Читать книгу Pop-Tragödien - Ingeborg Schober - Страница 9
ОглавлениеSoeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit. Ich sah ihre Seele auf einem fliegenden Teppich durch die Wolken fliegen ...« - Wie kommt eine bis dahin unbeschwerte und unbescholtene Nonne, die unter dem Künstlernamen Soeur Sourire mit ihrem fröhlichen Chanson »Dominique« 1963 die internationalen Hitparaden erobert hatte, dazu, solche Textzeilen für ein Lied zu schreiben? Auch wenn man aufgrund ihres tragischen Todes 1985 versucht ist zu glauben, sie hätte bereits damals, 1967, Selbstmordgedanken gehegt, ist das pure Spekulation. Die »lächelnde Nonne« oder die »singende Nonne«, wie sie in die Geschichte der Popmusik einging, wollte damit vielmehr eine weitere ihrer Alias-Figuren, eines ihrer Pseudonyme, begraben, um unter dem neuen Namen Luc Dominique ein neues Kapitel ihres kurzen und dennoch sehr bewegten Lebens aufzuschlagen. Denn später heißt es im Text:
»Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit …, ich habe meine Mitmenschen um die Erlaubnis gebeten, mich weiter zu entwickeln, geweiht unter ihnen zu leben, in Shorts oder Kleidern, Blue Jeans und Pyjama ...«.
Jeder dieser sehr unterschiedlichen Lebensabschnitte fand unter einem anderen Namen statt. Man könnte also durchaus behaupten, die Frau hatte keine wirkliche Identität - oder vielmehr, sie hatte ihre Identität schon geopfert, als sie ins Kloster eintrat.
Ihr richtiger Name war Jeanine (Jeanne-Paule Marie) Deckers. Geboren wurde sie am 17. Oktober 1933 in Brüssel als Älteste von vier Geschwistern - Hubert, Edgard und Madeleine. Ihr Vater Lucien war Konditormeister und die Mutter Gabrielle Hausfrau. Sie hatten 1932 geheiratet, er mit 29, sie mit 20. Die wohlbehütete Kindheit endete für Jeanine mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges. Ihr Vater Lucien befürchtete zu Recht, dass auch der wallonische Teil Belgiens darunter leiden würde. Also machte er sich zu Beginn des deutschen Westfeldzuges mit seiner Familie nach Frankreich auf, in der Hoffnung, die Franzosen würden der Übermacht der deutschen Wehrmacht länger standhalten. Doch als sie endlich in Paris ankamen, war dieses bereits von den Deutschen besetzt. Vater Lucien kämpfte als Mitglied der Résistance im Untergrund gegen die Nazis und ließ seine Familie oft in Paris allein, wo sie sich bis Kriegsende 1945 mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Danach kehrten die Deckers wieder nach Belgien zurück. Jeanine, die mit ihren zwölf Jahren bereits alle Schrecken, die ein Krieg mit sich bringt, erlebt hatte, machte in Saint Henri nahe Brüssel ihren Schulabschluss.
Die introvertierte Jeanine hatte schon sehr früh ein zeichnerisches und malerisches Talent gezeigt und kehrte 1953 nach Paris zurück, um sich dort an einer Kunstschule als Zeichenlehrerin ausbilden zu lassen. Danach unterrichtete sie bis 1959 an einer Mädchenschule in ihrer Heimatstadt Brüssel.
Was in diesem Jahr zu einem extremen Bruch in ihrem Lebenslauf und einer völlig neuen Orientierung führte und sie dazu brachte, dem Dominikanerinnenorden von Fichermont bei Waterloo beizutreten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Bis dahin hatte sie keinerlei Anzeichen überzeugter oder schwärmerischer Religiosität gezeigt. Auch ihre Familie war offenbar nicht sonderlich religiös geprägt. Aus finanzieller Not heraus geschah es ebenfalls nicht und es wird auch von keinem spirituellen Schlüsselerlebnis berichtet, das sie zu diesem Schritt bewegte.
