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DAS SOMMERKONZERT

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Die Fähre hatte gerade abgelegt und bewegte sich gemächlich aus dem Hafen von Folkestone hinaus auf den Kanal. Trotz dem windigen und regnerischen Wetter hielt mich nichts unter Deck. Nach dem stundenlangen Warten in der Abfertigungshalle brauchte ich dringend frische Luft um die Nase.

Das Achterdeck war fast leer. Nur ein junger Mann saß alleine auf der letzten Bank und nahm es gleichgültig hin, dass der Wind ihm die dunklen Haare zerzauste und an seinem blauen Halstuch zerrte. Ich vermutete, dass es ihm ebenso ging wie mir. Da ich Gesellschaft nicht abgeneigt war, ließ ich mich auf derselben Bank nieder; jedoch nicht unmittelbar neben ihm, sondern in einiger Entfernung, da ich ja nicht wissen konnte, ob er auch nur frische Luft schnappen wollte oder aber ganz bewusst die Einsamkeit gesucht hatte und daher ungestört bleiben wollte.

Er schien mich nicht zu bemerken; jedenfalls reagierte er nicht, als ich mich zu ihm auf die Bank setzte. Er mochte etwa so alt gewesen sein wie ich, also um die zwanzig. Er war rund einen Kopf größer als ich und sehr schlank, fast schon richtig mager. Obwohl ich »nur« Zahnmedizin studiere, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit ihm gesundheitlich etwas nicht ganz in Ordnung war. Er schien mir etwas blass und unter den Augen lagen dunkle Ringe, so als hätte er die vergangenen Nächte gar nicht oder nur schlecht geschlafen. Die Wangen wirkten hohl und der Adamsapfel trat für meine Begriffe ungewöhnlich weit hervor. Bekleidet war er mit schwarzen Jeans, einer schwarzen Lederjacke und schwarzen Schuhen. Da ich mich selber gerne schwarz kleide, vermutete ich in ihm gleich eine verwandte Seele.

Er hatte neben sich auf der Bank einen Geigenkasten liegen, der mit allerhand bunten Aufklebern verziert war. Einer stammte, wie ich von meinem Platz aus erkennen konnte, von der Universität Würzburg, ein anderer warb für das Ferienland Ostholstein. Ganz vorne klebte ein Aufkleber mit der gotischen Aufschrift »Reiterhof Ponderosa, Weilmünster/ Taunus«, schräg darunter ein Aufkleber der Stadt Niddatal und daneben ließ ein weiterer darauf schließen, wo der junge Mann möglicherweise gerade herkam: »University of Edinburgh«.

Angenehm überrascht kam ich zu dem Schluss, dass der jungen Mann dort auf Grund der Tatsache, dass die Mehrzahl der Aufkleber auf seinem Geigenkasten aus Deutschland stammte, ebenfalls dort herkam. Nachdem ich mehrere Wochen lang kreuz und quer durch Europa gereist war, konnte ich es kaum noch erwarten, wieder deutsch zu sprechen, und so rückte ich ohne lange zu überlegen neben ihn.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte ich ihn. Sichtlich überrascht, wenn nicht erschrocken, wandte er sich mir zu. Mir war, als weiteten sich seine Augen für einen klitzekleinen Augenblick vor Staunen und als wiche er den Bruchteil eines Millimeters zurück. Er musterte mich mehrere Sekunden lang wie gebannt, fast so, als kennte er mich irgendwoher. Nun befand sich die Überraschung ganz auf meiner Seite. Für mich gab es keinen Zweifel daran, dass ich diesem jungen Mann noch nie zuvor begegnet war.

Kurz darauf verschwand die Verwunderung schon wieder aus seinem Gesicht. Anscheinend konnte er mich doch nirgendwo einordnen, was mich auch gewundert hätte.

»Du sitzt ja schon«, entgegnete er in einem Ton, aus dem ich schloss, dass ihm der Sinn nicht nach Konversation stand. Wenigstens hatte ich richtig geraten; er war tatsächlich Deutscher. Da er allem Anschein nach doch lieber allein sein wollte, griff ich nach meinem Rucksack, um mich woanders hinzusetzen. Platz genug gab es ja.

»Willst du schon wieder gehen?«, fragte er mich in einem schon deutlich angenehmeren Ton. Seine Aussprache war nicht typisch hochdeutsch. Ich vermochte seinen Akzent jedoch nirgendwo einzuordnen.

»Wenn du lieber deine Ruhe haben willst –« Mir war die Lust auf Unterhaltung vergangen.

»Tut mir leid, so war das nicht gemeint«, entschuldigte er sich. »Ich war in Gedanken noch in Schottland.«

»Was hast du denn dort gemacht?«, erkundigte ich mich neugierig.

»Ich hab' mich da herumgetrieben und gejobbt.«

»Darf man fragen, was?«

»Was man als Student im Ausland so macht: Ich habe in einem Hotel und auf dem Feld gearbeitet, aber auch Musikunterricht gegeben. – Und du, wo kommst du gerade her?«, wollte er nun von mir wissen. Ich erzählte ihm, dass ich mich auf einer Interrail-Reise durch Europa befände und soeben Irland und Großbritannien abgehakt hätte. Als nächste und letzte Etappe standen die neuen deutschen Bundesländer auf dem Programm. Auf die war ich schon sehr neugierig und auch er meinte, dass es ihn sehr reizen würde, sie näher kennen zu lernen.

