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Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl – ein Dialog im Jenseits
ОглавлениеZwischen Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl liegen vierhundert Jahre und mich inspiriert das Zeitlose. Die Aktualität ihres jeweiligen Gedankengutes ist verblüffend und mich fasziniert die nüchterne Leidenschaft zum Leben, die bei beiden spürbar wird. Die ignatianische Spiritualität entdeckte ich, als ich auf der Suche nach der tieferen Bedeutung meines Lebens gewesen bin. Bald darauf zog mich die Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor E. Frankl in ihren Bann. Während ich in die logotherapeutische Gedankenwelt eintauchte, fielen mir immer wieder Sätze ein, die ich bereits bei Ignatius gelesen hatte. Z. B. lese ich bei Viktor E. Frankl: „Das Gefühl kann viel feinfühliger sein als der Verstand scharfsinnig.“ Spontan fällt mir dazu die Aussage von Ignatius ein: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.“
Mein wesentliches Anliegen ist, nicht über ein anderes Gedankengut zu schreiben, sondern von seiner Resonanz und Wirkkraft in mir zu erzählen. In mir begegnen sich Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl schon lange und immer wieder. So kam mir die Idee von einer Annäherung der beiden im Jenseits und ich ließ sie miteinander ins Gespräch kommen.
Ignatius: Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass fünfhundert Jahre nach meinem Tod noch jemand an mich und meine Schriften denkt. Es gab in dieser langen Zeit eine große Fülle von Philosophen und Theologen und einige haben außerordentlich viel zur seelischen Heilung der Menschen beigetragen.
Frankl: Verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche, doch mir geht es ähnlich. Obwohl ich vor etwas mehr als zwanzig Jahren verstorben bin, interessieren sich die Menschen noch immer für meine Sinnlehre. Allerdings wundert es mich nicht, dass man Sie nicht vergessen hat. Ihre Schriften sind zeitlos – so wie auch seit ewigen Zeiten die Menschen auf der Suche nach Gott sind. Sie haben die Gesellschaft Jesu gegründet und diese wird wohl die nächsten fünfhundert Jahre überdauern. Bereits zu meiner Zeit faszinierte mich Ihr Gedanke, dass nicht das viele Wissen die Seele befriedigt und sättigt, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.
Ignatius: Da gibt es wohl so etwas wie einen Gleichklang unserer Seelen. Mir fiel diese Ähnlichkeit auf, als ich in der Bibliothek des Universums Ihr Buch „Der unbewusste Gott“ gefunden habe. Von Ihnen stammt ja diese wunderbare Formulierung, dass das Gewissen ein Sinnorgan ist und dass es nicht nur darum geht, Wissen zu vermitteln, sondern das Gewissen zu verfeinern. Das ist eine schwierige Aufgabe und war schon im Mittelalter alles andere als einfach. Vor allem jene Menschen, die an der Macht waren, haben ihr Gewissen nicht verfeinert, sondern viel Unheil angerichtet.
Frankl: Gab es eigentlich eine Zeit, in der Machthaber kein Unheil angerichtet haben? Wie Sie wissen, habe ich die Schreckenszeit des Holocaust im 20. Jahrhundert erlebt und erlitten. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass ich überlebt habe und nach meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager ein halbes Jahrhundert in einem friedlichen Österreich leben und die ganze Welt bereisen konnte.
Ignatius: Ist es nicht so, dass Menschen Suchende sind? Ziemlich sicher verirren sich manche auf dieser Suche. Bei mir war das ähnlich. Nach einem Leben, das ausschließlich auf weltlichen Erfolg ausgerichtet war, bin ich mit Schriften in Berührung gekommen, die mein Denken verändert haben. Mein Lebensweg war entscheidend für das Entdecken und Entwickeln der Geistlichen Übungen. Wie haben Sie eigentlich Ihre Sinnlehre entdeckt?