Doch sie war verlobt und offenbar bitter enttäuscht, als der Verlobte sie sitzen ließ. So ist die Vermutung am naheliegendsten, dass sie letztlich wegen einer unglücklichen Liebe ins Kloster flüchtete. Dafür spricht, dass sie Mitte der 1960er Jahre in einem Interview Folgendes eingestand: »Ich bin nicht gegen die Ehe, aber die meisten Ehen, die ich kenne, sind deprimierend ... ich bin mir sicher, dass auch unsere Ehe nicht funktioniert hätte, wenn ich meinen Verlobten geheiratet hätte. Ihm fehlte eine gewisse Abenteuerlust.«
Gleichzeitig erklärte sie in diesem Interview auch noch: »Vielleicht heirate ich ja einen netten Dominikanerpriester und wir bekommen Dominikanerbabies. So unwahrscheinlich, wie das klingt, ist das gar nicht.«
Ihre Art von Humor war manchmal so seltsam, dass die Leute oft nicht wussten, ob sie es ernst meinte oder sich über ihr Gegenüber lustig machte. Deshalb hielten sie die einen für etwas einfältig, die anderen für eine Zynikerin. In Wirklichkeit war sie wohl nur eine Träumerin.
Im Kloster wurde sie zu Schwester Luc-Gabrielle - auch dazu existieren zwei Erklärungen. Der ersten Version zufolge nannte sie sich einfach nach den Vornamen ihrer Eltern, der zweiten - und wesentlich romantischeren nach - war es der Vorname ihres verflossenen Verlobten.
Im Konvent herrschten damals noch strenge Regeln, die Nonnen durften zum Beispiel nur selten miteinander reden. Doch Luc-Gabrielle hatte ihre Gitarre mitgebracht und unterhielt sich und ihre Mitschwestern mit religiösen Liedern, anfangs sehr zum Ärger der Mutter Oberin. Doch bald hatte Luc-Gabrielle deren Segen, da zur Tradition des Ordens auch die Jugendarbeit gehörte, und die junge Schwester bei Treffen mit jungen Mädchen das kirchliche Liedgut pflegte. Irgendwann fing sie an eigene Lieder zu komponieren, darunter auch das aufmunternde Chanson »Dominique« über den Begründer des Dominikanerordens:
»Dominique, Dominique, der zog
fröhlich in die Welt, zu Fuß und ohne Geld.
Und er sang an jedem Ort immer wieder Gottes Wort ...
Ohne Pferd und ohne Wagen zog er durch Europa hin,
denn die Armut war ihm heilig, sie war seines Lebens Sinn ...«
Domingo de Guzman hatte 1215 den Bettelorden gegründet, der durch Predigt und Unterricht die dem Papsttum feindlich gesinnten Albigenser »zurück auf den rechten«, also papsttreuen
Kurs bringen sollte. Er wurde später heilig gesprochen. Luc-Gabrielle beschrieb in ihrem Lied »Dominique« fröhlich und beschwingt das Leben des »mutigen und braven Heiligen«. Natürlich wies sie dabei weder auf die Rolle des Ordens in den blutigen Kriegen gegen die Albigenser oder gar auf die führende Rolle der Dominikaner während der Inquisition hin. Kritik an der Kirche prägten erst ihre späteren Texte. Als sie ein Plattenstudio für eine kostenlose Aufnahme fand, machte sie der Schwester Oberin eine Single des Liedes zum Geschenk. Diese beschloss, mit der Platte Geld für die Missionarsarbeit des Ordens in Afrika zu sammeln, obwohl sie sich später sehr abfällig über den Song äußerte - »zu kavaliersmäßig und oberflächlich«. In der »Newsweek« wurde sie später gar so zitiert: »Der heilige Dominik wurde hier mit plumper Vertraulichkeit und mit einem Anflug von Impertinenz abgehandelt.« Im Verlauf der Zeit wurde klar, dass das Verhältnis der beiden Frauen von Anfang an großen Spannungen unterlag.
