Читать книгу Pop-Tragödien - Ingeborg Schober - Страница 5
ОглавлениеVorwort
»If I swallow anything evil, put your fingers down my throat
and if I shiver, please give me a blanket,
keep me warm, let me wear your coat.
No one knows, what it's like to be the bad man
To be the sad man behind blue eyes...«
(»Behind Blue Eyes«, The Who – Limp Bizkit)
Die verflixte Siebenundzwanzig ist ein magischer Geburtstag für Popmusiker. Wer dieses Lebensjahr überstanden hat, ist vorerst auf der sicheren Seite. Ob Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Kurt Cobain – und auch viele weniger bekannte wie Gram Parsons oder Pete Ham von Badfinger: Viele starben mit siebenundzwanzig und wurden zu Legenden, um die sich der Mythos der »viel zu früh Verstorbenen« rankt. Von ihnen weiß man, dass ihr Leben von Ruhelosigkeit und Leichtsinn, Hedonismus und Hyperaktivität, Lebensgier und Selbstzerstörung, von einem manischen-depressiven Auf und Ab geprägt war – und auch von der Unfähigkeit, mit dem Erfolg umzugehen. Manch einer lebte ein schnelles, exzessives Leben auf der Überholspur, weil er ahnte, dass ihm nicht viel Zeit blieb – und nicht umgekehrt. Nicht umsonst gestand Falco: »Meine Midlife-Crisis hatte ich mit Siebenundzwanzig.« Die Twenty-Somethings sind nicht erst seit der Generation X eine selbstmordgefährdete Altersgruppe.
Natürlich macht der frühe Tod die Tragödie noch tragischer. Doch wie tragische ein Leben sein kann, das fast ein ganzes Jahrhundert dauert, zeigt die verwickelte Lebensgeschichte des russischen Erfindergenies und Musikers Leon Theremin (1896 – 1993), der die elektronische Musik begründete und zum Spielball der Weltpolitik wurde. Oder das von Beach Boy Brian Wilson, der als Einziger des ganz und gar nicht surf-fröhlichen Familien-Clans nach jahrelangen Therapien einen Weg fand, sich mit seinem Ich zu versöhnen. Und welche Ironie des Schicksals, wenn Nico, nach weitgehend gelungener Drogentherapie, wegen eines Hitzschlags vom Fahrrad fällt und stirbt.
Ich wollte ein Jahrhundert Pop-Geschichte erzählen, anhand von Tragödien, die auch die jeweilige Zeit und Gesellschaft reflektieren. Manche sind an zeittypischen Tabus gescheitert, der Doppelselbstmord von Soeur Sourire und ihrer Freundin hat mit der Stellung von Kirche und Religion in den frühen 1960er Jahren zu tun. Milli-Vanilli-Mitglied Robert Pilatus wiederum war der gnadenlosen »Hinrichtung« in den heutigen Medien nicht gewachsen, Sid Vicious und Nancy Spungen, die glücklosen Kinder der No-Future-Generation, saßen dem Mythos der Punkbewegung auf. Die zehn Geschichten dieses Buches bilden einen Bogen von 1896 bis 2004 und einige dieser Künstler wie die Beach Boys, Nico, Falco oder Kurt Cobain beeinflussen bis heute die Popmusik.
Manche Geschichten gehen in diesem Buch da weiter, wo sie in anderen aufhören, wie nach der Abblende im Film. Bisweilen sind bis über den Tod hinaus mehrere Schicksale miteinander verknüpft. Die Überlebenden werden posthum in die Tragödie mit hineingezogen (wie etwa die Kinder von Badfinger) oder profitieren sogar davon (wie etwa die Cobain-Witwe Courtney Love). Und die Biografien greifen ineinander, denn die Pop-Welt ist ein in sich geschlossener Kosmos, ein Stromkreislauf, in dem auch negative Energien weiterwirken und andere tangieren. Die Wege der Stars kreuzen sich oft zufällig und nach Ablauf eines Lebens gibt es gleich mehrere Opfer.