Nachdem das Eis zwischen uns gebrochen war, fand ich den Mut, ihn zu fragen – die Neugier ging wieder einmal mit mir durch –, warum er so überrascht gewesen sei, als ich mich zu ihm gesetzt hatte. Ich erwartete als Antwort, dass ich mich damit getäuscht hätte, dass dem gar nicht so sei; stattdessen aber schwieg er einige Sekunden lang, bis er schließlich sagte: »Du erinnerst mich an jemanden … an eine frühere Schulkameradin, in die ich mal sehr verliebt war.«

Ich spitzte die Ohren, wie ich es immer tue, wenn direkt oder indirekt von mir die Rede ist, und bat ihn, mir von jener Schulkameradin zu erzählen. Mich interessierte vor allem, worin er die Ähnlichkeit zwischen ihr und mir sah. Ich befürchtete jedoch, dass er vielleicht gar nicht darauf eingehen wollte. Vielleicht belastete ihn die Erinnerung daran; aber er ließ nichts dergleichen erkennen und begann zu erzählen. Ich hatte sogar den Eindruck, es tat ihm gut.

»Ich war vor ein paar Monaten kurz zu Hause. Das ist Limburg an der Lahn in Hessen. Ich weiß nicht, ob du es kennst.«

Das Geheimnis seines Akzents war gelüftet: Er war Hesse.

»Mittelhesse«, korrigierte er mich mit einem Augenzwinkern, und nachdem ich erwidert hatte, dass ich an Limburg schon vorbeigefahren sei, fuhr er fort: »Seit meinem Abitur – das ist inzwischen fünf Jahre her – hatte ich kein Schulkonzert meiner ehemaligen Schule mehr besucht. Der Chor und das Orchester meines früheren Gymnasiums führen jedes Jahr im Juni ein Sommerkonzert und im Dezember ein Adventskonzert auf, musst du wissen. Ich habe früher selbst im Schulorchester mitgewirkt. Von daher war es wie eine Reise in die Vergangenheit, als ich dieses Jahr nach fünf Jahren wieder mal hinging, und das in verschiedenerlei Hinsicht.

Es war am Konzertabend sehr schwül und gewittrig. An der Schule hatte sich einiges verändert. Vor allem sind in der Zwischenzeit endlich die Modernisierungsarbeiten abgeschlossen worden, die zur Zeit meines Abiturs die Penne recht abbruchreif hatten aussehen lassen. Ich traf ein paar alte Lehrer, den „Ismus“ zum Beispiel, den ich einige Jahre lang in Deutsch und Kunst hatte. „Ismus“ wurde Oberstudienrat Hildebrandt deswegen genannt, weil er es liebte, über die verschiedenen „-ismen“ in der Kunstgeschichte ausgiebig zu philosophieren. Von den übrigen Konzertbesuchern kannte ich so gut wie niemanden – mit einer Ausnahme. Ich glaubte zuerst, verkehrt zu sehen; aber sie war es tatsächlich: meine alte Herzensbrecherin Patrícia Fernandes, die, an die du mich erinnert hast, zusammen mit ihrer Familie.

Vom Äußeren her gesehen ist die Ähnlichkeit zwischen euch gar nicht mal so überwältigend groß; aber ihr habt fast die gleichen Augen. Sie trägt ihre Haare auch lang, aber nicht so lang wie du. Damals, das heißt, zu meiner Schulzeit, waren sie vielleicht noch ein Stück länger als heute. Sie haben ungefähr den gleichen Braunton wie deine. Patrícia dürfte so groß sein wie du, aber etwas zierlicher, damals noch mehr als heute, und ihr Gesicht ist etwas schmaler als deins. Ihre Haut ist etwas dunkler als deine oder meine. Das mag daran liegen, dass sie aus Portugal stammt.«

Ich bat ihn, weiterzuerzählen. Ich fand nicht nur, dass er eine angenehme Art zu sprechen besaß, so ruhig und gemäßigt, sondern auch das, was er zu erzählen hatte, fesselte mich mehr und mehr, so dass ich mir fast wünschte, die Überfahrt möge nie zu Ende gehen.

»Leider«, fuhr er fort, »sah ich Patrícia nur aus der Ferne, so dass ich sie nicht begrüßen konnte. Ich nahm mir vor, dies unmittelbar nach dem Konzert zu tun.

Patrícia ist ein Jahr jünger als ich. Als ich auf sie aufmerksam wurde, war sie in Klasse Acht und ich in Klasse Neun. Eigentlich war sie ein Mädchen wie alle anderen. Ich könnte heute gar nicht mehr sagen, was mich genau an ihr so faszinierte. Fest stand, dass sie mich faszinierte und dass ich unentwegt an sie denken musste.«

Ich sah in ihr so etwas wie eine kleine Schwester. Im Nachhinein erscheint es mir insofern als einleuchtend, als ich damals mit dem Gedanken an eine feste Freundin noch nicht das Geringste anfangen konnte, und in irgendwelche Bilder und Vorstellungen mussten sich meine Gedanken und Gefühle schließlich kleiden.

Ich fand schnell heraus, dass sie Patrícia mit Vornamen hieß und in welche Klasse sie ging. Dazu brauchte ich im Grunde nicht mehr zu tun, als Augen und Ohren offen zu halten. Damit aber war mein Interesse – oder sollte ich vielleicht besser Neugier sagen? – noch nicht befriedigt.