Auf Umwegen bekam der holländische Plattenkonzern Philips die Single zu hören, erkannte das Verkaufspotenzial und nahm die singende Nonne unter Vertrag. Zu Recht witterte man dort einen neuen Hit, denn religiöse Popschlager und klerikale Chansons schienen nach dem Erfolg von »Danke für diesen guten Morgen« von Jesuitenpater Père Duval der neueste Trend zu sein und standen entsprechend hoch im Kurs. Das ging Hand in Hand mit der kirchlichen Öffnung: Mit dem 2. Vatikanischen Konzil - 1962 von Papst Johannes XXIII ins Leben gerufen - wurde die Modernisierung der katholischen Liturgie vorangetrieben. Damit sollten auch die Laien gestärkt und der Gedanke der Ökumene gefördert werden.
Trotzdem durfte Luc-Gabrielle als Nonne natürlich keine Geschäfte tätigen, also wurde der Plattenvertrag mit dem Orden abgeschlossen. Den miserablen Bedingungen nach standen der Nonne drei Prozent von den insgesamt neunzig Prozent des belgischen Großhandelspreises und lächerliche anderthalb Prozent für Auslandsverkäufe zu. Laut Vertrag durfte sie weder den Ordensnamen nennen noch Fotos von sich veröffentlichen. Beides Punkte, bei denen sich der Orden in den kommenden Jahren wie in vielen anderen Dingen ebenso inkonsequent wie unmenschlich verhielt.
Da die Plattenfirma ohnehin nach einem griffigen Künstlernamen suchte, beauftragte sie eine Schulklasse mit dem Brainstorming und der Gewinner auf der Vorschlagsliste war »Soeur Sourire«, die »lächelnde Nonne«. 1963 wurde die Single »Dominique«, teils englisch, teils französisch gesungen (später folgte auch eine deutsch gesungene Version) veröffentlicht. Die Zeichnung der musizierenden Nonnen auf dem Plattencover stammte von Soeur Sourire selbst, die später auch den Umschlag für die LP »The Singing Nun« gestaltete.
Die Nonne ließ sich bestens vermarkten - und bald war im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Das naive Chanson wurde binnen kürzester Zeit ein Hit in Belgien und Frankreich, eroberte die Top Ten von Deutschland und den Beneluxländern und avancierte zum weltweiten Millionenseller mit unzähligen Coverversionen - und zur Hymne von Pfadfindern und Wandervögeln. Der singenden Nonne gelang sogar etwas, was bis dahin nur Elvis Presley geschafft hatte: sowohl die LP »The Singing Nun« als auch die ausgekoppelte Single »Dominique« standen im Dezember 1963 auf Platz 1 der US-Charts. Die Single verdrängte gar Elvis Presley von der Chartspitze, wurde als erste europäische Single - und bis heute als einzige aus Belgien - mit einem Grammy ausgezeichnet, und zwar in der Kategorie »Bester Gospel beziehungsweise religiöse Musikaufnahme«.
Als sie das Angebot bekam, 1964 in der populären, amerikanischen Fernsehsendung The Ed Sullivan Show aufzutreten, lehnte der Konvent das natürlich ab. Doch man hat nicht mit der Hartnäckigkeit und Chuzpe der Fernsehmacher gerechnet, die eines Tages mit dem Talkmaster Ed Sullivan persönlich samt einem riesigen Team im Kloster Fichermont auftauchten und von dort aus live berichten wollten. Da in Amerika schon damals Gospelgottesdienste und Fernsehprediger zum festen Programm gehörten, gab man sich mit der Absage der Mutter Oberin nicht zufrieden. Schließlich wurde die Erzdiözese eingeschaltet, die eine Einwilligung zu einer Filmaufzeichnung gab, die später im Rahmen der Fernsehshow lief.