Frankl: Erklären kann ich das gar nicht so genau, aber ich habe mich bereits in meiner Schulzeit mit dem Thema Sinn beschäftigt. Als mein Physikprofessor sagte, das Leben sei nichts als ein Oxydationsprozess, habe ich ihn gefragt, welchen Sinn dann das Leben habe. Würde ich es etwas übertrieben formulieren, war dieser Moment die Geburtsstunde der Logotherapie.
Was mich interessieren würde: In Ihren Schriften kommt immer wieder die Formulierung von der „Unterscheidung der Geister“ vor. Was meinen Sie damit und was führt Sie dazu?
Ignatius: Als ich aufgrund einer Beinverletzung längere Zeit liegen musste, staunte ich ziemlich über deutliche Unterschiede in meinem seelischen Empfinden. Beim Lesen von Rittergeschichten – heute würde man sie wohl als Krimis bezeichnen – spürte ich Langweile und Unzufriedenheit, außerdem wurde mir klar, dass mich diese Lektüre nicht bereichert, sondern nur ablenkt. Als ich dann begann, Geschichten von Heiligen zu lesen, belebten mich diese Gedanken und ich erlebte trotz meiner körperlichen Einschränkung tröstliche Stunden. Mit diesen seelischen Stimmungen habe ich mich lange beschäftigt und bin zur Einsicht gelangt, dass unsere Gedanken von drei Quellen genährt werden: von der eigenen Freiheit, von guten Gedanken, die ermutigen, und von bösen oder schlechten Gedanken, die Groll verursachen. Mittlerweile habe ich von einigen Hirnforschern gehört, dass sich das menschliche Gehirn so entwickelt, wie ein Mensch es benutzt. Heute werden ja nicht mehr sehr viele Menschen Heiligengeschichten lesen, aber es gibt eine Fülle von lesenswerten Biografien, welche das Gute im Menschen anregen und stärken können.
Frankl: Die Erkenntnisse der Hirnforschung hätte ich noch gerne erlebt, denn ich habe immer die Meinung vertreten, dass der Mensch ganz Mensch wird durch die Sache, die er zur seinen macht; wo er also aufhört, sich ständig selbst zu bespiegeln und zu fragen, ob er nicht zu kurz kommt. Der Mensch braucht etwas, das er mehr liebt als sich selbst; dabei kann es sich um einen anderen Menschen oder um eine gute Sache handeln. Wo ein Mensch sich hingibt, sich selbst vergisst, da wird er ganz er selbst.
Ignatius: Wie ist es dann bei Menschen, die sich einer bösen Sache widmen? Mit böse meine ich Menschen, die Freiheit rauben und Macht ausüben? Geht dann so ein Mensch in der bösen Sache auf?
Frankl: Sie haben vorhin als Ursprung unserer Gedanken die Freiheit erwähnt, sowohl gute als auch böse Gedanken zu denken. Ich habe Menschen erlebt, die waren überzeugt, Gutes zu tun, obwohl es offensichtlich böse war. Sie beriefen sich auf ihre Pflicht und hatten jede Form ihrer inneren Freiheit an die Machthaber der jeweiligen Zeit abgegeben. Im Alten Testament steht im Buch Exodus sinngemäß: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Gefangenschaft herausgeführt hat in ein Land voll Leben und Freiheit.“
Mit diesem Zitat versuche ich, Ihre Frage zu beantworten. Ich kann mir vorstellen, dass Handlanger des Bösen nichts von jener Freiheit wissen, die wir meinen, und daher denken sie auch nicht darüber nach, dass ihr Tun Menschen schadet. Hinweise auf das Böse werden diese Menschen nicht erreichen, obwohl sie dringend Nachhilfe in Skepsis nötig hätten. Allerdings bezweifle ich, ob diese Menschen so etwas wie innere Ruhe und Vertrauen ins Leben kennen. Die sehen doch in jedem, der nicht ihrer Meinung ist, einen Feind.
