Читать книгу Auf den [Jack] Pott gesetzt & Der Steinerne Schafskopf - Ingo M Schaefer - Страница 6
Auf den [Jack] Pott gesetzt
ОглавлениеReichtum macht ein Herz schneller hart als kochendes Wasser ein Ei.
Altes deutsches Sprichwort
Er saß starr im Sessel. Er wollte so gerne glauben, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten. Die Sprecherin wiederholte die Zahlen: 2-4-13-23-24-25 Zusatzzahl 45, Superzahl 9. Wirklich. Er hatte den Jackpot geknackt! Seine Gedanken machten Purzelbäume. Erst mal raus.
„Schatz!“, sagte seine Frau. „Ich ...“
Da stemmte er sich schon hoch, murmelte was von Toilette und flog förmlich ins Badezimmer. Er hielt sich am Waschbecken fest und blickte in den Spiegel. Bisher hatte er sich nie gerne im Spiegel betrachtet. Er war eher klein, gedrungen, aber kräftig in den Muskeln. Das schwarze dünne Haar offenbarte Lichtungen an den Schläfen und am Hinterkopf. Seine Augen waren klein, wieselartig zu der die gerade Nase und das gemütliche Doppelkinn nicht so recht passten. Erfolg bei Frauen hatte er nie. Er konnte charmant sein, hatte seine Frau damals gesagt. Das war lange her. Als Buchhalter im Kaufhaus besaß eine Machtposition. Seine Frau arbeitete damals an der Kasse. Er bot ihr finanzielle Sicherheit. Seit die Kinder aus dem Haus waren, fehlten die Gemeinsamkeiten. Sie wollte verschiedenes unternehmen, wollte wieder arbeiten, sich ehrenamtlich betätigen. Er fand so was peinlich. Er war zu Höherem berufen. Man überging ihn, wenn Beförderungen anstanden. Er schönte manchmal die Bilanzen, ja und, das war doch im Interesse der Firma gewesen. Er hatte keinen Vorteil davon. Dankte man ihm? Nein. Er grinste sein Konterfei an. Das war nun alles vorbei. Jetzt würde er allen zeigen, was in ihm steckte. Der Jackpot! Zwanzig Millionen! Er könnte das Kaufhaus kaufen und die arroganten Manager auf die Straße setzen. Gut fühlte sich das an. Dieses geile Luder von Chefsekretärin. Er wusste, dass die mit dem Chef ein Verhältnis hatte. Nun, dann würde sie mit ihm .... Seine Frau würde davon nichts erfahren. Er würde reisen. Die Hände würde man nach ihm ringen. Die jungen Frauen würden hinter ihm tuscheln und sich an ihn werfen, in der Hoffnung ein wenig Geld zu bekommen, ein wenig vom Glanz des Reichtums zu erhalten. Zwanzig Millionen. In Gedanken teilte er das Geld auf. Fünf Millionen Rücklage. Neues Haus zwei Millionen. Das Kaufhaus zehn. Sollte er das wirklich kaufen? Die Umsätze gingen zurück. Am Ende würde er zahlen und dann später bankrott gehen. Dann wäre alles weg. Scheiß auf das Kaufhaus. Er war das wichtigste und das Geld. Er musste genau planen, musste das Beste rausholen. Jetzt konnte er leben, wie er immer wollte. Nichts mehr mit betont freundlichem und falschem „Guten Morgen, Chef“. Er musste zuerst kündigen. Nie wieder arbeiten! Ach, er hatte ja Kündigungsfrist. Vier Wochen musste er noch durchhalten. Ha, da hatte er ganz andere Dinge durchgestanden. Nein, fehlen würde ihm die Arbeit nicht. Aber was sagte er seiner Frau, wenn er nicht mehr zur Arbeit ging. Er war eigentlich unkündbar.
Seit Jahren spielte er heimlich Lotto und hatte sich geschworen, jeden Gewinn geheim zu halten. Deswegen war er so schnell ins Badezimmer verschwunden.
„Schatz, ist irgendwas? Geht es dir gut?“, rief seine Frau aus dem Wohnzimmer.