Vor allem interessierte mich, was es mit ihrem südländischen Aussehen für eine Bewandtnis hatte. So kam ich eines Morgens früher als sonst in die Schule, um einen Blick ins Klassenbuch von Patrícias Klasse zu werfen. Damals wurden die Klassenbücher noch so aufbewahrt, dass man durchaus heimlich darin blättern konnte, ohne dabei gesehen zu werden, wenn nicht gerade jemand vorbeikam. Davon wurde auch recht häufig Gebrauch gemacht, wenn es darum ging, heimliche Herzdamen bzw. Herzbuben ausfindig zu machen. Heute nach der Modernisierung der Schule wäre dies nicht mehr so ohne Weiteres möglich.

In Patrícias Klasse gab es zwei Mädchen, die auf diesen Namen hörten; doch nur eine schrieb sich mit c und Akzent auf dem ersten i und hatte den romanischen Familiennamen Fernandes. Aus dem Klassenbuch erfuhr ich einige interessante Dinge über meinen Schwarm: Adresse, Geburtstag und Geburtsort (sie war in Lissabon geboren). Ich hatte alle möglichen südlichen Länder in Erwägung gezogen: Italien, Spanien, Griechenland, auch die Türkei; doch an Portugal hatte ich nicht gedacht. Das lag wohl daran, dass Portugal zu dem Zeitpunkt für mich „tabula rasa“ war. Ich wusste so gut wie gar nichts über dieses Land; gerade mal, wo es lag. Das sollte sich nun ändern. Jetzt, da ich wusste, dass Patrícia aus Portugal stammte, entwickelte ich eine massive Sensibilität für alles, was mit ihrer Heimat zusammenhing. Ich besorgte mir in einem Reisebüro Material über Portugal und einen Stadtplan von Lissabon und verfolgte regelmäßig die Sendungen für portugiesische Gastarbeiter im Fernsehen, die nicht nur über das Land informierten, sondern auch portugiesische Musik brachten, sowohl Modernes als auch Folkloristisches. Ich war damals schon ein passionierter Musiker – auch wenn ich behaupten möchte, dass ich es Patrícia zu verdanken habe, dass ich heute Musik studiere. Ansonsten wäre sie möglicherweise nur ein Hobby geblieben. Mehr dazu später. Daher also beeindruckte mich die portugiesische Musik am meisten, vor allem der Klang der portugiesischen Gitarre. Wie du vielleicht weißt, sieht die anders aus als eine herkömmliche Gitarre und klingt auch anders; so ähnlich wie eine Mandoline. Dies regte meine Phantasie an und ich träumte davon, eines Tages mit Patrícia zusammen zu musizieren, sie auf der portugiesischen Gitarre, ich auf einem meiner Instrumente, Klavier oder Violine. Erst viel später erfuhr ich, dass sie gar nichts mit der portugiesischen Gitarre am Hut hatte, sondern Klavier und Querflöte spielte. Damals aber waren meiner Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt, und ich stellte mir die schönsten Dinge vor. Ich träumte davon, von Patrícia und ihrer Familie in den Ferien nach Lissabon eingeladen zu werden und mit ihr Hand in Hand über die Avenida de Liberdade, den Rossio-Platz und die Praça de Comércio zu flanieren und mit der altertümlichen Straßenbahn zum Kloster Belém zu fahren. Ja, ich hatte mich gründlich auf meinen Besuch vorbereitet. Ich hatte mich so intensiv mit dem Stadtplan und dem Prospektmaterial von Lissabon befasst, als wäre es darum gegangen, ein Examen zu bestehen.

Heute – das Ganze liegt inzwischen neun Jahre zurück – bin ich überzeugt davon, dass hinter all diesen Gedanken und Träumen der Wunsch stand, aus der eigenen Welt auszubrechen, die mir gerade zu jenem Zeitpunkt so düster und grau vorkam wie selten.

Du musst wissen, dass ich mit acht Jahren meine Mutter verloren habe. Sie starb 1976 an Herzversagen. Seitdem war gewissermaßen der gute Geist, der ruhende Pol unserer Familie verschwunden. Mein Vater versuchte, den Verlust wettzumachen, indem er sich kopfüber in seine Arbeit stürzte. Ich bin eigentlich ganz froh drum. Andere greifen stattdessen zur Flasche oder zu sonst was. Mein Bruder – er ist sechs Jahre älter als ich – ließ sich nur noch selten zu Hause sehen. Er verbrachte seine Freizeit fast nur noch mit seiner Clique, später mit seiner Freundin.

Ich hatte in zweifacher Hinsicht das Nachsehen: Ich hatte nicht nur eine wichtige Bezugsperson verloren, sondern fühlte mich zweitweise auf der ganzen Linie alleingelassen. Keiner nahm sich richtig Zeit für mich und so war ich mir mehr oder weniger selbst überlassen. Das fiel mir anfangs gar nicht sonderlich auf, da ich ohnehin seit eh und je ziemlich zurückgezogen gelebt habe. Ich bekam es erst zu spüren, als die Probleme richtig losgingen, und dies wurde mir durch Patrícia zum ersten Mal richtig bewusst. Im Nachhinein meine ich, dass ich über den Verlust der Mutter ganz gut hinweggekommen bin; aber gewisse Lücken sind geblieben; bis heute.