Ignatius: Mit Ihrer Antwort erinnern Sie mich an die unselige Zeit der Inquisition. Ich hatte mehrmals mit diesen ausschließlich von sich selbst überzeugten Kirchenvertretern zu tun, die jede Menschlichkeit vergessen hatten und natürlich auch Gott. Ein Jahr vor meinem Tod kam ein eifriger Verfechter der Inquisition auf den Papstthron, Paul IV. Er sperrte sogar Kardinäle, die dem Herrn und den Menschen dienten, in die Engelsburg. Es war grauenvoll und hat mich sehr bekümmert. Doch eines haben diese Fehlhaltungen von Menschen nie geschafft, mir meinen Glauben und die Liebe zu Christus zu nehmen. Die Kirche war nie frei von Spannungen und Missbrauch hat es zu allen Zeiten gegeben. Verständlich ist, dass sich Menschen auf der Erde nach einem Ort sehnen, wo himmlische Ordnung herrscht. Tragisch ist, dass gerade im Namen Christi viel Unrecht und sehr Schlimmes von Kirchenmännern geschehen ist. Ich nehme an, dass auch deshalb immer weniger Menschen bereit sind, zwischen Kirche und Gott zu unterscheiden. Vielleicht ist das nicht ganz richtig formuliert. Menschen machen sehr wohl einen Unterschied, sie wenden sich von der Kirche ab und teilweise fragwürdigen Heilsversprechen zu. Früher hat man Menschen mit Gott gedroht und heute besteht die versteckte Forderung aus einer genauen Handlungsweise, die einzuhalten ist, um glücklich zu sein. Zu viele sind bereit, zweifelhafte Empfehlungen zu befolgen, die auch noch Geld kosten. Meist stellt sich das Erhoffte nicht ein, aber die Sehnsucht des Menschen ist versucht, diese Folgen auszublenden.
Frankl: Ich stimme Ihnen gerne zu. Neben der groben Vernachlässigung religiöser Sehnsüchte auf der einen Seite gibt es auf der anderen fragwürdige Angebote. Dietrich Bonhoeffer, der leider das Konzentrationslager nicht überlebt hat, hat einen Aufsatz über die menschliche Dummheit geschrieben. Darin beschreibt er, dass wir gegen die Dummheit wehrlos sind. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Dass der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten und Parolen zu tun hat.
Ignatius: Hat nicht der deutsche Philosoph Immanuel Kant gesagt, dass der Mangel an Urteilskraft eigentlich das ist, was man Dummheit nennt, und dass einem solchen Gebrechen gar nicht abzuhelfen ist?
Frankl: Das war Kant und von ihm stammt auch der Hinweis, dass zwei Dinge ausreichen würden, ein Mensch zu sein: der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir. Also das Staunen über eine sternenklare Nacht und die Schönheit der Natur sowie eine innere Überzeugung, die ich mit Ehrfurcht vor dem Leben bezeichnen möchte.
Etwa zur gleichen Zeit wie Kant lebte Friedrich Schleiermacher. Er schrieb in einer berühmten Sammlung von Vorträgen „An die Gebildeten unter ihren Verächtern“: „Religion ist die Anschauung des Universums.“ Religion beginnt also mit der Erfahrung des Ganzen und hat zunächst nichts mit Gebräuchen und Ritualen zu tun. Darüber sagt Schleiermacher, dass Religion auf das Gefühl radikaler Abhängigkeit hinweist. Das bedeutet: Ich weiß um mich selbst, dass ich in jeder Hinsicht fragil, abhängig und verletzbar bin. Mir selbst war diese Abhängigkeit zu Lebzeiten sehr bewusst und deswegen habe ich immer wieder betont, dass wir uns hin und wieder mit dem Tod konfrontieren sollten. Denn die Tatsache der zeitlichen Begrenzung unseres Daseins ist der Ansporn, die Zeit und jede Stunde und jeden Tag zu nützen.
