört hatte, dass er sich entschieden hatte, doch wieder in mein Leben einzudringen?

Ich sah aus dem Fenster. Schaute den Menschen zu, die draußen vor dem Fenster an mir vorbeizogen. Männer mit Aktenkoffern und abgehetzten Gesichtern, die im Eiltempo den Bürgersteig entlang rasten, Studenten auf Fahrrädern, viel zu dicht fuhren sie an den Autos vorbei und Mofas, die sich an den anderen Autos vorbeischlängelten, als handele es sich um einen Hindernisparcours. Sie alle schienen ein festes Ziel vor Augen zu haben. Hatte ich je eines gehabt? Ich suchte in meinem Kopf, aber es fiel mir nichts ein, für das ich mich je eingesetzt hatte, für das ich alles gegeben hatte. Warum gelang das allen, außer mir? Was machte ich falsch? Was war falsch mit mir? Es war nicht das erste Mal, dass ich mir diese Frage stellte. Und vor all diesem mein Spiegelbild, dass sich im Glas des Fenster wiederspiegelte. Die blonden Haare, die grünen Augen, die Sommersprossen, die sich auf meiner Nase niedergelassen hatten. So ein hübsches Gesicht sollte lachen, fuhr es mir durch den Kopf, aber es tat es nicht.

„Ich mache es.“ Kurz und schnell sprudelten die Worte aus meinem Mund und doch klangen sie entschlossen und willensfest. Jürgen schien erleichtert. Die Falten verschwanden aus seinem Gesicht. „Aber darf ich dich was fragen? Wie heißt diese Daily Soap eigentlich, von der du die ganze Zeit sprichst?“ fragend sah ich ihn an. Jürgen lächelte.

Rosa Wolken.“

„Rosa Wolken? Was sollte das für ein Name sein?“ „Das wirst du gleich verstehen, wenn du mit dem Produzenten redest. Er wird dir alles erklären von den Drehplänen bis zum Plot der Serie und dem Vertrag. Und wie sieht es aus? Bist du dir ganz sicher, dass du der Sache eine Chance geben willst?“ Ich nickte. Jürgen atmete sichtlich auf. „Ich bin stolz auf dich“, sagte er. „Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen. Weißt du, es ist wie ein Paralleluniversum.“ Der Begriff klang drastisch, fand ich. Extrem. Später würde er mir wieder einfallen. Denn für mich würde Rosa Wolken das werden – ein Paralleluniversum. Meine Welt. An diese Worte würde ich mich noch zu schmerzhaft erinnern.

Der Parkplatz auf den Jürgen seinen Bentley absetzte, war noch fast leer. Es war früh am Morgen, die Sonne wartete noch sich zu zeigen. „Darf ich präsentieren, die Filmwelten Studios“, sagte Jürgen, ein bisschen Stolz klang in seiner Stimme mit. Das Gebäude an den der Parkplatz grenzte sah majestätisch aus, fast wie ein Schloss. Die Statue eines Löwen prangte über dem Eingang, darunter der Schriftzug Filmwelten Studios. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, lief mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Die Eingangstüren waren aus Glas und schwer. Das Foyer war beeindruckend. Rechts und links führte jeweils eine Treppe nach oben. Die Mitte war mit einem roten Teppich ausgelegt. Fast wie bei einer Oscarverleihung, schoss es mir durch den Kopf. Es war menschenleer. Auf der rechten Seite befand sich ein Empfangstresen. Dort saßen Männer mit Anzügen. Ihm Ohr hatten sie Stöpsel. Über ihnen waren etwa zwanzig kleine Bildschirme angebracht, die verschiedene Orte zeigten. Überwachungskameras. Jürgen schritt zum Tresen. „Jürgen von Wambergen, Regisseur von Rosa Wolken“, stellte er sich vor und deutete dann auf mich. „Und meine Tochter Luise.“ Ich wusste nicht, was ich sagen wollte und warf einem der beiden nur einen kurzen bestätigenden Blick zu. „Alles klar, ich denke, Sie wissen, wo es langgeht?“ Jürgen nickte. „Natürlich.“