Nun zurück zu Patrícia. Es blieb nicht nur bei der Schwärmerei aus der Ferne. Ich fand sowohl die Gelegenheit als auch den Mut, Kontakt mit ihr zu knüpfen, und das machte mich unheimlich glücklich, ein Gefühl, wie ich es überhaupt nicht kannte. Bis zu den Sommerferien fehlten nur noch wenige Wochen. Im Atriumhof unserer Schule

probte eine Klasse das Theaterstück „Wehe dem, der lügt“ von Franz Grillparzer, und war stand ganz alleine am Fenster? Meine Patrícia. Obschon mir das Herz bis zum Hals hinauf klopfte, zögerte ich – und das überraschte mich selbst – keine Sekunde, postierte mich neben sie und fragte sie, was denn dort gespielt würde. Da ich einige Leute aus der Klasse dort kannte, war ich bereits bestens über alles informiert; aber wen scherte das!

Patrícia war natürlich erstaunt, von einem völlig Unbekannten angesprochen zu werden; dennoch war sie keineswegs misstrauisch oder zurückhaltend, sondern antwortete bereitwillig und freundlich auf meine Frage. Ich empfand den Klang ihrer Stimme als überaus angenehm. Sie erinnerte mich an das Miauen einer Katze, und ich bin ein großer Katzenfreund, musst du wissen. So entspann sich eine Konversation zwischen uns. Für mich war es ein überwältigendes Erlebnis, Patrícia in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen, ihre braunen Augen zu betrachten, ihren Gesichtszügen zu folgen, soweit meine euphorische Stimmung dies zuließ, und den Duft ihres Parfüms einzuatmen. Ich fühlte mich als der glücklichste Mensch auf Erden. Das Gespräch zwischen Patrícia und mir war eher oberflächlicher Natur – es ging hauptsächlich um die Schule und die Lehrer –, trotzdem aber so angeregt, dass wir glatt den Gong zum Pausenende überhörten und ich zu spät zur Mathestunde kam; doch war mir nichts gleichgültiger als das.

Zu meiner großen Freude hielt der lockere, aber nette Kontakt zwischen Patrícia und mir an. Wir hatten zwar nicht bei jeder Begegnung Gelegenheit, uns länger miteinander zu unterhalten; doch grüßten wir uns immer und das allein machte mich schon glücklich. Sicherlich hegte ich im Stillen die Hoffnung, dass sich der Kontakt zwischen uns festigen und auf die Dauer mehr daraus erwachsen würde; doch ließ ich derlei Zukunftsklänge möglichst leise und ganz weit im Hintergrund laufen, um mich ungehindert der Dinge so zu freuen, wie sie derzeit lagen.

Als ich von Patrícia erfuhr, dass sie im Schulchor mitwirkte und mit diesem am kommenden Montagabend beim alljährlichen Sommerkonzert auftreten würde, stand für mich das Programm für den betreffenden Abend fest. Ich hatte mich bislang kaum um Schulchor, Schulorchester oder Theatergruppe gekümmert; aber zum Sommerkonzert zu gehen, für das man schon die Woche zuvor per Rundschreiben geworben hatte, war ein absolutes Muss. Es war das erste Mal, dass ich die musikalischen Künste meiner Schulkameraden live erlebte. Ich war nicht wenig angetan davon, und das gewiss nicht allein auf Grund der Tatsache, dass „meine“ Patrícia mitwirkte, obgleich diese die Hauptursache meines erhöhten Herzschlags war.

An das Konzertprogramm kann ich mich noch so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Dieser Abend sitzt mir noch so im Gedächtnis, als wären seitdem nicht neun Jahre, sondern neun Tage vergangen. Zuerst kam ein Konzert von Georg Philipp Telemann für Trompete und Orchester. Die Trompete wurde übrigens von einer Klassenkameradin von mir gespielt, in die ich auch mal verknallt gewesen war. Dann kam Chormusik aus Renaissance und Romantik, die vom Oberstufenchor vorgetragen wurde. Hierauf war der Mittelstufenchor und damit auch „meine“ Patrícia an der Reihe, und zwar mit Spirituals und anderen amerikanischen Liedern, z. B. dem Volkslied „Shenandoah“. Den Abschluss des Abends bildete der Chor der Jahrgangsstufe 5 mit der Kantate „Der Rattenfänger von Hameln“ von Günther Kretzschmar, eine sehr schöne Kantate.

Ich war am Schluss wie berauscht. Obschon ich Drang nach frischer Luft verspürte, kam ich nicht umhin, in der Pausenhalle auf Patrícia zu warten und ihr meine Begeisterung mitzuteilen. Ich musste mich indes in Geduld fassen. Ich fürchtete schon, sie sei mir entwischt; aber nein, da kam sie endlich, zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester. Patrícia begrüßte mich wie immer sehr freundlich und es war für mich eine Wohltat, ihr meine Begeisterung mitteilen zu können. Ihre Eltern verfolgten dies, wie mir schien, mit Wohlwollen. Dies veranlasste mich zur Hoffnung, dass sie einen positiven Eindruck von mir gewonnen hatten, und ließ mich umso mehr hoffen, dass sich unser Kontakt verstärken würde. Ich war danach so aufgedreht, dass ich in der Nacht nicht schlafen konnte.