Ungeübt im Umgang mit Presse und Öffentlichkeit, erzählte Soeur Sourire bisweilen ziemlich seltsame Geschichten. So schilderte sie einem Journalisten die kleinen Freuden im ansonsten strengen Klosterleben so: »Ab und an mal stellen wir die Heiligenbilder auf den Kopf, das ist mehr als heiter.«
Die gesichtslose Nonne in Habit mit Haube, mit einer dicken Brille und dem breiten, etwas verklärten Lächeln, die einfach so nebenbei einen Grammy kassiert hatte, erregte natürlich bald das Interesse von Hollywood. Kinofilme über mildtätige, sich aufopfernde Nonnen waren schon immer sehr beliebt. Und eine echte, junge Nonne, die auch noch singen konnte, kam den Drehbuchautoren gerade recht. 1966 wurde das Thema mit der keimfreien Blondine Debbie Reynolds unter dem Titel »Dominique - die singende Nonne« verfilmt. Regisseur des sentimentalen Machwerks über eine moderne, auf dem Motorroller mit ihrer Gitarre herumdüsenden Nonne, die sich dann auch noch ganz irdisch verliebt, war Henry Koster. Die idealistische Filmnonne Ann will unbedingt Kindern in Not helfen und begegnet einer alten Liebe wieder, was zu einer angedeuteten Romanze führt. Doch schließlich entscheidet sie sich für die Missionarsarbeit in Afrika und verschenkt gar die geliebte, allzu weltliche Gitarre. Soeur Sourire selbst distanzierte sich von diesem moralinsauren Melodram mit den Worten »reine Erfindung«, die Kritiker taten es als »süßliche Pappe« ab, obwohl es eine Oscar-Nominierung für die Musik gab.
Als der Film in die Kinos kam, wurde der Mutter Oberin der ganze Medienrummel schließlich zu viel. Sie verbot Schwester Luc-Gabrielle einen neuen Plattenvertrag zu unterschreiben, was zum endgültigen Bruch zwischen ihr und dem Orden führte. Sowohl der Fernsehauftritt als auch die Interviews, vor allem aber der Filmvertrag dürften dem Orden allerdings ein ganz ordentliches Sümmchen eingebracht haben, von dem die naive Nonne kaum etwas sah.
Schwester Luc-Gabrielles eigenes, ungetrübtes, idyllisches, fast himmlisches Märchen im Breitwandformat bekam damals die ersten Risse. Für die Nonne, die mit ihrer Stimme klar wie Quellwasser die zynische Welt der Medien erobert hatte, warteten die wirklichen Probleme allerdings draußen vor den schützenden, wenn auch für sie einengenden Klostermauern. 1966 verließ sie als eine der ersten geweihten Laienschwestern das Kloster Fichermont. Damit gehörte sie weiterhin dem Dominikanerinnenorden an, lebte aber nicht mehr im Konvent. Das Kloster stellte zwei knallharte Bedingungen: Sie durfte für weitere Platten nicht mehr ihren weltberühmten Künstlernamen Soeur Sourire benutzen, und sie durfte das Kloster keinesfalls mehr in irgendeinem Zusammenhang erwähnen. Damit wurde Luc Dominique - wie sie nun hieß - vom internationalen Markenartikel über Nacht zur unbekannten Sängerin. Von Geschäften verstand die Ex-Nonne rein gar nichts. Gemäß dem Armutsgelübde hatte sie als Schwester Luc-Gabrielle den Löwenanteil ihrer Tantiemen aus dem Plattenverkauf an den Orden abgeführt, der auch nach ihrem Austritt weiterhin ihre Finanzen betreute - ein tödliches Verhängnis, wie sich später herausstellen sollte.