Ich folgte ihm über den roten Teppich durch die Eingangshalle und durch eine weitere Glastür. Wir gelangten in eine gigantische Halle, die aussah wie eine Lagerhalle, nur mit dem Unterschied, dass an der Decke hunderte von verschiedenen Lampen und Scheinwerfern angebracht waren. Ein paar Männer schoben Wände und Kleiderständer hin und her. Von der Halle gingen große Türen ab, mit Aufschriften von Shows und Serien, die ich aus der Fernsehzeitung kannte. Vor einer Tür hing ein großes Blatt Papier mit den Worten ‚Achtung Dreh.‘ Jürgen ging unbeeindruckt an all dem vorbei. Für ihn war das hier alles völlig normal. Er kannte es. Es war sein Job. Ich dagegen war eingeschüchtert von der Größe und den bekannten Namen und musste mich beeilen um mit Jürgens schnellem Schritt mitzuhalten. Wir bogen einmal nach links, dann nach rechts und gelangten schließlich zu einer Tür mit der Aufschrift ‚Rosa Wolken.‘

Jürgen blieb stehen und legte eine Hand auf meine Schulter. „Ich werde dir gleich den Produzenten von Rosa Wolken vorstellen. Er ist sowohl mein Chef, als auch mein Partner in vielen Bereichen. Er ist zuständig für Planung, Kontrolle und Durchführung des Projekts. Er hat das Sagen hier und wenn der erwartete Erfolg ausfällt, ist in erster Linie er verantwortlich. Er trägt also eine riesen Verantwortung. Ich bin froh, dass ich nicht in der Rolle stecke.“ Jürgen hielt kurz inne und sah mich dann durchdringend an. „Mach also einen guten Eindruck und präsentiere dich von deiner besten Seite. Sei freundlich. Es ist das erste Projekt, was ich mit ihm zusammen drehe, von daher kenne ich ihn auch noch nicht allzu lange. Zu mir war er stets freundlich aber … „ Seine Stimme wurde ein bisschen leiser. „Von Kollegen habe ich gehört, dass er manchmal auch etwas schwierig sein kann. Sei also achtsam, es liegt an ihm ob die Rolle wirklich bekommst. Allerdings wird es zwei Tage vor Dreh auch verdammt schwer sein einen neuen Regisseur für die Serie zu finden.“ Er zwinkerte mir zu. Falls Jürgen mich mit dieser Bemerkung beruhigen wollte, so erreichte er das Gegenteil. Nun war ich wirklich nervös. ‚Schwierig‘ - was sollte das denn bedeuten? Andererseits galten Menschen aus dem Filmbusiness ja generell nicht als die allzu einfachsten.

Dann schritten wir ein in die Welt der Rosa Wolken. Es schien wie ein großes Büro mit langen Fluren und Zimmern, die sich nach rechts und links abzweigten. In der Luft hing ein Geruch nach Kaffee. Im Gegensatz zur leeren Halle war hier mehr los. Menschen mit Stöpseln im Ohr und Papierstapeln in den Händen schwirrten an uns vorbei. Die meisten von ihnen trugen Turnschuhe, der Boden war mit einem Filzteppich ausgelegt. Manche hielten kurz an, um Jürgen zu begrüßen, andere stießen nur ein flüchtiges „Guten Morgen“ hervor. Mich beachtete niemand. „Sie treffen die letzten Vorbereitungen für den Dreh“, erklärte mir Jürgen. „Zeitpläne, Locations, Requisite, all dem muss noch der letzte Schliff gegeben werden. Das Filmbusiness ist ein hektisches Geschäft.“ Jede Tür war mit einem Zettel beklebt, der einen Pfeil in die anderen Flure zeigte. Kostüm, Maske, Teamlounge, Set, Regie, Licht. Kaum zu glauben, wie groß und unübersichtlich es hier war. Da halfen auch die Zettel nichts. Ich versuchte einen kurzen Blick in alle Räume zu erhaschen, an denen wir vorbeikamen. Ich sah abgehetzte Gesichter, die Stimmen vermischten sich im Hintergrund zu einem konstanten Summen.