Bis zum Beginn der Sommerferien fehlte nur noch eine knappe Woche. Die noch verbleibenden Schultage wurden meist mit Ausflügen und Wanderungen verbracht. Am nächsten Tag schwang sich unsere Klasse aufs Fahrrad und radelte los. Das Wetter war an diesem Tag trübe, feucht und für die Jahreszeit eigentlich zu kühl, und nur selten fand ein Sonnenstrahl ein Loch durch die Wolkendecke; aber all das kam mir nach der schlaflosen Nacht gerade entgegen. Der frische Fahrtwind hielt mich einigermaßen bei Sinnen. Unser Weg führte uns von Limburg durch den Goldenen Grund – die Gegend heißt wegen des fruchtbaren Bodens so – in Richtung Frankfurt. Nach zehn Kilometern etwa bogen wir nach links ab ins Tal des Laubusbaches, das ebenso zauberhaft ist wie der Goldene Grund. Über mehrere Kilometer ist es von Wald geprägt, der später ausgedehnten Feldern Platz macht. Nachdem wir eine Ortschaft durchquert hatten, erreichten wir nach wenigen Kilometern unser Ziel, eine ehemalige Mühle. Im Laubustal gibt es einige davon. Diejenige, für welche der Großteil unserer Klasse gestimmt hatte, war zu einem Reiterhof umfunktioniert worden und hieß seitdem Ponderosa. Ich hatte vorher noch nie etwas von der Ponderosa gehört. Damals war sie auch noch nicht so bekannt wie heute. Erst später entwickelte sie sich zu einem beliebten Ort, der alle Möglichkeiten zu erholsamen Reiterferien oder geruhsamen Urlaub im Grünen bietet. Mit diesem Hof sollte ich später noch mehr zu tun bekommen, und zwar durch Claudia, die ich aber erst zwei oder drei Jahre später kennen lernen sollte. Claudias Eltern sind heute Pächter der Ponderosa; aber damals waren sie noch nicht dort, sondern kamen erst ein Jahr später.

Wir verbrachten dort einen herrlichen faulen Tag. Die einen streiften Abenteuer suchend durch den Wald, andere wateten wagemutig durch den Laubusbach, wobei der eine oder andere ein feuchtes Hinterteil davon zurückbehielt, und wieder andere betrachteten sich in den ein Stück von der Mühle entfernt liegenden Ställen die Pferde. Die vierte Gruppe – dazu zählte auch ich – saß im Reiterstübchen bei einer Flasche Cola und kaute am mitgebrachten Reiseproviant. Ich hatte mir in meiner überschwappenden Portugal-Euphorie einen Sprachführer Portugiesisch gekauft, war letztendlich aber gefühlsmäßig zu angespannt, um mir etwas davon im Gedächtnis zu behalten.

Ich ging mit Patrícia am Ufer des Tejo entlang. Die Sonne schien hell und warm auf uns herab. Der Alltag mit seinen Problemen und Nöten war über zweitausend Kilometer von mir entfernt; stattdessen durfte ich mit Patrícia zusammen sein, dem Mädchen, dem mein ganzes Herz gehörte, und ich durfte zudem ein für mich noch völlig unbekanntes Land entdecken. Ich fühlte mich wie von einer Zentnerlast befreit, wie ein neuer Mensch. Endlich konnte ich frei atmen! Patrícia und ich setzten uns auf eine Bank. Ich legte vorsichtig meinen Arm um sie, was sie sich gerne gefallen ließ, und wollte gerade mit den Lippen ihre Wange berühren – da riss mich mein Schulfreund Leif aus meinen Träumen; wohl deshalb, weil ich darüber etwas eingenickt war und begonnen hatte, Geräusche von mir zu geben. Ich war so richtig über beide Ohren verliebt!

Es war eines der ganz wenigen Male, dass ich mich auf die Schule freute; natürlich weniger auf die Schule selbst, wenngleich so kurz vor dem Schuljahresende kein Leistungsdruck mehr bestand, sondern – wie könnte es anders sein – auf Patrícia. Umso überraschter war ich, dass ich sie nirgendwo finden konnte, während ihre Klasse geschlossen zur Stelle war. Nanu, war sie vielleicht krank geworden? Als Patrícia am nächsten Tag wieder nicht auftauchte, hielt ich es nicht länger aus. Ich schwang mich aufs Fahrrad und machte mich auf den Weg zu ihr nach Hause. Ich kannte die Adresse ja aus dem Klassenbuch. Ich hatte natürlich nicht vor, aufs Geratewohl zu klingeln; den Mut dazu hätte ich im Leben nicht aufgebracht. Ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Trotzdem war es mir ein nagendes Bedürfnis, dort nach dem Rechten zu sehen, und sei es auch nur von außen. Die Familie Fernandes bewohnte ein hübsches einstöckiges Einfamilienhaus mit einem großen gepflegten Garten und zwei Garagen, das auf einen gewissen Wohlstand schließen ließ. Was mich überaus eigentümlich berührte, war die Tatsache, dass die Rollläden sämtlicher Fenster heruntergelassen waren. Ich ahnte Arges, nämlich, dass die Fernandes den Beginn der Ferien vorverlegt hatten. Ich fragte mich indes, wie Patrícia dies mit der Zeugnisausgabe hätte in Einklang bringen wollen, die ja erst morgen stattfinden sollte. Womöglich hatte sie es schon vorher bekommen; denn am nächsten Vormittag, dem letzten des laufenden Schuljahres, blieb sie genauso verschwunden wie die Tage zuvor.