Etliche Schicksale stehen exemplarisch für andere: Die Beach Boys etwa sind genau so eine Familiengruppe wie die Jackson Five, von denen der unglückselige Michael Jackson nach einer langen Kette von Erfolgen und Skandalen nur noch unter Dauermedikation leben konnte und schließlich genau daran sterben musste – ehrgeizige und künstlerisch gescheiterte Eltern trimmen ihre Kinder ohne Rücksicht auf deren Psyche zum Star-Ruhm. Auch die gnadenlose Vermarktung von naiven Musikern wie Badfinger oder Reißbrett-Gruppen à la Milli Vanilli durch gerissene Geschäftemacher mit Dollarzeichen in den Augen wiederholt sich immer aufs Neue.
Die Ursache der Konflikte, die zur Tragödie führen, liegen bei fast allen in der Kindheit und einer unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. Wenn der Lebenszug entgleist, ist meist auf die eine oder andere Weise die Liebe schuld, die Sucht nach Liebe, falsch verstandene Liebe, Selbstliebe und Selbsthass – und das ewige, oft zwanghafte Buhlen um Anerkennung. Ruhm, Geld und Drogen sind nur das Beiwerk, die Faktoren, die das Drama erhöhen und ihm im Gegensatz zum Scheitern Normalsterblicher Glamour verleihen. Die größten Helden versagen im Alltag und im Privatleben, siehe den fast heilig-gesprochenen Spenden-Apostel »Sir« Bob Geldorf, der mit seiner Eifersucht in seiner Familie eine Tragödie auslöste. Oder der zutiefst empfundene Verrat wie bei Falco, dem ein »Kuckuckskind« untergeschoben worden.
Natürlich gäbe es noch mindestens dreißig weitere, ähnliche Schicksale zu erzählen, aber eben ähnliche; auch sie gingen um Liebe, Drama, Kunst und Wahnsinn. Meine Auswahl ist bewusst eine subjektive, die auf mehreren Kriterien basiert. Deshalb spielte dabei nicht unbedingt Bekanntheitsgrad oder künstlerischer Stellenwert eine Rolle, sondern eine Lebensgeschichte, die nicht nur die Musikwelt bewegte. Ich wollte Pechvögel auf der schiefen Bahn des Lebens zeigen, die unter einem schlechten Stern geboren oder zum Spielball des Schicksals geworden waren und die bis heute die Gemüter erregen. Manche kennt kaum einer wie Leon Theremin (aber viele kennen seine Nachfolger wie Moog); manche sind fast vergessen wie Badfinger (im Gegensatz zu ihrem Welthit »Without You«); andere sind so noch nie erzählt worden wie etwa das Vorleben von Milli Vanilli. Einige der Stars, deren trauriges Ende ich hier schildere, habe ich persönlich kennengelernt, mit Falco oder Bob Geldorf etwa habe ich lange Gespräche geführt.
In letzter Zeit wird der Begriff »Wahrheit« im Zusammenhang mit Enthüllungsbüchern reichlich überstrapaziert, wobei das Wort Wahrheit allein nicht auszureichen scheint und mit Attributen wie die »goldene«, die »ganze«, die »ultimative« verstärkt wird. Aber die Wahrheit über schillernde Stars ist und bleibt eine trügerische. Die meisten haben ab einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Karriere ein Image-gerechtes Leben mit vorfabrizierten Biografien und medientauglichen Lebenslügen gelebt. Was ist also die Wahrheit? Selbst die intensivsten Recherchen bringen eines nicht zutage – die bitteren und schäbigen Momente des Todes, in denen sie alle mit ihrer Verzweiflung und ihren Ängsten alleine waren.
»What a wicked game to play to make me feel this way
What a wicked thing to do to make me dream of you
What a wicked thing to say you never felt this way
What a wicked thing to do to make me dream of you
No, I don't wanna fall in love (this world is only gonna break your heart)
… Nobody loves no-one.«
(»Wicked Game«, Chris Isaac)
Ingeborg Schober