Ich folgte Jürgen in einen Aufzug, der uns zwei Etagen hochfuhr, dort war es deutlich ruhiger. Auf dem Flur kam uns ein gutaussehender Typ mit einem Ordner entgegen. „Ach guten Morgen, Herr von Wambergen“, grüßte er Jürgen. „Passt es, wenn ich in etwa einer Stunde in deinem Büro vorbeischaue? Hab‘ da noch ein paar Fragen wegen der Dispo für den ersten Drehtag.“ Jürgen unterhielt sich kurz mit ihm. Ich wurde keines Blickes gewürdigt. Ich fühlte mich komisch wie ich da stand, als sei ich Luft. Als sich die beiden verabschiedeten, nickte er mir kurz zu. „Praktikantin?“ Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und wusste nicht, was ich antworten sollte. „Meine Tochter“ erklärte Jürgen schnell und grinste. Der Typ zog kurz die Augenbrauen hoch. Dann ging er eiligen Schrittes und ohne ein weiteres Wort in Richtung Aufzug. „Da ist Rico, unser Aufnahmeleiter. Hat erst vor kurzem seinen Abschluss gemacht - in Barcelona. Netter Kerl.“ Ich verdrehte die Augen. Jürgen bemerkte es zum Glück nicht.

Er ging ein paar Schritte weiter den Flur entlang und hielt schließlich vor einer Tür mit der Aufschrift ‚Produktion.‘ Die Tür war geschlossen. Jürgen klopfte. „Herein“, hörte ich eine dunkle Stimme von innen sagen. Wir traten ein. Der Raum war quadratförmig, relativ groß und hell, in einem schwarzen Ledersessel saß ein braungebrannter Mann mittleren Alters mit Glatze. An der Wand hinter ihm hing ein riesiges Memoboard, mit Pins waren Fotos von Orten und Personen befestigt und miteinander verbunden. Es sah aus wie ein Labyrinth. Verworren und ohne einen Ausweg. Der Mann am Tisch schenkte mir ein breites Grinsen, als er sah, wo mein Blick hinging. „Das brauchst du nicht verstehen, ich sehe da die Hälfte der Zeit selbst nicht durch. Es ist ein Ideenboard für die Plotline der Serie, entworfen von unseren Storylinern.“ Ich nickte anerkennend, als würde ich genau verstehen, wovon er redete.

Jürgen räusperte sich. „Darf ich vorstellen? Das ist meine Tochter Luise.“ Seine Stimme klang sichtlich stolz. Ich fragte mich, wie er noch so empfinden konnte, nach allem was passiert war. Noch immer mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, musterte der Mann mich von oben bis unten, als wäre ich ein Schraubenzieher, der auf seine Produktivität abgeschätzt werden muss. All das tat er so schnell, dass ich es wahrscheinlich nicht bemerkt hätte, hätte ich nicht so genau hingesehen. Aber ich war eine gute Beobachterin. Seine Augenbrauen zuckten kurz. „Was für eine Ehre, Luise“, sagte er schließlich und streckte mir seine Hand entgegen. Sein Handdruck war fest. Mir fiel auf, wie muskulös seine Arme waren. „Ich bin der Produzent von ‚Rosa Wolken.“ Den Namen, den er nannte, bekam ich nicht mit, denn für mich sah er aus wie Meister Propper aus der Werbung für Waschmittel. Einzig der Ohrring am linken Ohr fehlte. Das war der Name, den ich ihm in Zukunft geben würde.

„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte ich bestimmt höflich und schenkte ihm mein schönstes Lächeln. Ein Handy fing an zu klingeln. Es war das von Jürgen. „Entschuldigt ihr mich kurz, es ist Barbara. Sie braucht mich kurz“, erklärte Jürgen. Meister Propper nickte. „Kein Problem.“ Nachdem Jürgen durch die Tür entschwunden war, zeigte Meister Propper auf den Stuhl vor sich. „Setzt dich doch.“ Ich tat, was er sagte und fragte mich, was auf mich zukommen würde. Meinen Vater neben mir als Rettungsboje hatte ich nun nicht mehr. Ich musste es irgendwie allein schaffen, ihn von mir zu überzeugen. Für mich war Meister Propper bisher unglaublich schwer einzuschätzen.