Ihm wurde heiß. Wenn er sich von ihr scheiden ließe, würde das Gericht vom Gewinn erfahren. Dann müsste er die zwanzig Millionen teilen. Zehn Millionen dann für ihn. Nur zehn Millionen! Warum sollte er etwas hergeben? Er hatte den Zettel ausgefüllt. Von seinem Gehalt bezahlt. Das war sein Gewinn. Jeder der ihm dieses Geld wegnehmen wollte, würde ... Jetzt wurde ihm kalt. Der Gedanke war plötzlich da. Ja, wenn sie nicht mehr da wäre, gäbe es auch keine Scheidung. Dann gehörte ihm das Geld allein.
„Ich bin auf Klo!“, rief er zurück.
Er lachte lautlos sein Spiegelbild an und verteilte die zwanzig Millionen mit neuem Elan.
2
Er schlief schlecht, warf sich hin und her. Er schwelgte im Reichtum. Alles konnte er jetzt machen. Erst mal eine Kreuzfahrt. Ein halbes Jahr, um auszuspannen. Vielleicht würde er ja auch ein schönes Plätzchen auf einer Insel oder im Süden finden. Diese eingeborenen Frauen warteten doch nur auf reiche Deutsche wie ihn und gaben sich hin. Bei denen war der Mann noch Herr im Haus. Er würde ein ganzes Heer von Dienerinnen haben. Jeden Tag könnte er sich eine andere aussuchen. Er wäre wie ein König. Die Leute würden ihn um Rat fragen und auch mal um ein wenig Geld. Er würde nicht viel geben, aber genug, um sich das Wohlwollen der Eingeborenen zu sichern. Eine Yacht könnte er haben.
Dann überlegte er, wie er seine Frau loswerden konnte. Er musste den perfekten Mord begehen. Er hörte von Giften, die man nicht nachweisen konnte. Aber wie daran kommen? Wenn er daran kam, gab es meistens irgendeinen Hinweis, der die Polizei direkt zu ihm führte. Dann würde man auf Mord plädieren und er würde für über fünfzehn Jahre ins Gefängnis gehen. Jetzt war er 49 Jahre. Mit 64 konnte er schon tot sein und seine Gören bekamen das viele Geld. Nein. Niemals. Eine Mordwaffe durfte es nicht geben. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten hätte man einen Amateur wie ihn schnell überführt und wieder würde man ihm geplanten Mord nachweisen können. Aber wenn er nur kurz ins Gefängnis käme. Nur ein oder zwei Jahre. Wenn es im Affekt war oder sogar Notwehr. Wenn er Reue vor Gericht zeigte, über den Verlust weinte, dass er das doch nicht gewollt hätte, nie gedacht, dass ein Schubser einen Schädelbruch und zum Tod seiner Frau geführt hätte, könnte er mit einem guten Anwalt damit durchkommen. Vielleicht kam er sogar mit Bewährung davon. Es musste wie ein Unfall aussehen. Wie aber den herbeiführen? Wenn er beides plante und je nach Situation entschied? Er musste sich nun viel mit ihr streiten und sie anschreien wie nie. Vielleicht ergab sich dann eine gute Möglichkeit. Später könnte er sagen, sie hätten sich in letzter Zeit öfter gestritten. Sie wäre dann nicht mehr da, um etwas dagegen zu sagen. Eine vage Vorstellung hatte er. Ein Unfall mit dem Auto. Das Wie ergab sich vielleicht von selbst. Er beruhigte sich, indem er wieder Geld im Geiste ausgab.
3
Ihr Haus stand am Tannenhügel in Ihlpohl im Bremer Norden. Einfamilienhäuser und die obligatorischen Bremer Reihenhäuser standen hier. Das eine Ende der Straße mündete in die Bremerhavener Heerstraße in Burglesum und gehörte zum Land Bremen. Von dort kam man zum Verteilerkreis Bremen-Nord entweder zu den Supermärkten um die Ecke oder auf die Autobahnen nach Vegesack, Bremerhaven oder Bremen-Stadt. Das andere Ende war die Fortsetzung der Straße in den Lärchenhügel und gehörte zum Land Niedersachsen. Die Straße begann auf einem Hügel, führte geradewegs durch das Ihletal am Pohlteich vorbei und wieder steil hinauf. Eine hügelige Geestlandschaft inmitten flachen Landes, die liebevoll Bremer Schweiz genannt wurde.