Ignatius: Ich möchte noch einmal zum Sittengesetz von Kant zurückkommen. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang für Sie das menschliche Gewissen?
Frankl: Vorausschicken möchte ich, dass ich davon überzeugt bin, dass jeder Mensch ein präreflexives Selbstverständnis auf diese Welt mitbringt. Also ein inneres Wissen, welches nicht erst durch ständiges Nachdenken und Reflektieren entstanden, sondern auf eine eigene Weise schon im Menschen angelegt ist. Es muss ihm nur bewusst werden, was er irgendwie ohnehin schon immer weiß. Für mich steht hinter dem Gewissen des Menschen das Du Gottes. Deshalb habe ich das Gewissen als Sinnorgan bezeichnet, als eine Art intuitiven Kompass, der mich und jeden Menschen – sofern er sich dafür interessiert – auf der persönlichen Suche nach Sinn leitet. Es steht außer Frage, dass das Gewissen gepflegt werden muss. Das gilt besonders in einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für viele ihre Geltung zu verlieren scheinen. Gewissenspflege bedeutet, als Mensch hellhörig genug zu sein, um das Leben wahrzunehmen und auf die Fragen, die es uns stellt, menschlich zu antworten.
Ignatius: Sie haben eine hohe Meinung vom Menschen. Sie trauen ihm viel zu, aber Sie muten ihm auch viel zu. An meine Zeit der Zweifel und Skrupel, die mich auf meiner Pilgerschaft gequält haben, kann ich mich gut erinnern. Immer wieder plagte mich der Gedanke, ich hätte vergessen eine Sünde zu beichten. Da hätte es mich sehr entlastet, wenn ich Ihre Sichtweise früher gekannt hätte. Mich bringt man ständig mit der Unterscheidung der Geister in Verbindung, Sie sofort mit der Suche nach Sinn und mit der Trotzmacht des Geistes. So wie ich das verstanden habe, kann der Mensch stärker sein als das, was ihn kleinzumachen droht. Er kann sich sogar selbst entgegentreten, wenn ihn eine irreale Angst immer wieder daran hindert, etwas zu tun, was in seinen Augen wertvoll ist. Auf der Erde würde ich diese Fähigkeit besonders jenen wünschen, die ein bisschen zu viel Selbstmitleid haben. So wie ich Ihre Trotzmacht des Geistes verstanden habe, kann sich der Mensch von seinen Eigenheiten auch distanzieren.
Frankl: Ja, ich möchte sagen, dass ich auf diese Entdeckung ein wenig stolz bin. Inspiriert hat mich ein österreichischer Dichter, Johann Nestroy, ein Wiener so wie ich. Der hat in einem seiner Theaterstücke gesagt: „Jetzt bin ich neugierig, wer ist stärker: Ich oder ich?“ Da ich die Berge liebe, mich jedoch Höhenangst plagte, habe ich mich gefragt: „Bin ich stärker oder der Schweinehund in mir, der sich nicht zu klettern traut?“ Wichtig ist für mich zu erwähnen, dass der Wert, den die Bergwelt auf mich ausübte, groß genug war, um mich zu überwinden. Meine Leidenschaft für das Bergsteigen hat mir geholfen, mich von meiner Angst zu distanzieren. Jetzt haben wir aber ständig von mir gesprochen, dabei interessieren mich Ihre Geistlichen Übungen, Ihre Exerzitien sehr.
Ignatius: Nachdem wir beide in der Ewigkeit angekommen sind, haben wir ja noch ewig Zeit.