„Luise“, setzte er an. Das ‚I‘ zog er länger, als es eigentlich sein sollte. „Versteh mich nicht falsch, aber ich war äußerst überrascht, als Jürgen mich gestern anrief und vorschlug, dass du die Rolle der Melina spielen solltest. Wie er dir wahrscheinlich erzählt hat, ist die Rolle kurzfristig frei geworden. Die eigentliche Besetzung hatte einen Unfall im Skiurlaub und muss jetzt sechs Wochen einen Gips am Bein tragen. Sie würde die Rolle nach wie vor gerne spielen, aber wir können nicht sechs Wochen nur Aufnahmen von ihr bis zur Hüfte machen, geschweige denn die gesamte Produktion um die Zeit verschieben. Das würde uns viel zu viel Geld kosten. Von daher suchen wir jetzt auf schnellstem Weg einen Ersatz. Dafür ist eigentlich unser Casting-Agent zuständig. Normalerweise gibt es Probeaufnahmen und Call-backs. Da unsere Zeit nun sehr begrenzt ist, fällt der typische Casting Prozess aus. Und Jürgen hat mich dazu überredet, dich heute kennenzulernen. Es schien ihm sehr wichtig, dass ich dir eine Chance gebe.“ Die Augen von Meister Propper erforschten mein Gesicht, um zu sehen, was für eine Reaktion seine Worte in mir hervorriefen. Ich versuchte möglichst neutral zu wirken und seinem Blick standzuhalten. Ich war gut in diesen Wer-schaut-zuerst-weg-Wettkämpfen, aber Meister Propper war kein einfacher Gegner. Ich zuckte zuerst mit meinen Wimpern.

Er beugte sich ein Stückchen weiter zu mir vor. „Zunächst einmal werde ich dir einen Einblick in ‚Rosa Wolken‘ geben und dir erklären worum es bei dieser neuen Daily Soap geht und wie die zukünftige Planung aussieht. Diese Informationen sind geheim und dürfen selbstverständlich nicht an Dritte weitergegeben werden, verstanden?“ Ich nickte. „Sicher.“ Meister Propper zeigte mir einen ausgestreckten Daumen. Ich wusste noch immer nicht, was ich von ihm denken sollte.

„Unser Drehplan ist folgendermaßen aufgebaut. Montag ist immer Probentag und von Dienstag bis Freitag filmen wir – Dienstag und Mittwoch im Studio und Donnerstag und Freitag werden Außenaufnahmen gemacht. Wir haben einen anstrengenden, aber gut strukturierten Drehplan. Jeden Tag müssen etwa 25 Spielminuten fertiggestellt werden. Wer wann wer im Studio sein muss, hängt vom individuellen Zeitplan ab, aber in der Regel ist es halb sieben.“ Das war ja früher als ich morgens zur Schule antanzen musste. „Wir werden ein festes Team über einen längeren Zeitraum haben. Das Projekt dreht sich immer um die gleichen Charaktere, die durch verschiedene Handlungsstränge miteinander verbunden sind. Die Storyline ist unvollendet. Es ist sozusagen offen, um die Reaktion der Zuschauer abzuwarten, um zu sehen ob ihnen der Plot gefällt und ob sie eine Vorliebe für bestimmte Charaktere haben. Diese werden wir dann herausfiltern und unsere Mitarbeiter in der Storyline-Abteilung werden den Plot anpassen. An sich ist das Projekt auf Endlosigkeit ausgelegt. Ob das auch wirklich so passiert, werden wir dann an den Quoten sehen. “ Er zwinkerte mir zu, doch sein Grinsen erreichte nicht seine Augen.

„Du fragst dich sicher, worum es bei Rosa Wolken geht. Einfach erklärt, spielt die Serie in einem Nobelstadtteil von Düsseldorf und dreht sich hauptsächlich um drei reiche Familien, die nebeneinander in einer Straße leben. Sie sind durch Intrigen, Affären und Geheimnisse verbunden und lieben und hassen sich gleichermaßen. Hauptperson ist David von Thurn. Er ist der Traum jedes Mädchens, gutaussehend, sportlich und reich. Diana, die Tochter der Familie Rosenberg ist schon seit Jahren in ihn verliebt und versucht ihn für sich zu gewinnen. Doch dann ist da noch Melina, die jüngere Schwester seines besten Freundes Ben, die von ihrem Auslandsjahr aus den USA zurückkommt. Jeden Abend lassen wir unsere Zuschauer für 25 Minuten an diesem Leben teilhaben, lassen sie in rosa Wolken schweben. Es geht um Drama, Liebe, Spaß. Also alles woran Teenager denken können. Und so bekommen wir unsere Einschaltquoten.“ Er grinste zufrieden, in seinem Kopf sah er wahrscheinlich schon die zukünftigen Zuschauerzahlen aufblinken. Mir fiel auf, wie perfekt aneinandergereiht und blitzend weiß seine Zähne doch waren. Ich würde darauf wetten, dass er mit diesem Grinsen so manche Sponsoren um den Finger wickeln konnte.