4
Er hielt es nicht mehr aus neben ihr. Da könnte schon ein junges Ding liegen, große feste Brüste, glatte Haut, langes Haar, hingebungsvoll, wenn sie nicht wäre. Warum hatte er sich nicht schon viel eher scheiden lassen? Warum hatte er gewartet? Jetzt war sie ein Klotz an seinem reichen Bein. Ihr Anwalt würde wahrscheinlich noch mehr als die Hälfte fordern. Nein, sie musste weg. Für immer.
Er schwang sich aus dem Bett und weckte dabei seine Frau.
„Guten Morgen, Schatz!“, flötete sie noch etwas schlaftrunken. „Wo willst du denn hin?“
„Lass mich in Ruhe!“, brüllte er. Das Brüllen tat gut. Sie war doch schuld an allem. Am liebsten würde er sie jetzt sofort... Ohne sie anzusehen stand er auf und ging ins Bad.
„Was hast du denn?“, fragte sie ihm hinterher. „Wenn du mit dem Auto wegwillst, zieh die Handbremse nicht zu fest an. Die ist defekt. Du musst den Wagen am Montag zur Werkstatt bringen und es richten lassen.“
Was interessierte ihn diese Klapperkiste. Er würde sich einen ganzen Wagenpark zulegen. Für jede Gelegenheit einen. Ins Casino würde er mit einem Cabrio fahren. Zum Essen mit einem Mercedes oder einem Rolls Royce. Ein Cadillac kam nicht in Frage. Er mochte keine amerikanischen Autos. Ein Chauffeur würde ihn fahren. Die Frauen würden ihn bewundern. Er brauchte nur mit dem Finger schnippen und sie würden Schlange stehen, um mitzufahren. Aber zuerst musste er sie beseitigen. Sie, die ihm im Wege stand, dieses Leben zu leben. Wenn er es recht betrachtete, waren zwanzig Millionen gar nicht soviel. Das war ja schnell weg, wenn er nicht aufpasste. Ein bisschen spekulieren. Aus den zwanzig Millionen das doppelte, das dreifache machen. Ja, sechzig Millionen. Das war eine runde Summe. Dann hätte er wirklich ausgesorgt. Wenn er ein paar Millionen verlieren würde an der Börse, was machte das schon. Dann könnte er auch beruhigt das Kaufhaus kaufen. Aber alles schön der Reihe nach, lächelte er vor sich hin. Erst die Arbeit. Erst musste sie weg. Dann hatte er den Kopf frei.
5
Er sah sich im Badezimmer um, das nun schäbig wirkte. Ein neues Großes musste her, das den jungen Frauen gefallen würde. Im neuen Haus, ach was, in der Villa wäre Marmor, ein Whirlpool. Er würde heiße Partys in der neuen Villa veranstalten. Die Reichen der Stadt würden ihn besuchen, ihm ihre Aufwartung machen, um sich mit ihm gut zu stellen. Sechzig Millionen. Das war pure Macht. Politiker würden zu ihm kriechen, um Spenden zu bekommen. Er würde bald ein gefragter Mann sein. Endlich würde man ihm zuhören müssen. Er würde Interviews geben, wie er aus nur 20 Millionen 60 Millionen gemacht hatte. Man würde ihm nachahmen wollen. Er wäre auf jeder Titelseite und Frauen, die tollsten Frauen, würden sich die Finger lecken, um neben ihm zu stehen.
Er ging aus dem Bad, zog sich schnell an ohne seine Frau zu beachten, die abermals mit ihm reden wollte. Er ging aus dem Haus, um die Sonntagszeitung vom Eingangstor zu holen. Hastig blätterte er darin umher. Fast enttäuscht sah er, dass er nicht genannt wurde. Morgen aber würde es in den Zeitungen stehen. Bremer knackt 20 Millionen Jack-Pot. Vielleicht waren es sogar mehr. Er mahnte sich lachend zur Geduld.