Mit den Exerzitien möchte ich Menschen vor allem zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Sie sind ein Übungsweg auf der Suche nach Gott, die aufgrund von Texten aus der Bibel Unterstützung erhalten. Im Wesentlichen geht es in den Exerzitien darum, die gegenwärtige Lebensphase ernst zu nehmen und die Liebesfähigkeit des Menschen zu stärken. Die Veränderungen der letzten fünfhundert Jahre haben dazu geführt, dass meine Nachfolger sehr kreative Ideen hatten. Auf diese Weise sind Schreibexerzitien, Filmexerzitien, Wanderexerzitien und vieles andere entstanden, um Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu begleiten und ihnen ihr Leben zuzumuten, aber nicht abzunehmen. Worauf nach wie vor bei allen Exerzitien Wert gelegt wird, ist das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit und das persönliche Gespräch mit einem Begleiter oder einer Begleiterin. Letztlich geht es jedoch nicht um ein Leistenwollen, sondern um den Geist, in dem sich ein Mensch diesem geistlichen Übungsweg stellt. Es geht um die Offenheit, sich von Gott oder vom Leben beschenken zu lassen.
Frankl: Sie sprechen vom Geist, in dem sich ein Mensch auf den von Ihnen beschriebenen Übungsweg begibt. So wie ich das verstehe, geht es um die innere Einstellung, um die Bereitschaft, sich dem Glauben zu öffnen und sich auf die Stille einzulassen. Der Mensch hat entweder einen Glauben oder einen Aberglauben. Je weniger vom Geist die Rede ist, umso mehr wird von Geistern gesprochen.
Ignatius: Mir ist schon einige Male aufgefallen, dass Sie eine ganz besondere Fähigkeit haben zu formulieren. Von Ihnen stammt doch auch der Satz: Der Partner unserer tiefsten Selbstgespräche ist Gott. Das stimmt doch, oder?
Frankl: Ja, das stimmt. Wenn ich in letzter Einsamkeit schlimme Stunden verbracht habe, war mir so, als ob mir Gott zuhört. Ich persönlich mag das Wort Gott. Ich kann aber auch gut verstehen, dass dieser Begriff für manche Menschen – aufgrund ihrer Lebensgeschichte – belastet ist. Da ist es doch sehr sinnvoll, dass Dietrich Bonhoeffer die „guten Mächte“ ins Spiel gebracht hat.
Ignatius: Obwohl wir beide von gestern sind, haben wir ein großes Interesse für das, was heute auf der Welt geschieht. Ich bin gerne bereit, auf Begriffe, die Zwang ausüben, zu verzichten, und finde es großartig, welche Gedanken sich manche Menschen machen. Vor kurzem habe ich mit Tiziano Terzani gesprochen, dem Journalisten, der lange in Asien gelebt hat. Er hat das wunderbar formuliert und erwähnt auch den Sinn, der Ihnen so am Herzen liegt: „Nichts geschieht zufällig. Wenn wir hier sind, muss das einen Sinn haben. Zu sehen, welchen Grund jeder von uns hat, hier zu sein, und nachzuverfolgen, was uns hierhergeführt hat, ist eine wunderschöne Übung in Demut und ein Akt der Bewunderung für jene Intelligenz, die die Welt zusammenhält.“6
Frankl: Manchmal denke ich, dass wir viel Freiraum haben für all das, was wir mit dem Verlegenheitsnamen Gott bezeichnen. Übrigens, da fällt mir noch Václav Havel ein, der so viel für die Freiheit seiner Mitbürger riskiert hat. Er schrieb in einem Brief an seine Frau Olga: „Der wirkliche Glaube ist etwas unverhältnismäßig viel Tieferes und Geheimnisvolleres als irgendeine optimistische Emotion und hängt entschieden nicht davon ab, wie einem gerade Wirklichkeit erscheint.“7
Ignatius: Oh, wie wunderbar! Mit diesem Herrn möchte ich mich gerne unterhalten! Ich vermute, Václav Havel könnte den Satz verstehen, den ich in meinem „Fundament“ geschrieben habe: Es ist notwendig, dass wir uns den materiellen Dingen gegenüber gleichmütig verhalten und unsere Freiheit und Verantwortung ernsthaft wahrnehmen und leben. Auf diese Weise sollen wir von unserer Seite Gesundheit nicht mehr verlangen als Krankheit, Reichtum nicht mehr als Armut, Anerkennung nicht mehr als Ablehnung, langes Leben nicht mehr als kurzes, und folgerichtig so in allen übrigen Dingen.