Eine Welt brach in mir zusammen. Der Gedanke, ganze sechs Wochen auf Patrícias Nähe – soweit man von Nähe sprechen konnte – verzichten zu müssen, drückte mir den Atem ab. Ich hatte das Gefühl, mir sei etwas Lebenswichtiges entzogen worden. Mir war schon damals durchaus bewusst, dass meine Reaktion maßlos überzogen war; doch vermochte diese Erkenntnis nicht annähernd, den Schmerz zu lindern, geschweige denn zu heilen, der sich wenige Tage später einstellte, als die Schockwirkung verflogen war. Die Vorstellung, dass Patrícia sich wahrscheinlich nun am Ufer des Tejo eine schöne Zeit machte und mich womöglich darüber vergessen würde – vor allem letzterer Gedanke quälte mich derart, dass mir tage- und nächtelang fast unaufhörlich die Tränen liefen. Für gewöhnlich tue ich mich mit Weinen ziemlich schwer, auch wenn ich es mir öfters herbeiwünsche. Es blieb nicht nur beim seelischen Schmerz; es stellten sich recht bald auch körperliche Schmerzen ein. Ich bin ziemlich anfällig für psychosomatische Leiden, und wenn es hart auf hart kommt, was man im Falle Patrícias mit Fug und Recht behaupten kann, schlägt es sich bei mir zuerst auf den Magen, wie bei vielen anderen Menschen auch. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich dem Schmerz viel zu viel Raum ließ. Wenn ich damals etwas mehr Unternehmungsgeist besessen hätte, hätte ich es gewiss nicht soweit kommen lassen, sondern irgendetwas unternommen, anstatt zu Hause herumzuhängen und mir in die Tasche, oder besser, in den Magen zu jammern. Mir ist auch klar, dass ich mit Sicherheit nicht so fürchterlich gelitten hätte, wenn jemand da gewesen wäre, der mir Verständnis für meine Situation entgegengebracht hätte und in der Lage gewesen wäre, mir Mut und Zuversicht zuzusprechen. Aber es war niemand da. Mit meiner Familie konnte ich dahingehend überhaupt nicht rechnen. Mein Schulfreund Leif kümmerte sich zwar recht rührend um mich und versuchte, das Gröbste von mir abzuhalten, indem er mich zu kleineren Wanderungen und Fahrradtouren anstachelte; doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er gar nicht richtig begriff, wie nah mir die Patrícia Geschichte ging. „Warum um alles in der Welt lässt du dir von der doofen Portugiesin da so die Laune versauen?“, hatte er mich einmal in einer Mischung aus Unverständnis und Vorwurf gefragt. Ich hätte ihm dafür am liebsten einen ordentlichen Tritt in den Allerwertesten verabreicht, kam aber nicht umhin, mir einzugestehen, dass er mit dieser Frage völlig Recht hatte. Ich konnte ihm nicht einmal ins Gesicht schleudern, er habe davon keine Ahnung, knabberte er doch gerade selbst an einer schwierigen Herzensangelegenheit herum. Diese betraf eine Klassenkameradin, Jacqueline hieß sie. Leif war von ihr gewiss nicht minder fasziniert als ich von Patrícia; doch besaß er, und darum beneidete ich ihn, eine ganz andere Art, damit umzugehen. Er griff zu seiner Gitarre, die er übrigens sehr gut spielt, und sang sich den Druck von der Seele. Er schrieb manchmal sogar dafür eigene Lieder, wenn er der Ansicht war, es gäbe keines, was seinen Gefühlen Ausdruck verleihen könnte. Er verinnerlichte seinen Frust nicht so wie ich, sondern setzte ihn in Klang und Wort um, bevor der Frust sich festbeißen konnte. Damit löste er letztendlich auch die Probleme zwar auch nicht, verhinderte aber wenigstens dadurch, dass sie ihm zur unerträglichen Last wurden. Ich hatte ja zwei Instrumente zur Verfügung, die Violine und das Klavier; aber im Gegensatz zu Leif war ich wie gelähmt. Meine Finger gehorchten mir nicht; sie brachten nicht die Töne hervor, die ich spielen wollte. Leif hatte Recht; ich hatte meinem Kummer viel zu viel Spielraum gelassen. Leider war ich mir damals so vieler Dinge nicht bewusst! Ich fühlte mich mutterseelenallein, wünschte mir, dass meine Mutter wiederkäme; aber es blieb nur der Wunsch. Fast jede Nacht träumte ich von Patrícia. Sie ließ mir keine Ruhe.