6
Er aß Käse, Brot, Wurst. Das würde er ändern. Bald kämen nur noch Delikatessen auf den Tisch. Er würde die feinsten Speisen... Er stoppte seinen Enthusiasmus. Erst musste er etwas tun. Er musste sich befreien. Ja, so würde er es später sagen. Befreien. Sie hätte ihm keine Freiheiten gelassen. Ein Mann brauchte doch seine Freiheit, würde er dem Richter mit Augenzwinkern sagen. Das musste der doch verstehen. Bestimmt. Mit Geld bekam man heute alles hin. Die richtigen Leute geschmiert. Machten die Reichen doch auch so. Da solle ihm nur keiner dumm kommen.
Er ging schnell zum Auto und fuhr los. Statt nach links zum Eichenhügel - wie sonst immer - fuhr er diesmal rechts runter durch das Ihletal. So früh war niemand unterwegs. Der Wagen bekam ziemliche Fahrt. Es war steil hier. In der Senke am Pohlteich musste er bremsen, weil eine hohe gepflasterte Bodenschwelle sonst einen Achsenbruch verursacht hätte. Nach der Bodenschwelle ging es wieder steil hoch zur Bremerhavener Heerstraße. Er hasste das. An dieser Steigung musste er stehen, musste gucken, ob die Straße vor ihm frei war. Oft genug hatte er hier den Motor abgewürgt, bekam das Spiel zwischen Gas und Kupplung nicht hin. In diesen Momenten fühlte er sich klein und unfähig. Wieder passierte es, obwohl nicht ein Auto fuhr. Er zog die Handbremse mit aller Gewalt an, gab viel Gas, dass der Motor aufheulte, ließ abrupt die Kupplung kommen. Der Wagen, durch die angezogene Bremse noch gehalten wie ein Rennhund an der Leine, machte einen Satz nach vorn, als er die Handbremse löste. Noch ein Satz und der Motor war aus. Wieder riss er die Handbremse hoch. Er war wütend. In seiner Rage bemerkte und hörte er nicht das leise Reißen. Einige Drähte des Stahlseiles lösten sich vom Strang. Andere würden ihnen bald folgen. Er drehte den Zündschlüssel, gab kräftig Gas, löste die Handbremse und rollte ein Stück zurück, bis die Kupplung einrastete und der Wagen nach vorne in die Bremerhavener Heerstraße schoss. Rechts und links steckten kleine Holzkreuze im Boden zwischen den Bäumen. Hier rasten sich viele zu Tode.
7
Er fuhr zum Verteilerkreis und dann nach Norden auf der B6. Er ärgerte sich über den Steilhang am Pohlsee. Alle wussten, dass er das nie hinbekam und diese Abkürzung mied. Immer wenn der Wagen zurück rollte, schaute er angstvoll in den Rückspiegel, ob auch ja kein Auto dort stand. Wenn man nicht bremste, bekam der Wagen einige Fahrt drauf und würde einigen Schaden anrichten. Da würde jemand garantiert zerquetscht. Das war es! So konnte er sie loswerden. Natürlich. Er musste sie dazu bringen auszusteigen, wenn er am Steilhang stand. Sie musste zum Heck gehen. Wenn sie dann dort stand, würde er versuchen zu fahren, es nicht hinbekommen. Der Wagen würde rückwärts rollen. Später könnte er sagen, er sei in Panik geraten. Die Reifen hätten seine Frau erfasst, ohne dass er es gemerkt hätte. Wenn sie ihn fragen würden, warum seine Frau ausgestiegen sei, könne er ja sagen, sie wollte was aus dem Kofferraum holen und er hätte gedacht, sie sei schon auf dem Weg nach vorne gewesen. Ja, so konnte es klappen.