Frankl: Das meine ich auch. Was das Materielle anlangt, hat es mich nie gereizt, viel Geld zu verdienen. Ich brauchte eine Arbeit, die mich erfüllt, und sei es auch unter Verzicht auf eine Arztpraxis, bloß Bücher schreibend. Ich denke, heute hat jeder sein Kreuz zu tragen, vielleicht mehr denn je. Aber es kommt darauf an, wie man das Kreuz trägt, das man nun einmal auf sich nehmen muss. Das Leben fordert uns heraus und manchmal fordert es Opfer. Aber es ist möglich, dafür zu sorgen, dass die gebrachten Opfer nicht sinnlos sind. Das wäre in dem Augenblick der Fall, wo es nicht im richtigen Geiste, aus der rechten Gesinnung heraus gebracht wird. Die Einstellung ist alles.
Ignatius: Ja, und die Liebe und die Freude. Ich denke, wenn ein Mensch fähig ist, sich selbst in einem gesunden Maß zu lieben, dann kann er auch andere lieben und muss nicht ständig aufpassen, ob ein anderer mehr hat als er selbst. Die christlichen Religionen wären wohl ein guter Weg, menschlicher zu werden, doch es wenden sich einfach viele von ihnen ab.
Frankl: Ist es nicht so, dass gerade der religiöse Mensch die Entscheidung seines Mitmenschen, der sich von der Religion abgewandt hat, zu respektieren hat? Er müsste diese Entscheidung als grundsätzliche Möglichkeit anerkennen, wie auch als tatsächliche Wirklichkeit hinnehmen. Gerade der religiöse Mensch müsste wissen, dass die Freiheit einer solchen Entscheidung eine gottgewollte, gottgeschaffene ist; denn in einem solchen Grade ist der Mensch frei, von seinem Schöpfer frei geschaffen, dass diese Freiheit eine Freiheit bis zum Nein ist.
Ignatius: Ich meine, Menschen brauchen diesen Mut zu einem Nein, damit ihre Identität und ihr Ja glaubhaft und authentisch sind. Die personale Identität und die Individualität wachsen in dem Maße, in dem ich beziehungsfähig werde und mich nicht ständig vor jemandem rechtfertigen oder schützen muss. Auf der anderen Seite muss niemand Gott verteidigen. Menschen, die sich berufen fühlen, Gott verteidigen zu wollen, ereifern sich leicht und stehen in der Gefahr, einem Götzen zu dienen.
Frankl: Der Glaube darf nicht fanatisch werden. Starrer Glaube macht fanatisch und fester Glaube tolerant. Die Gefahr der traditionellen Konfessionen liegt im Festhalten an alten Formen, während die Gefahr der spirituellen Beliebigkeit im Vagen und in der Unverbindlichkeit liegt. Blut ohne Adern verblutet und Adern ohne Blut verkalken. Was nottut ist, dass die einzelnen Konfessionen verschiedene Wege sehen lernen zu dem einen Ziel – zum „einen Gott“. Das Ziel ist immer das Wesentliche, und je mehr es uns um das Wesentliche geht, umso weniger werden wir uns über die Verschiedenheit der Wege aufregen müssen. Schließlich ist der religiöse Mensch derjenige, der nicht zu hochmütig ist, um dieses „Etwas“ als „Gott“ zu bezeichnen. Jenes Wort, das Menschen seit Jahrtausenden verwenden, wenn sie von dem reden, der oder die oder das größer ist.
6Tiziano Terzani, Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens, München 2014, 523.
7Václav Havel, Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis, Reinbek bei Hamburg 1989, 98.