Im Oktober 1966 gab sie ihre erste Pressekonferenz als weltliche Künstlerin Luc Dominique und bekam das, was man heute in der Showbranche ein Image-Problem nennt. Bislang hatte sich die sogenannte »Twistnonne« oder »religieuse yé-yé« als Exotikum in fliegender Kutte trefflich vermarkten lassen. Doch als etwas altbacken wirkende Durchschnittsfrau in Zivil mit dicker Brille verlor sie jeglichen Reiz für Presse und Publikum und musste zudem mit anderen, weltlichen Sängerinnen konkurrieren, ohne für das Showgeschäft präpariert zu sein. Für die Zeitschrift »McCall's« sah das so aus: »Sie wirke schüchtern, nicht gerade fröhlich, so, als würde sie sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Sie ist bis auf etwas rosa Lippenstift ungeschminkt und sieht fünf Jahre jünger aus. Sie trägt eine Blümchenbluse über einem grauen, knielangen Faltenrock. Ihre langen, schlanken Beine betonen hochhackige, schwarze Pumps, in denen sie erst kürzlich zu laufen gelernt hat.« An anderer Stelle wurde sie in diesem Artikel auch als »breitschultrig«, mit »Hängebusen« und »matronenhafter Haltung« beschrieben. Die Schlagzeile dazu lautete: »Sie trägt Pumps, raucht bisweilen und lobt in einem Lied die Pille.«
Die Welle der christlichen Chansons war inzwischen abgeebbt, also versuchte sie 1967 auf ihrem Album mit dem programmatischen Titel »I'm Not A Star« den textlichen Spagat zwischen Weltlichem und Religiösem. Sie besaß durchaus das Talent, schwierige Themen weiterhin fröhlich-naiv zu verpacken und zeigte sich zusehends als eine Streiterin für Emanzipation und die Modernisierung der Kirche. Bisweilen wurde ihre Selbstironie jedoch gründlich missverstanden, vielleicht bewusst, weil ihr Spott auch nicht vor der Presse haltmachte, die sie als singende Nonne verklärt hatte. Wie etwa auf dem oft zitierten Song »Luc Dominique«, mit dem sie die singende Nonne zu Grabe trug. »Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit …« »Ich mache mich über die Herren Journalisten und Plattenhändler lustig, die bestimmt wieder alles falsch verstehen und schimpfen werden. Aber der heilige Dominikus mag ihnen die Gerüchte vergeben, die sie jetzt wieder in Umlauf bringen werden.«
Doch Luc Dominique war längst nicht so selbstsicher, wie sie sich gab, im Gegenteil. Ihre Zweifel wuchsen. Der Zeitschrift »Constanze« erklärte sie: »Ich fühle mich schrecklich unter Druck. Man investiert so viel Geld in mich. Was aber, wenn ich scheitere?« Mit den Zweifeln kamen auch die Widersprüche. Das Leben im Kloster war einfach gewesen, dort waren die Regeln in einer klar strukturierten Lebensgemeinschaft vorgegeben. Mit einem Mal war sie einer Welt ausgesetzt, von der sie wenig Ahnung hatte, auch den Versuchungen, die diese neue, ungewohnte Freiheit mit sich brachte. Sie wurde mit Karriereentscheidungen konfrontiert, ohne professionelle Berater zu haben - doch auf diese Idee kam sie wohl ohnehin nicht, im festen Glauben an Gott.
Und es blieb ihr keine Zeit, sich langsam anzupassen und zu lernen. Denn von Beginn an stand sie bei jedem Schritt im Scheinwerferlicht. Sie war offen und ehrlich und sang und sagte immer eins zu eins, was sie dachte, weil sie es so gelernt hatte. Und damit machte sich die weltfremde Luc Dominique verletzlich und für jedermann angreifbar. So gab sie etwa unumwunden zu, dass sie unter Schlafproblemen leiden und deshalb Tranquilizer nehmen würde, und gestand: »Auch wenn ich bisweilen dem Luxus fröne, ich weiß, es ist besser diesen Versuchungen zu widerstehen.« Und dichtete deshalb für das Lied »Je ne suis pas une vedette« die Zeilen: »Man überreicht mir eine Goldene Schallplatte. Was soll ich damit anfangen? Man sagt mir: ›Das ist doch phantastisch. Jetzt sind Sie Millionärin!' - 'Eh oui, vergessen Sie nicht, ich bin kein Star. Sie irren sich. Wenn der Herr mich hat zum Star werden lassen, dann nur, damit ich aus ihm einen Star mache …‹«
Früher hatte sie Launiges über ihre Gitarre Adèle »Soeur Adèle« gesungen, über Gottes wunderbare Schöpfung, über religiöse Ziele und Trost durch den Herrn. Nun setzte sie sich - wohlgemerkt immer noch in dessen Namen - vermehrt für weltliche Dinge ein und schien es geradezu auf Provokation anzulegen. Zumindest ließ sie kein Fettnäpfchen aus, wenn es zu der einen oder anderen Textverirrung kam. In dem Song »Bain de soleil« erkennt sie die Allmacht Gottes nicht nur in den wärmenden Sonnenstrahlen, sondern sogar in der Evolution und in der Radioaktivität.