Er musste sich jetzt um zwei Sachen kümmern. Erstens musste er üben am Hang anzufahren, damit er den Wagen unter Kontrolle hatte. Er musste es ohne diese verdammte Handbremse ausprobieren. Was hatte seine Frau noch mal gesagt. Irgendwas mit der Handbremse. Egal, er würde sie einfach nicht benutzen. Wenn er genug übte, konnte er sie im entscheidenden Moment überrollen und den Wagen dann nach vorne preschen lassen. Dann würde er sie sogar zweimal überfahren, was ihr den Rest geben würde. Das mit der Panik klang doch plausibel. Man würde Nachbarn befragen und Bekannte, erfahren, dass er am Hang nicht anfahren konnte. Das war gut. Zweitens musste er sie dazu bringen, mit ihm zu fahren und dann auch noch dort auszusteigen. Jetzt war er wieder wütend. Sein Gebrüll heute morgen war dafür nicht gut gewesen. Er musste sie gut stimmen, sie verwöhnen. Sie musste sich in Sicherheit wiegen. Er musste sich mit ihr versöhnen.
Den ganzen Tag fuhr er ziellos umher. Stendorf, Osterholz-Scharmbeck, Worpswede, Ritterhude, Platjenwerbe, Schwanewede. Einem Bauern kaufte er einige Blumen ab. Auf einem stillen Parkplatz in Leuchtenburg übte er am Hang anfahren ohne Handbremse. Dabei kam ihm die Idee mit den Schaufensterpuppen. Im Kaufhauslager gab es genug, die ausrangiert waren. Morgen war Montag. Er würde eine Schaufensterpuppe, nein, am besten zwei oder drei mitnehmen. Er musste einen Zeitplan aufstellen. Am Donnerstag wollte er zur Lottogesellschaft und seinen Gewinn abholen. Am besten einen Scheck. Übers Wochenende würde er in die Schweiz fliegen und dort ein Nummernkonto eröffnen oder gleich in die Karibik. Er musste sich noch informieren, wo er das Geld am besten deponieren konnte. Bis Donnerstag musste sie darum weg sein.
Heute Abend musste er sie zum Essen einladen. Das kam bei ihr immer gut an. Morgen Abend würde er am Hang hier am Pohlteich üben und gleichzeitig herausfinden, wann niemand mehr unterwegs war. Da würde er mit der ersten Puppe testen, ob das Zurückrollen des Wagens wirklich jemanden töten konnte. Zurück am Verteilerkreis bog er Richtung Burgdamm in die Bremerhavener Heerstraße ein und die nächste rechts wieder in den Tannenhügel. Das neue Holzkreuz mit der frisch aufgeworfenen Erde beachtete er nicht.
8
„Was machen Sie da?“, fragte der Polizist. Ein dicker feister Mann, kleine Statur, saß in einem alten Opel, der gerade eine Schaufensterpuppe überfahren hatte. Das Auto stand am Hang hinauf zur Bremerhavener Heerstraße. Von dort war das Auto nicht zu sehen gewesen. Auch von den Häusern am Tannenhügel konnte niemand auf diesen Hang schauen.
Der kleine Mann stotterte. Schweiß trat aus den Poren.
„Ich...ich .. übe. Am Hang anfahren.“
„Um diese Zeit? Jetzt ist ein Uhr nachts! Wir haben den Anruf einer Passantin entgegengenommen. Dass Sie hier am Hang Puppen überrollen. Also, was üben Sie da?“
„Ich übe. Das ist nicht verboten.“ Die Stimme war nun fest und aufmüpfig.
„Soso“, meinte der Polizist, blickte seinen Kollegen an, der auf der anderen Seite des Opels stand. Dann wandte er sich wieder dem Mann im Auto zu. „Ihre Fahrzeugpapiere bitte. Verkehrskontrolle!“
„Das ist ja Schikane. Ich habe nichts Verbotenes gemacht.“ Der kleine Mann wurde nun wütend.
„Wollen Sie Widerstand leisten?“, fragte der Polizist gedehnt. „Wir können Sie auch gern mit zur Wache nehmen. Dann haben Sie danach einen kleinen Nachtspaziergang.“
„Nein, nein!“ Der Mann reichte die Papiere dem Beamten.
„Warten sie bitte im Auto!“, befahl der Uniformierte. Die Überprüfung ergab nichts. Ernst Michel wohnte nur die Straße hinauf. Wenn Herr Michel nachts eine Puppe immer wieder überrollte, war das seine Sache, nicht aber die der Polizei. Die Polizisten fuhren davon.