„Woher wollen Sie wissen, ob so etwas ankommt?“ Bevor ich genau überlegt hatte, war mir diese Frage schon über die Lippen gekommen. Als Antwort hielt Meister Propper mir einen dicken Stapel Papier vor die Nase. „Umfragen. Ein Jahr lang wurden die Altersklassen von 14 bis einschließlich 48 gefragt, was sie interessiert, was sie gerne sehen möchten. Nach der Auswertung stand fest, dass wir eine neue Daily Soap auf den Markt bringen. Aber nichts mit Doktoren, Vampiren oder langweiligen Gerichtsverhandlungen, sondern etwas Spannendes mit vielen Wendungen, Liebesverwirrungen und Drama. Etwas für Teenager. Von dem sie sich angesprochen fühlen, hingezogen fühlen und mitfühlen. Und so entstand ‚Rosa Wolken‘.“

Ich kannte genug TV-Serien die genau nach diesem Schema aufgebaut waren –da hätten sie sich diese Umfragen auch wirklich schenken können- aber ich hielt den Mund. Sie würden von sowas schon mehr Ahnung haben als ich. Und überhaupt, wen interessierte es schon, dass eine 17-Jährige ihre „geniale“ Idee für nicht ganz so super hielt, wie sie dachten.

„Ein wichtiger Bestandteil von ‚Rosa Wolken‘ ist der Kontakt mit den Zuschauern“, fuhr Meister Propper fort. „Um die Serie bekannt zu machen und die Fans auf dem Laufenden zu halten, sehen wir vor, ‚Rosa Wolken‘ auf verschiedene Online-Portalen zu bringen. Sprich facebook, twitter, instagram und co. Dafür haben wir extra eine Social Media Managerin engagiert, die sich um alles kümmern wird. Beispielsweise wird es einmal in der Woche einen Live-chat geben, bei dem euch die Zuschauer per Chat Fragen schicken können. Außerdem steht eine offizielle Seite zu Serie schon in Entwicklung, auf der man alle Hintergründe, Bonus Interviews, und Rollenprofile von den Schauspielern finden kann und die natürlich die Zuschauer auf up-to-date bringt. Dementsprechend erwarten wir von unseren Schauspielern, auf Social Media Kanälen aktiv zu sein, beispielsweise Schnappschüsse vom Dreh oder Outfits zu posten. Bevor ihr etwas veröffentlicht, müsst ihr das ‚okay‘ von unserer Social Media Managerin bekommen. Dies ist nicht nur ein essentieller Bestandteil unseres Marketing Konzepts, sondern auch im Vertrag verankert.“

Bei all dem klang Meister Propper professionell und als sei dass, wovon er da redete selbstverständlich. Ich war mir jedoch nicht so sicher, was ich von diesem Vortrag halten sollte. Klar, ich kannte facebook und co., aber ich war mir nicht im Klaren darüber, was für ein Ausmaß Social Media in ‚Rosa Wolken‘ annehmen sollte. Wieviel ich von mir preisgeben würde müssen. Und wer meine Fotos und Posts anschauen würde. Wenn ich ehrlich war, fand ich die Vorstellung etwas beängstigend. Andererseits, wurde heute nicht sowieso alles komplett digitalisiert? Es war schließlich nichts Neues, wovon er mir da erzählte. Es war nur ein Weg, um die Serie bekannt zu machen. Und wo ging das heute einfacher als im Internet?

„Luise?“ holte Meister Propper mich aus meinen Gedanken. „Klingt einleuchtend“, war alles was ich sagte. Ich wollte lieber nicht zu sehr darüber nachdenken. Noch immer trug Meister Proppers ein Lächeln auf seinen Lippen. „Nun zu dir“, setzte er an. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mir fiel auf, wie sich sein Shirt über seine Brust spannte. „Zunächst einmal, das Offensichtliche. Wie sieht es mit Schauspielen bei dir aus? Hast du Erfahrung?“ Ich schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ich hatte noch nie bei einer Schauspiel Produktion mitgemacht, nicht einmal im Schultheater und ich konnte auch nicht behaupten, dass ich viel von Jürgen über die Arbeit im Filmgeschäft wusste. Wir hatten nie darüber geredet. Wenn wir überhaupt einmal geredet hatten.