Als die ersten beiden Wochen der Sommerferien vergangen, waren hatte ich sieben Kilogramm an Gewicht verloren. Mein Vater, und das rechne ich ihm hoch an, war nicht länger gewillt, sich dies anzuschauen, und brachte mich zum Arzt. Ich versprach mir nicht viel von einem Arztbesuch, da ich die Ursache meines Übels ja kannte, ging aber ohne zu murren mit, in der Vorstellung, dass es nur besser werden könne. Ich erzählte Dr. Hameyer, unserem Hausarzt, die Geschichte von Patrícia, obschon ich überzeugt davon war, damit nicht viel Eindruck zu hinterlassen. Wahrscheinlich würde der Arzt genau das wiederholen, was alle anderen auch sagten, nämlich: „Das ist doch ganz normal, die erste Liebe tut immer weh, das geht vorbei“ und ähnliche Sprüche. Ich wurde jedoch enttäuscht, und das im positiven Sinn: Dr. Hameyer sagte gar nichts; stattdessen signalisierten sein Blick und seine Miene Verständnis und das gab mir einen Ruck nach vorne. Er riet mir zu einem Tapetenwechsel. Wenn ich hier bliebe, meinte er, wo mich alles und jedes an Patrícia erinnere, könne ich ja keinen Abstand davon gewinnen. Dies war halbwegs auch an meinen Vater gerichtet, und ich glaubte, in seiner Miene Anzeichen schlechten Gewissens wahrzunehmen. Die ganzen letzten Jahre war von keinem Urlaub mehr die Rede gewesen, obschon wir uns vom Finanziellen her jedes Jahr mindestens einen hätten leisten können; aber seit dem Tod meiner Mutter kannte mein Vater fast nur noch seine Arbeit. Da es jetzt natürlich viel zu spät war, mich zu einer Ferienfreizeit anzumelden – diese waren ja schon längst am Laufen –, schickte er mich kurzerhand zu meiner Oma nach Ilbenstadt. Ilbenstadt gehört zur Stadt Niddatal – die ist nach dem Fluss Nidda benannt – und liegt bei Friedberg in der Wetterau. Die Wetterau ist eine schöne und fruchtbare Landschaft und liegt nordöstlich von Frankfurt. Ich bin dort geboren, genauer gesagt in Friedberg; aber aufgewachsen bin ich in Limburg. Aber die ganze Verwandtschaft mütterlicherseits sitzt in der Wetterau, zum Beispiel die Oma.

Leif, der auch nicht verreist war, wurde sozusagen gleich mit eingepackt und mit der ehrenvollen Mission betraut, keine trübe Stimmung in mir aufkommen zu lassen. Die Kur half. Es gelang mir zwar nicht, Patrícia aus meinem Hirn und noch viel weniger aus meinem Herzen zu verbannen; doch war sie soweit in den Hintergrund gerückt, dass ich wieder klar denken, musizieren und vor allem wieder normal essen konnte, Letzteres nicht zuletzt dank der guten Küche meiner Oma. Ich erhielt mein altes Gewicht bis auf ein, zwei Kilo zurück. Trotz allem floss auch in Ilbenstadt die eine oder andere Träne wegen Patrícia und die Frage brannte mir auf der Seele, ob sie überhaupt zurückkommen oder stattdessen in Portugal zu bleiben gedächte. Wenn ich heute darüber nachdenke, scheint es mir unverständlich, wie ich mich emotional derart von einem Mädchen abhängig machen konnte, über das ich mir nicht das geringste Urteil erlauben konnte, weil ich sie überhaupt nicht näher kannte und im Grunde genommen auch gar keine Chance bestand, sie näher kennen zu lernen. Auf der anderen Seite aber muss man bedenken, dass damals in mir der unbeschreiblich große Wunsch nach einem Bezugspunkt vorhanden war.

Wir blieben bis zum Ende der Ferien in der Wetterau. Leif und ich verbrachten auch viel Zeit draußen und machten entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Gegend unsicher oder badeten in der Nidda.

In der Nacht zum ersten Schultag tat ich vor Aufregung kein Auge zu. Morgen würde ich Patrícia wiedersehen! Aber – würde sich unser netter, wenn auch lockerer Kontakt nach den Sommerferien genauso fortsetzen, wie er zuvor begonnen hatte? Ich wusste nicht, weshalb er es nicht tun sollte; schließlich hatte ich mir bei ihr nichts zuschulden kommen lassen, ihr vor allem nicht meine Liebe eingestanden.

Während des Schulgottesdienstes hielt ich angestrengt Ausschau nach meinem Schwarm, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Das musste mich jedoch nicht verwundern, war doch die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Später sah ich Patrícia endlich im Schulgebäude. Sie trug ein buntes Sommerkleid und ihre langen braunen Haare in einem geflochtenen Zopf. Ihre Haut war deutlich dunkler als vor den Ferien, was mich zu dem Schluss veranlasste, dass sie geradewegs aus ihrer südlichen Heimat kam. Sie befand sich wie auch vorher meistens in Gesellschaft einiger Schulfreundinnen, die ebenfalls von der Sonne gebräunt waren und mit denen sie angeregt Urlaubserlebnisse austauschte. Dies sollte mich jedoch nicht davon abhalten, ihr einen Gruß zuzuwerfen, auch wenn ich vor Aufregung kaum noch Luft bekam. Aus meinem Portugiesischsprachführer hatte ich mir eigens eine Begrüßung in ihrer Muttersprache zurechtgelegt und auswendig gelernt. Ich postierte mich so, dass sie mich gar nicht übersehen konnte, und holte schon tief Atem.