9
Er zitterte noch Minuten danach. Jetzt war er aufgeflogen. Alles, aber auch alles, richtete sich gegen ihn. Das Abendessen gestern war nicht so verlaufen, wie er sich gedacht hatte. Seine Frau hielt ihm vor, fremd zu gehen. Sie wolle die Scheidung. Da hatte er sich vergessen. Brüllte, tobte. Was interessierten ihn da noch die anderen. Dieses Restaurant würde er einfach kaufen und die Leute entlassen, wenn die ihn weiterhin so feindselig anstarrten. Seine Frau schrie zurück, dass er sie wohl eher umbringen wolle, als die Scheidung zu akzeptieren. Andere Männer waren ihr zu Hilfe geeilt. Er hatte schnell das Restaurant verlassen müssen. Als er nach Hause gekommen war, hatte sie auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass sie zu einer Freundin gehen wolle, um dort zu übernachten. Sie fühle sich zu Hause mit ihm nicht mehr sicher. Am Montag kam dann die nächste Schreckensnachricht.
Er gewann nicht allein den Jackpot. Noch jemand tippte seine Zahlen. Keine zwanzig Millionen, nur noch zehn Millionen. Was sollte er mit nur zehn Millionen machen? Die sechzig Millionen waren gerade ausreichend gewesen, und jetzt nur zehn Millionen. Davon konnte er sich nicht lange etwas leisten. An seine Frau kam er jetzt nicht ran. Das hieß nur noch fünf Millionen für ihn, wenn die Scheidung durch war. Wie sollte er sein zukünftiges Leben mit nur fünf Millionen bestreiten? Er hatte doch schon dreißig Millionen eingeplant, um sich überall einzukaufen und Macht zu haben. Mit fünf Millionen würden die Kreise, die er anstrebte, ihn doch nur auslachen. Wieso musste jemand seine Zahlen tippen? Das war ungerecht. Alles war ungerecht. Hatte er nicht immer gearbeitet, war er nicht immer pünktlich gewesen. Nie hatte er krank gemacht. Dass seine Frau jetzt mit Scheidung kam, war nicht fair. Zumindest hatte sie heute Abend noch mal angerufen. Sie war versöhnlicher gewesen. Sie brauche das Auto am Dienstag. Sie hatte nicht gesagt, was sie heute am Montag getan hatte. Aber er sah es als gutes Zeichen für seine Pläne. Sie würde bestimmt erkennen, dass es besser war zu ihm zurückzukehren. Er grinste. Zurückzukommen, um zu sterben.
Er fuhr zum Hang und übte mit den Puppen. Er verbesserte sein am Berg anfahren und hatte den Dreh raus. Er wusste nun die beste Stelle für schnelles Zurückrollen. Die weichen Plastikpuppen waren regelrecht zermatscht worden. Ein Schädel würde zerquetscht werden. Aber daran dachte er weniger. Wenn das Auto über seine Frau rollen würde, gab es keine Hilfe mehr für sie und sein Weg war frei, auch wenn es nur zehn Millionen waren. Aber besser als gar nichts. Nun waren die beiden Polizisten aufgetaucht. Mist und doppelter Mist. Jetzt konnte er das mit dem Überfahren vergessen. Die Polizisten würde man befragen und feststellen, dass er den Tod seiner Frau geplant und geübt hatte. In dieser Nacht fand er wieder kaum Schlaf. Zuerst die Nachricht vom halbierten Gewinn, dann die Aufregung gestern im Restaurant und jetzt das mit der Polizei.
Am nächsten Tag fühlte er sich schlapp und müde. Er rief im Betrieb an und meldete sich krank. Er bekam noch mit, als seine Frau kam und das Auto holte. Bis Mittag hielt er durch. Dann schlief er ein.
