Читать книгу Mich in meinem Leben finden - Inge Patsch - Страница 9

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Die Welt, in der wir leben

Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich ergeht: Sehnen Sie sich auch nach Zuversicht und ein wenig mehr Fröhlichkeit? Die Stimmung in unserer Gesellschaft ist nicht gerade von Zuversicht getragen. Manche blicken besorgt in die Zukunft und scheinen Schlechtes zu erwarten. Gründe gibt es dafür reichlich und einige Sorgen sind berechtigt.

Gedanken haben Kraft und Einfluss auf unser Leben, und wenn die Sorgen zu groß werden, fehlen Vertrauen und Hoffnung und die Angst beginnt zu regieren. Während Unsicherheit den Zweifel nährt, füttert die Angst den Verdacht. Die Angst ist meistens eine Souffleuse mit falschem Text. Angst vernebelt nicht nur den Blick, sondern lähmt unsere Tatkraft, weil sie uns zuflüstert: Du bist nicht gut genug. Wer sich selbst nicht als wertvoll wahrnehmen und erkennen kann, verliert nicht nur das Interesse, sondern auch die Kraft, etwas Neues zu beginnen. Überdies ist der Blick auf das Ergebnis gerichtet und man möchte sicher sein, dass es auch eintrifft. Ob Geplantes oder Gewünschtes gelingt oder nicht, können wir niemals im Voraus sagen. Daher bleibt uns wohl nichts anderes übrig als zu lernen, dem Leben selbst zu vertrauen.

Dazu gehört, dass ich mir vertraue und der leisen Stimme in mir, die sich von Zeit zu Zeit meldet. Mich selbst finden bedeutet, mir meiner Interessen, Fähigkeiten und Talente bewusst zu werden und sie nach Möglichkeit auch zu beleben. Mich in meinem Leben zu finden schließt auch meine Mitmenschen ein – und ist letztlich eine besondere Form der Lebenskunst. Diese Kunst weiß um die unglaubliche Vielfalt der Lebensmöglichkeiten, doch sie ist auch realistisch und hat erkannt, dass nicht alles gelebt werden kann. Lebenskunst hat viel damit zu tun, dass ich einige jener Lebensmöglichkeiten verwirkliche, die ich bejahen kann, und die anderen, die ich nicht frei gewählt habe, gestalte. Die Einsicht, dass unsere Freiheit begrenzt ist durch Raum und Zeit, ist hilfreich, entlastend und manchmal dringend notwendig.

So wie ein Baum im Wald unter vielen Artgenossen wächst und gedeiht, leben wir mitten unter Menschen und jeder davon ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit zeugt von der Kreativität des Lebens und hat uns mit einer großen Vielfalt an Entdeckungen beschenkt. In manchen Lebenslagen ist die Einmaligkeit der anderen anstrengend und fordert uns heraus – manchmal bis an unsere Grenzen. Dann wäre es gut, einen Ort zu haben, an dem man auftanken kann. Dieser Ort können auch unsere Gedanken und unsere geistigen Fähigkeiten sein, sofern wir sie gepflegt haben.

„Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum.“ Dieser Gedanke von Hilde Domin ist ein schönes Bild für Vertrauen. Ein Baum gräbt seine Wurzeln ins Erdreich, das ihn nährt. Unsere Wurzeln, welche im Leben selbst geerdet sind, verlangen nach geistiger Nahrung und dadurch wächst unser Vertrauen. Unsere Seele verlangt nach geistigen Lebensmitteln und diese sollen erfreuen, ermutigen, beleben und dem Geheimnisvollen und Phantastischen Raum zur Entfaltung schenken. Die ignatianische Spiritualität bedeutet, dass das innere Berührtsein die Seele mehr sättigt als das logische und beweisbare Verstandeswissen.

Für unser körperliches Wohlbefinden gibt es eine Fülle an Wegweisern, welche Ernährung und Bewegungsmöglichkeiten im Blick haben. Sie ersparen uns jedoch nicht die eigene Wahrnehmung. Jeder Mensch kann nur selbst wahrnehmen und empfinden, ob die empfohlene Nahrung seinem Körper auch guttut. Wegweiser zeigen die Richtung an, aber gehen muss ich selbst und ich muss mir bewusst werden, ob meine Kraft für den eingeschlagenen Weg reicht.

Ganz ähnlich verhält es sich mit jener geistigen Nahrung, die dem Sinnvollen Lebendigkeit schenkt. Ein Wegweiser weist auf etwas hin, jedoch befiehlt er mir nicht, wohin ich zu gehen habe; das entscheide ich kraft meiner Freiheit und Verantwortung. Die Logotherapie und die Inhalte der ignatianischen Spiritualität sind sinnvolle Wegweiser, die dem Menschen Orientierung anbieten. Die Entscheidung, welchen Weg er gehen möchte, überlassen sie dem Menschen selbst. Bereichernde theoretische Grundlagen laden zum Nachdenken ein und sind Richtungspfeile, Stoppschilder und Spielregeln, die vor allem dem Wohl, der Würde und der Lebensfreude des Menschen dienen.