In ihrem kämpferischen und mutigen Song über die Antibabypille im modernen Mariachi-Sound »La Pilule d'Or« (»Die goldene Pille«) wagte sie sich an ein damals geradezu politisch brisantes Thema und löste einen Skandal aus. Die Antibabypille war noch heftig umstritten und der Papst hatte sie den Katholiken verboten. Dennoch pries sie Gott hymnisch für seine Weisheit und dankte ihm für dieses Geschenk, mit dem er viel irdische Not verhindern würde. Indirekt ist das Lied damit auch ein Plädoyer für freie Liebe, für eine gesunde Sexualität ohne Folgen für die Frau: »Als unsere Großmütter ihren Hausstand gründeten, sagte man ihnen: 'Meine Tochter, sei brav und deinem Manne untertan. Setz eine große Familie in die Welt und empfange in Freuden die Kinder, die Gott dir schickt.' Heute ist die goldene Pille da. Die Biologie hat einen großen Schritt getan. Herr, wir preisen dich.«
Luc Dominique hatte sich nicht vom Glauben ab gewandt, aber von der Institution Kirche.
Das war starker Tobak, zumal sie in Interviews den Papst wegen seiner strikten Ablehnung der Pille persönlich angriff: »Er sollte die Antibabypille befürworten, denn das ist das einzig Intelligente und Richtige, was er tun kann. Ich finde es schockierend, dass sie nicht jeder Frau, die sie haben möchte, zur Verfügung steht ...« Diese liberale Haltung brachte ihr zunehmenden Ärger mit der Kirche ein, zumal sie in einem anderen Lied, »Le Temps des femmes«, mutig gewettert hatte: »Mönche und Pfarrer, misogyne Gesellschaft, erblicken in der Frau die ewige Versuchung und tolerieren sie nur, wenn sie ihnen die Küche macht.« Und als nach John Lennons flapsiger Bemerkung, die Beatles wären heutzutage populärer als Jesus, alle Welt empört aufschrie, erklärte sie: »Auch wenn ich das nicht gut finde, kann man das nicht bestreiten.«
Von der Presse erntete sie für ihre Einstellung jedoch nur Häme. Für die Journaille war sie eine frustrierte Emanze, eine männergeile Ex-Nonne, deren Stern am Verblassen war. Doch statt einem Mann hatte sie inzwischen eine um zehn Jahre jüngere Frau als Lebenspartnerin. Homosexualität war damals ein Tabuthema, an das sich nicht einmal die Presse offen heranwagte. Ob die Lebensgemeinschaft mit Annie Pécher wirklich eine lesbische Beziehung war, darüber ist sich nicht einmal die Buchautorin und Biografin Florence Delaporte sicher. Sie hat für ihr Buch »Soeur Sourire: Brûlée aux feux de la rampe« (Im Fegefeuer des Rampenlichts) eintausend Seiten Tagebuchnotizen ausgewertet. Alles, was sich dabei herauskristallisierte, war, dass allein das Gerücht, das Paar sei lesbisch, beiden mehrmals den Job gekostet hat. So bezeichnete etwa die »Bild am Sonntag« in ihrem »Nachruf« die Ex-Nonne als »die Lesbe mit dem Heiligenschein«.
Die beiden Frauen hatten ihr Leben vor allem der Hilfe anderer verschrieben. Annie Pécher hatte ein Heim für autistische Kinder gegründet, das ihre Partnerin anfangs kräftig mitunterstützte. Doch angesichts sinkender Verkaufszahlen wurde Luc Dominique depressiv, sie schluckte Pillen und absolvierte eine Psychotherapie, da sie auch ihren Pflichten als Laienschwester kaum mehr gewachsen war und nur noch gelegentlich unterrichtete. Aber auch, weil sie nach einer ausgedehnten Amerikatournee aufgrund ihrer Schüchternheit nur sporadische Liveauftritte absolvieren konnte, obwohl sie das Geld dringend benötigte. Und sie machte in ihrer Verzweiflung einen weiteren, folgenschweren Fehler: weil ihre Karriere unter dem Namen Luc Dominique so gut wie stagnierte, nannte sie sich wieder Soeur Sourire.