10
Das Telefon schrillte und riss ihn aus dem Schlaf. Alles war dunkel. Wach war er noch nicht, aber er fühlte sich etwas besser. Seine Frau war es, schien völlig aufgeregt. Sie habe jemanden überfahren und wüsste nicht, was zu tun sei. Sie hätte Alkohol getrunken. Er müsse ihr helfen. Sie sei am Hang zur Heerstraße. Er zog sich rasch eine Hose an, während sein Gehirn nach Ideen jagte. Das war die Gelegenheit, frohlockte er. Sie stand dort, wo er geübt hatte. Jetzt würde alles gut für ihn werden. Neben dem anderen Toten würde er sie überfahren. Den Wagen würde er beseitigen, in der Weser oder in der Lesum versenken. Dann würde es wie Fahrerflucht aussehen. Ohne Wagen gäbe es keinen Hinweis auf ihn. Er lief aus dem Haus und den Tannenhügel hinunter. Er sah den Opel ohne Licht am Hang stehen. Seine Frau bückte sich und hielt mit ihren Händen zwei Beine und versuchte zu zerren. Der Rest des Körpers lag im Gebüsch. Sie hörte ihn und drehte sich zu ihm um. Sie lächelte ihn an. Er grinste zurück.
„Danke, Schatz“, sagte sie leise. „Machst du bitte den Kofferraum auf. Ich kann nicht mehr.“ Sie erneuerte ihren Griff.
Ans Steuer setzen, war das einzige, woran er dachte. Er drehte sich von ihr weg und öffnete den Kofferraum. Der Schlag auf seinen Kopf machte ihn benommen. Er sackte zusammen und kam zwischen den Reifen zu liegen. Jemand zerrte an ihm, legte ihn anders. Seine Augen sahen Frauenschuhe, die schnell nach vorne liefen. Er hörte das mehrmalige Betätigen der Handbremse, bis er das Reißen des Zugseiles hörte. Die Reifen rollten, einer auf seinen Kopf zu. Das Letzte, was er sah, waren die Beine der Schaufensterpuppe im Gebüsch.
11
„Frau Michel, alle Indizien deuten daraufhin, dass ihr Mann sie töten wollte. Dieser Streit im Restaurant, seine plötzliche Veränderung, als er vom Lottogewinn erfuhr, dass er ihnen nichts davon sagte.“
„Das kann ich nicht glauben, Herr Kommissar. Ich habe ihn doch geliebt. Wieso sollte er?...Ich begreife das nicht.“ Sie schnäuzte sich ins Taschentuch.
Der Kommissar zuckte mit den Schultern.
„Vor zwei Wochen haben zwei Kollegen von der Streife ihn dabei überrascht, nach einem Hinweis einer anonymen Anruferin, wie er mehrere Schaufensterpuppen überfahren hat. Er bestätigte, dass er übe. Frau Michel, so leid es mir tut. Ihr Mann hatte einen bedauerlichen Unfall. Aber ihr Mann hat auch daran gearbeitet, sie an der Stelle zu ermorden, an der er selbst unglücklicherweise gestorben ist. Ich wollte persönlich kommen, wie ich Ihnen versprochen hatte, um Ihnen das Ergebnis unserer Untersuchungen mitzuteilen. Ich weiß, dass alles Geld der Welt einen geliebten Menschen nicht ersetzen kann. Ich kann Ihnen nur alles Gute wünschen, Frau Michel.“ Der Kommissar erhob sich vom Sessel.
„Danke!“, erwiderte sie und tupfte sich die Augen. Die Tränentropfen, die sie sich in die Augen geträufelt hatte, als sie den Kommissar vor der Tür hatte stehen sehen, verloren nun ihre Wirkung. Sie stand auf, versuchte ein gequältes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern und führte ihn zur Tür. Als sie diese hinter ihm schloss, grinste sie.
Sie dachte an das kleine Kreuz an der Bremerhavener Heerstraße und die Grube darunter, die sie am Sonntag nach dem Lottogewinn gegraben hatte. Darin lagen der Totschläger, mit dem sie ihren Mann kampfunfähig geschlagen hatte und die Spritze mit Säure, die das Stahlseil der Handbremse zerfetzt hatte. Niemand würde ein solches Kreuz herausreißen oder untersuchen.
Seit vielen Jahren spielte sie mit den Nummern ihres Mannes Lotto. Nun konnte sie in aller Ruhe überlegen, wie sie die zwanzig Millionen ausgeben konnte. Vielleicht zuerst einen Roadster, um knackige Burschen aufzureißen?
Ende
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