„Was sollen wir mit jemandem anfangen, der keinerlei Erfahrung hat?“ fragte Meister Propper und blickte auf den Bildschirm seines Laptops, der vor ihm auf dem Tisch stand. Zum ersten Mal verschwand sein Dauergrinsen. Doch wenn ich genau darüber nachdachte, stimmte das gar nicht. Ich hatte geschauspielert. Viele Male. Wie oft hatte ich meiner Mutter vorgespielt das alles in Ordnung war? Oder meinen Freunden, dass ich Spaß, eine gute Zeit mit ihnen hatte? Und am meisten wohl mir selbst, um mich davon zu überzeugen, dass ich glücklich war? Eigentlich war ich eine großartige Schauspielerin. Ich konnte die Unberührte, Uninteressierte, Unverletzliche, das lächelnde Mädchen, das unbeschwerte Kind spielen – in all dem war ich perfekt.

„Ich weiß, professionelle Erfahrung habe ich nicht“, gab ich zu. „Aber ich würde es gerne versuchen. Ich bin mir sicher, ich wäre gut darin.“ Ich versuchte möglichst selbstbewusst zu klingen. Meister Propper tippte etwas in die Tasten seines Laptops. Dann wandte er seinen Blick wieder mir zu. „Viele denken, dass die Schauspielerei einfach sei, aber ich kann dir eins sagen, es ist Knochenarbeit. Zumindest, wenn man ein guter Schauspieler sein will. Glaub mir.“ Ich biss mir auf die Lippen. Ich sagte ihm besser nicht, dass es sich bei ‚Rosa Wolken‘ nicht um den nächsten preisgekrönten Hollywood Streifen handelte, sondern eine deutsche Daily Soap, die außer ein paar Omas sowieso niemand schauen würde. Aber das würde mir wohl kam helfen, die Rolle zu bekommen. Stattdessen versuchte ich verständnisvoll zu nicken. Auf einmal wurde mir klar, was ich zu tun hatte. Ich musste ihm hier und jetzt beweisen, was für eine gute Schauspielerin ich war. So tun, als wäre es mein Traum in das Filmgeschäft einzusteigen und dass ich es kaum erwarten konnte in so einem großartigen Projekt wie ‚Rosa Wolken‘ mitzuspielen. Das war die Prüfung. „Eine andere Frage“, setzte Meister Propper an. „Warum möchtest du – ohne schauspielerische Vorkenntnisse- Teil von ‚Rosa Wolken‘ sein?“

Ich musste einen Augenblick überlegen. „Ich liebe es vorzugeben, jemand anderes zu sein“, antwortete ich schließlich. „Es gibt einem die Möglichkeit, sich selbst zu vergessen, für einen Moment, in eine andere Rolle zu entschwinden und seine eigenen Gefühle auszuschalten, um in denen einer anderen völlig aufzugehen. Das ist es, was mich so sehr an dem Job fasziniert.“ „Klingt interessant“, kommentierte Meister Propper und war wieder mit seinem Laptop beschäftigt. Ich hatte das Gefühl, ich hatte ihn nun doch etwas mehr für mich überzeugt. Das hier würde stückchenweise Arbeit werden. Von einem Hindernis zum nächsten Angeln. Er schaute mir nun wieder direkt in die Augen. Es war schwer seinem Blick standzuhalten. Doch dieses Mal tat ich es. „Und dann wäre da noch etwas, hättest du ein Problem damit einen anderen Schauspieler zu küssen?“ Ich errötete. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Aber es konnte schließlich nicht allzu schwer sein. Wie oft hatte ich schließlich schon jemanden ohne Gefühle geküsst? Ob ohne Kamera oder mit, das würde sicherlich nicht so den großen Unterschied machen. Ich sollte mich Irren. Doch in dem Moment schüttelte ich nur den Kopf und winkte mit „Nein, keine Sorge“ ab.

Meister Propper musste schmunzeln. „Nun gut, ich gebe dir eine Chance. Aber es bleibt bei dieser einen. Ich war noch nie ein Freund von zweiten Chancen. Wenn du einmal etwas vergeigst, so wirst du es auch ein zweites Mal tun. Das ist meine Sicht.“ Diese Worte klangen ernster als die anderen. Sie hatten einen gewissen Nachdruck. „Morgen ist der erste Probentag. Es ist deine Chance, mich von dir zu überzeugen.“ Ich hatte ihn also überzeugt. Obwohl noch hatte ich das nicht. Aber zumindest gab er mir eine Chance. Aber mir war klar, dass die begrenzte Zeit jemanden zu finden eine Rolle spielte, als auch dass Jürgen Regisseur von ‚Rosa Wolken‘ war.