Damit beging sie einen groben Vertragsbruch ihrem ehemaligen Kloster gegenüber, dem sie schriftlich versichert hatte, für alle Zeiten diesen Namen abzulegen. Diese Entscheidung zog einen Rattenschwanz von Problemen nach sich, die letztendlich zu ihrem Freitod führten. Fast ist man versucht zu sagen, der Zorn Gottes ergoss sich über sie, obwohl sie nicht das Geringste verbrochen hatte. Alles, was sie suchte, war ein bisschen privates Glück und so viel Erfolg als Sängerin, dass sie davon leben konnte. Die Musik, die ihr einst im Kloster Trost gespendet und andere optimistisch gestimmt hatte, wurde nun dank des weltweiten Hits »Dominique« nachträglich zur größten Belastung und Prüfung ihres Lebens.
Jeanine Deckers alias Luc-Gabrielle alias Soeur Sourire alias Luc Dominique zog die Aufmerksamkeit der Boulevardpresse nur noch gelegentlich wegen der angeblich lesbischen Beziehung und ihrer eingestandenen Tablettensucht auf sich, als »Ein-Hit-Wunder«, dessen Leben eine tragische Wendung genommen hatte. Ab 1974 machte sie wegen eines jahrelangen Rechtsstreits mit den Behörden jedoch wieder regelmäßig Schlagzeilen. Die Katastrophe brach mit einer nachträglichen Steuerforderung des belgischen Finanzamtes über umgerechnet mehr als 60 000 Euro über sie herein. Diese berechneten sich aus den Millioneneinnahmen für »Dominique«, den späteren Plattenverkäufen sowie den Filmrechten an »The Singing Nun«. Dass sie fast alle Einnahmen als Spende an den Orden abgeführt und nur Bruchteile an den Tantiemen verdient hatte, konnte sie nicht beweisen, sie besaß weder Abrechnungen noch Unterlagen und Quittungen. Sie hatte in die tatsächlichen Umsätze, die das Kloster machte, niemals Einblick gefordert und folglich keine Ahnung, dass der Konvent die eingenommenen Tantiemen offenbar nicht korrekt versteuert hatte. Doch ihr ehemaliges Kloster in Fichermont und der Dominikanerinnenorden erklärten sich ungeheuerlicherweise für nicht zuständig und schwiegen in dieser Sache beharrlich, sodass Jeanine Deckers schlussendlich allein auf einer riesigen Steuerschuld sitzen blieb.
Die einzige vernünftige Möglichkeit wäre natürlich gewesen, gegen das Kloster zu klagen. Doch das traute sie sich nicht, weil sie sich entgegen der vertraglichen Vereinbarung wieder Soeur Sourire nannte. Stattdessen klagte sie gegen das Finanzamt und verlor erwartungsgemäß. Danach kämpfte sie jahrelang nur noch um Zahlungsaufschübe. Sie gewann zwar einflussreiche Fürsprecher, war aber viel zu schüchtern, um auf ihre tatsächliche Notlage hinzuweisen. Um zu überleben, gab sie wieder Zeichen- und Gitarrenunterricht, manchmal jobbte sie auch als Sekretärin und Kosmetikberaterin und rutschte gleichzeitig immer tiefer in ihre Tabletten- und Alkoholsucht.
Trotzdem gab sie nicht auf. Aufgrund des Zeichenunterrichts hatte sie selbst wieder zu malen begonnen und stellte ihre Bilder aus. 1982 versuchte sie ein vergebliches Comeback mit einer Synthi-Pop-Version von »Dominique«, die in Diskotheken ganz gut ankam, sich aber wenig verkaufte. Deshalb drehte sie ein etwas unbeholfenes Video dazu. Das zeigt sie in einem roten Pullover, in Hosen und kniehohen, klobigen Stiefeln, in denen sie - mit der geliebten Gitarre Adèle in der Hand - energisch den Kreuzgang eines Kirchengebäudes entlangmarschiert. Sie wirkt weder glücklich noch unglücklich, sondern leicht entrückt und nicht von dieser Welt.