Mir geht es weniger um Handlungsanweisungen oder Strategien, die jemand genau zu befolgen hat, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Rezepte selten das halten, was sie versprechen. Ich gebe Anregungen weiter, die mir in meinem Leben Orientierung gaben, mich in schwierigen Zeiten ermutigt und mein Vertrauen ins Leben gestärkt haben.

Ratgeber können allerdings auch zu Irrlichtern werden und in Sackgassen führen. In Sackgassen geraten wir meistens dann, wenn wir ein bestimmtes Ziel unbedingt erreichen wollen und übersehen, dass es nicht damit getan ist, ein Rezept oder eine Norm zu befolgen.

Wahrzunehmen ist etwas völlig anderes als zu reflektieren. Es geht nicht ständig um ein seelisches Pulsfühlen, z. B. durch das Ziehen einer Engelskarte, die mir sagen soll, wie es mir geht. Wahrnehmen wäre einfach, wenn man sich Zeit nimmt und sich selbst fragt: Was fühle ich jetzt? Was denke ich jetzt? Wofür tue ich das, was ich gerade tue? Diese drei Fragen sind subjektiv, und die Antworten können unser Vertrauen ins Leben und in uns selbst stärken. Bei diesen Fragen geht es nicht darum, eine Vorschrift zu befolgen oder das zu denken und zu tun, was man soll. In vielen Bereichen unserer Gesellschaft haben wir die Sprache verloren, welche unser Empfinden beschreibt. Wir sollten viel mehr darüber reden und lernen zuzuhören, ohne sofort eine Lösung parat haben zu wollen. Vorerst geht es dabei um das Interesse an der Tiefendimension des Lebens.

Geschichte zur Inspiration

Meine Mutter hat mir für die Bewältigung meines Lebens eine stattliche Anzahl von „Wenn-dann-Strategien“ mit auf den Weg gegeben. Das war in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine durchaus gängige Erziehung. Im Falle meiner Mutter war die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten noch nicht sehr lange vorbei, und das Befolgen von Normen hat das Leben meiner Mutter geprägt. Das Wichtigste war: „Sei brav und mach uns keine Sorgen!“ Unter Bravsein habe ich verstanden, dass ich für die gute Stimmung in der Familie verantwortlich war, und „Keine Sorgen machen“ brachte ich mit guten Schulnoten in Verbindung. Beides nahm ich sehr ernst und dies hatte einerseits den Vorteil, dass ich sehr früh lernte, was Verzicht bedeutet und was arbeiten heißt. Der Nachteil dieser Erziehung lag im mangelnden Bewusstsein von Freiheit. Als Kind konnte ich meine Meinung nicht äußern, weil sie nicht der Weltanschauung meiner Mutter entsprochen hat. Diese innere Zwickmühle löste ich manchmal mit kreativen Lügen auf, um z. B. wenigstens hie und da ins Kino gehen zu können. Die Kinokarte bezahlte der Vater einer Schulfreundin, doch mein Bravsein ging so weit, dass ich während des Films gegangen bin, weil ich nicht riskieren wollte, zu spät nach Hause zu kommen. Mit 17 Jahren war ich Mitglied eines Jugendchores, der in der Kirche sang. Zweimal jährlich gab es Ausflugswochenenden, um neue Lieder zu lernen. Einmal fiel das Chorwochenende auf den 1. November. Die Teilnahme war an mein Versprechen gebunden, am Allerheiligentag um 14.00 Uhr pünktlich beim Familiengrab zu sein. Das Singwochenende hat damals auf einer Almhütte stattgefunden, und ich musste allein durch den Wald gehen und mit dem Zug nach Hause fahren. Ich hatte nicht den Mut, nicht am Friedhof zu erscheinen. Bei diesem übermäßigen Bravsein war ich zugleich traurig und wütend, dass ich nicht bei meinen Freunden sein konnte, und beim Lügen hatte ich ein schlechtes Gewissen. Meistens habe ich gefolgt, damit die Stimmung meiner Mutter nicht in eine tagelange Eiszeit ausartete.

Innere Spurensuche

Was fühle ich jetzt?

Was denke ich jetzt?

Wofür tue ich das, was ich gerade tue?

Viktor E. Frankl und Ignatius von Loyola als Wegweiser

Das Schicksal, das ein Mensch erleidet, hat also erstens den Sinn, gestaltet zu werden – wo möglich –, und zweitens, getragen zu werden – wenn nötig.8
Es gibt Dinge, die unter eine unabänderliche Wahl fallen.9

Viktor E. Frankl unterscheidet zwischen soziologischem, biologischem und psychologischem Schicksal. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, betrifft mein soziologisches Schicksal. Da es Dinge gab, die nicht zu verändern waren, hatte ich in meiner Jugend nicht besonders viele Wahlmöglichkeiten. Vielleicht ist daraus die Sehnsucht entstanden, mich in meinem Leben zu finden. Freiheit mit der Verantwortung zu verbinden, wofür es sich zu leben lohnt, gehört für mich zu den höchsten Werten in meinem Leben.

8Frankl, Ärztliche Seelsorge, 151.

9Ignatius, Geistliche Übungen, 62.

Mich in meinem Leben finden

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