Meister Propper drehte sich um und zog eine Mappe aus einem Fach aus dem Regal hinter ihm. „Das hier ist dein Drehbuch. Drin sind das Rollenprofil von Melina, der Rolle, die du spielen willst, inklusive aller Szenen, in denen die Rolle vorkommt. Lies dir die Personenbeschreibung gut durch, um den Charakter von Melina zu verstehen und um dich in sie hinein zu fühlen. Wenn du weiter Fragen haben solltest, dann wende dich an die Storyline-Abteilung. Die ist hauptsächlich für die Entwicklung der Charaktere und ihre Geschichten zuständig. Die Storyline-Abteilung ist hier in der Etage, zwei Türen weiter rechts. Sie arbeiten im Moment schon am achten Block. Und es wäre gut, wenn du dir alle Dialoge des ersten Blocks durchlesen und einprägen könntest.“ „Was ist ein Block?“ fragte ich. „Ein Block besteht aus fünf Folgen. Diese müssen diese Woche fertig gedreht werden. Morgen werden wir mit den anderen Schauspielern den kompletten ersten Block durchspielen.“ Ich nickte. Das hörte sich hart an, aber ich wollte ihm beweisen, dass ich meine Chance nutzen würde. „Ich bin mir sicher, dein Vater hat alle nötigen Informationen, aber unser Aufnahmeleiter wird die heute noch eine E-Mail mit den genauen Details für morgen rausschicken. Deal?“ fragte Meister Propper.

„Deal“, antwortete ich. Er zwinkerte mir zu. „Überzeug mich.“


2D. INNEN – LUISE ZUHAUSE – ABEND/ NACHT

Abends lag ich auf meinem Bett und las mir das Drehbuch durch. Auf der Titelseite stand in großen Druckbuchstaben ‚Rosa Wolken.‘ Es war ein komisches Gefühl es in den Händen zu halten. Ich fühlte mich ein bisschen so, als würde ich verbotenerweise geheime Informationen über Melina lesen und sie ausspionieren. Dabei war sie bloß ein fiktiver Charakter, entsponnen aus den Köpfen von Drehbuchautoren, die für eine einfältige Daily Soap einen Plot erfinden mussten.

Auf den ersten beiden Seiten fand ich eine Beschreibung von Melina. Sie hatte lange braune Haare, ein eher unschuldiges Aussehen und ein hübsches Gesicht. Vom Typ her war sie ‚ein lieber Charakter, eine gute Gesprächspartnerin, aber auch naiv und leicht beeinflussbar.‘ Sie kam aus einem wohlhabenden Elternhaus, war in meinem Alter, hatte einen älteren Bruder und wohnte in der ‚Wolkenallee‘. Ihre beste Freundin war Diana, die in der Villa neben ihr lebte. Die beiden waren seit der Kindheit befreundet und unzertrennlich. Was ich aus ihren Hobbys entnehmen konnte, so liebte sie reiten und einkaufen gehen. Und sie hatte das letzte Jahr in den USA bei einer Gastfamilie verbracht. In Kalifornien. Makellos – war das passende Wort was mir sofort in den Kopf schoss, um sie zu beschreiben. Sie hörte sich viel zu perfekt an, um wahr zu sein. Das genaue Gegenteil von mir. Außerdem war unten auf der Seite das Wort ‚Ausbaufähig‘ in Bleistift geschrieben.

Auf den nächsten Seiten waren hauptsächlich Dialoge abgedruckt, in denen meine Rolle irgendwie involviert war. Keiner der Dialoge war länger als drei Seiten. Über dem ersten Dialog stand groß geschrieben ‚1A – INNEN – FLUGHAFEN – MORGEN.‘ Das war sicherlich die Ortsbeschreibung der ersten Szene. Die erste Szene spielte also am Flughafen. Es sollte das große Wiedersehen von Melina und Diana sein, die sich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatten. Zwischendurch waren große Absätze und in Klammern waren Aktionen wie ‚lächelt‘ oder ‚dreht sich um‘ eingefügt.