Kurz darauf musste ihre Lebenspartnerin Annie ihr Kinderheim aus Geldnot schließen. Keiner kam den beiden zu Hilfe, wobei die Vermutung naheliegt, dass auch hier die angeblich lesbische Beziehung indirekt eine Rolle spielte. Die Steuerschulden waren mit Zins und Zinseszins mittlerweile fast auf das Doppelte angewachsen und die beiden Frauen sahen weder ein noch aus. Sie waren finanziell ruiniert.
Im Nachhinein ist es völlig unverständlich, wieso Jeanine nicht um Hilfe bei Menschen nachgesucht hat, die sie offenbar noch immer schätzten und verehrten. Etwa die belgische Königin Fabiola: Sie schrieb den beiden zum Jahreswechsel 1985 einen herzlichen Brief und wünschte ihnen alles Gute fürs neue Jahr. War es Scham, falsch verstandener Stolz oder die endgültige Resignation aufgrund ihrer schweren Depressionen? Hoffte Jeanine auf die Hilfe Gottes, der sie offenbar vergessen hatte?
»Eines Tages waren er und seine Brüder ohne Brot / da erschienen ihnen Engel, und sie linderten die Not«, hatte sie in »Dominique« gesungen. Wo waren die Schutzengel von Jeanine, die als Nonne und als Mensch zu gut und gutgläubig für diese Welt war?
1985 war überhaupt kein Geld mehr da, keine Perspektive, nur mehr astronomische Schulden beim Finanzamt. Am 29. März kauften die beiden Frauen auf Pump und ohne Rezept in ihrer Apotheke 100 Depronal-Tabletten und 50 Témesta und schluckten sie mit Kognak. Am 1. April 1985 wurden beide tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Jeanine Deckers wurde 51 Jahre alt, ihre Freundin Annie 41. »Wir kehren zum Herrn zurück«, hinterließen sie in ihrem Abschiedsbrief. Und in einem weiteren Brief an ihren Freund und Anwalt Jean Berber schrieb Jeanine Deckers: »Ich umarme dich mit Bitterkeit und Trauer.« Die karge, aber geschmackvolle Einrichtung ihrer Wohnung sollten Studenten, Freunde und arme Leute aus der Nachbarschaft erben. Doch alles, was von Wert war, wurde vom Fiskus konfisziert. Zumindest ihren letzten Wunsch erfüllte die Kirche trotz des Selbstmordes: Annie und Jeanine bekamen einen öffentlichen Gottesdienst und wurden in einem gemeinsamen Grab beigesetzt. Im Nachlass fand man im Archiv des »Figaro Magazine« ein Video mit zehn unveröffentlichten Liedern. In einem davon scheint Jeanine ihren Selbstmord anzukündigen, mit schwarzem Humor und viel Sarkasmus: »Ihr werdet bald von Soeur Sourire hören, dass sie starb, erschlagen von Steuerbescheiden. Die Leute werden aufatmen und sagen: Sie ist endlich tot. Gott sei Dank.« Die Finanzakten im Fall Soeur Sourire gegen das Kloster Fichermont sind immer noch unter Verschluss.
Doch mit dem Tod der beiden war das letzte »in Ewigkeit Amen« noch nicht gesprochen, auch wenn sie in Frieden ruhen. Immer wieder nahmen die unterschiedlichsten Künstler wie Gus Gus, Happy Mondays, Fun Boy Three, Nils Lofgren, Mother Earth oder Simply Red Coverversionen von Soeur Sourire auf und das Interesse an dem traurigen Schicksal der hilfsbereiten Nonne wuchs vor allem 2003 zu ihrem 70. Geburtstag. Erstaunlich viele Internetseiten entstanden, eine Doppel-CD (»Soeur Sourire - die singende Norme«, 46 Songs und ein Video) wurde mit ihren bis dato vergriffenen Songs veröffentlicht. Und in Belgien wurde sogar eine Initiative gegründet, die sich dafür einsetzt, die »Singende Nonne« auf einer Briefmarke zu verewigen.