In den nächsten Stunden versuchte ich verkrampft Melinas Sätze auswendig zu lernen. Sie sagte nicht viel und auch nichts besonders kompliziertes, trotzdem war es schwieriger als ich gedacht hatte. Es unterschied sich nicht sehr davon, neue Lateinvokabeln in den Kopf einzuprügeln. Ich lag lange da, mit dem Text in meiner Hand, ging die Sätze immer und immer wieder in meinem Kopf durch. Es fühlte sich stumpf an. Plötzlich kam mir der Gedanke Gianna anzurufen, wie immer, wenn mich irgendwas vom Schlafen abhielt. Mitten in der Nacht mit ihr über Gott und die Welt zu reden. Jeder an seinem Fenster, mit Blick auf den Mond und einer Zigarette zwischen den Fingern. Ihr von allem erzählen. Ich tippte die Nummer in mein Smartphone. Ich hatte ihren Kontakt gelöscht. Doch die Nummer konnte ich noch immer auswendig. Es begann zu klingeln. Im letzten Moment überlegte ich es mir anders. Ich wusste, dass sie nicht abnehmen würde. Dass ich ihre Stimme nicht hören konnte, ihre verrückten Worte, die stets eine schlagfertige Antwort gefunden hatten. Mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt hat. Ich vermisste sie so sehr und hasste sie dafür, dass ich das tat. Es war ihre Schuld, oder war es meine? Ich ging rüber zum Fenster, wie ich es früher so oft getan hatte, mit dem Handy in der Hand und Giannas Stimme am Ohr. Ich schaute den Mond an und für einen klitzekleinen Moment hatte ich das Gefühl, sie wäre da, am Fenster mit mir.


2E. RÜCKBLENDE – AUSSEN – NÄHE JUGENDZENTRUM – NACHT

Ich schaute in das Schwarz des Himmels. Ich lag mit Sven unweit des Jugendzentrums auf dem Gras. Ich wusste noch immer nicht, wohin Gianna entschwunden war, nachdem ich sie sturzlos betrunken auf der Tanzfläche gesehen hatte und sie mit diesem Fremden von dannen gezogen war. Plötzlich spürte ich wie Svens Hand unter meine Unterhose glitt. Das erschreckte mich so, dass ich vor Erstaunen keinen Laut hervorbrachte. Ich sah Mülleimer aneinandergereiht an der Straße stehen, fertig zum Ausleeren am nächsten Morgen. Ein Hund bellte in der Ferne.

Sollte das Erste Mal nicht etwas Besonderes sein? Deshalb war das „E“ doch auch groß geschrieben, oder? Früher hatten Gianna und ich stundenlang über unsere „Ersten Male“ geredet, ob es so schmerzhaft sein würde, wie es in den Mädchenzeitschriften beschrieben war und ob es romantisch mit Kerzenlicht war. Und gerade in dem Moment war ich kurz davor unsere Illusion zu zerstören, die wir uns über eine so lange Zeit aufgebaut hatten und die uns zusammen schweißte. Andererseits hatte ich das Gefühl, als befänden Gianna und ich uns in einer Art Wettkampf, in dem es darum ging, wer zuerst was gemacht hatte. Reifer und mutiger war als der andere. Über Grenzen hinausging, die eigentlich noch zu weit in der Ferne lagen. Die Spirale schneller heraufkletterte. Und ich konnte nicht mit ihr mithalten, war kurz vorm Verlieren. Gianna war cool, jeder mochte sie und ihre unternehmungslustige Art. Sie bedeutete Spaß. Unvergessliche Nächte. Glück. Aber ich war nicht so schnell wie sie, ich war kein so guter Sprinter, der einen Tunnelblick auf das Ziel hatte, einfach weiterlief, obwohl er nicht mehr konnte. Aber ich sagte nichts, hielt nicht inne, stoppte nicht, was passierte. Ich ließ es einfach geschehen und redete mir ein, es sei das Richtige, der Weg mit dem ich alle beeindrucken konnte. Auch mich selbst. Bei Morgengrauen würde ich keine Jungfrau mehr sein. Gianna würde mir eine High-Five geben, stolz auf mich sein. Und ich auch, redete ich mir ein. Endlich würde ich es hinter mir haben. Aber der Traum von den Kerzen und dem Rosenduft würde unerfüllt bleiben. Aber was mir den größten Stich gab, war das keine Musik im Hintergrund lief. Es war still, so furchtbar still.

Rosa Wolken

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