„Bom dia, Patrícia, como estás?“

Das „Como estás?“ brachte ich nur noch mit der allergrößten Mühe heraus. Die Angesprochene sah mir eine Sekunde lang ins Gesicht und wandte den Blick wieder ab, so als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen. Ohne sich umzudrehen, ging sie weiter. Mir war, als würde mir die Kehle zugeschnürt, und ein Anflug von Schwindel ließ es mir einen Augenblick lang schwarz vor Augen werden. Das war also das lang ersehnte Wiedersehen mit Patrícia gewesen! Ich konnte es gar nicht fassen. Wenig später war Leif zur Stelle, um mich zu unserem neuen Klassenraum zu holen. Er brauchte mir nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, was Sache war. Ich ließ mich jedoch nicht gleich entmutigen, obschon es mir sehr schwerfiel, die Nerven zu behalten, und suchte am nächsten Tag eine neue Gelegenheit, Patrícia zu begegnen. Das Resultat war das gleiche wie am Tag zuvor; es sah ganz danach aus, als existierte ich nicht mehr für sie. Ich fragte mich, wie so etwas hatte kommen können. Hatte ich mich vielleicht ihr gegenüber irgendwie danebenbenommen, ohne es zu bemerken? Wann hätte dies geschehen sollen? Bis zu dem Tag, da wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, am Abend des Sommerkonzertes, war doch alles in Ordnung gewesen! Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wieso Patrícia mich auf einmal schnitt wie jemanden, der es nicht besser verdient. Nicht einmal die Uhrzeit wollte sie mir mehr sagen. Ich verstand die Welt nicht mehr und spürte, wie sich mein Magen wieder meldete. Leider gab es diesmal keine Ausweichmöglichkeit zur Oma. Es half nichts; ich musste dadurch, und dieses Dadurch währte lange. Patrícias abweisende Haltung mir gegenüber hielt auch die kommenden Wochen und Monate an, ohne dass sich das Mindeste daran ändern ließ. Es kostete mich viel Mühe, mich nicht aufs Neue von meinen Gefühlen niederwalzen zu lassen. Schließlich kam ich irgendwann dahinter, dass es außer Energieverlust nichts brachte, etwas Vergangenem hinterherzutrauern, das um nichts in der Welt wieder Gegenwart werden wollte, und fand etwas Abstand zu Patrícia. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich den Hebel ja später noch einmal würde ansetzen können, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Von diesem Gedanken lebte ich die folgenden Monate und beachtete Patrícia – nach außen hin – nunmehr ebenso wenig wie sie mich.

So ging es über ein Jahr lang. Zwischendurch hatte ich Gelegenheit, zwei von Patrícias Klassenkameraden kennen zu lernen, von denen ich ein paar ganz interessante Dinge über mein Herzblatt erfuhr, so zum Beispiel, dass ihre Begabung vornehmlich in den Naturwissenschaften lag. Sie vertrete, so die beiden Jungen, ganz eigenwillige Meinungen und wolle stets Recht haben, was mitunter dazu führe, dass sie in Mathematik und Physik mit ihrem Lehrer in Streit gerate. Der deutlich missbilligende Ton, den die beiden Jungen im Zusammenhang mit Patrícia anschlugen, ließ erkennen, dass sie nicht sonderlich viel von ihrer Mitschülerin hielten. All dies ernüchterte mich ein Stück weit; leider aber wich die Ernüchterung bald einem neuen Brennen.

Einige Zeit später kursierte ein Rundschreiben durch alle Klassen, worin Dr. Wirbelauer, der Leiter des Fachbereichs Musik, um Nachwuchs fürs Schülerorchester warb. Als ich ein paar Tage später zu Hause Geige übte, kam mir Dr. Wirbelauers Rundschreiben noch einmal in den Sinn, und da mir mein Geigenlehrer empfohlen hatte mich einem Orchester anzuschließen, um auch das Musizieren zusammen mit anderen zu lernen, begann ich mir ernsthaft zu überlegen, ob ich meine Künste nicht dem Schulorchester zur Verfügung stellen sollte. Ich hielt mich durchaus für ausreichend fortgeschritten und traute es mir auch zu; aber beim Gedanken daran, mich voll und ganz nach anderen richten zu müssen, wurde mir etwas mulmig zumute. Kein Wunder, hatte ich mich doch bislang im wahrsten Sinne des Wortes der Kammermusik gewidmet, das heißt, im stillen Kämmerlein vor mich hin gegeigt. Ich hätte die Entscheidung, ob ich dem Orchester beitreten sollte oder nicht, sicherlich hinausgeschoben oder vielleicht sogar ganz verworfen, wenn mir nicht auf einmal siedend heiß eingefallen wäre, dass Patrícia nach wie vor im Schulchor mitsang. Wenn ich mich also tatsächlich dazu entschlösse, im Orchester mitzuwirken, würde ich damit eine neue Kontaktbasis zwischen Patrícia und mir schaffen. Schon am folgenden Tag wandte ich mich an Dr. Wirbelauer, den ich früher selbst schon als Musiklehrer gehabt hatte, um ihm meine Künste anzubieten, obschon ich eigentlich gar nicht darüber zu Ende reflektiert hatte, ob ich wirklich Lust dazu hatte oder nicht. Die eigentliche Motivation war Patrícia, und das war hier gewiss ein Vorteil; ansonsten wären mir, wie ich mich kenne, tausend Gründe eingefallen, doch die Finger davon zu lassen. Mit Neuerungen tue ich mich nämlich recht schwer; damals noch mehr als heute. Mein Eintritt ins Schulorchester sorgte da etwas für Abhilfe. Dr. Wirbelauer, ein rundlich gebauter Mann, Ende vierzig, mit einem gutmütigen, pausbackigen Gesicht und einer sehr gut geschulten Baritonstimme, bat mich gleich am selben Nachmittag mit Violine zu sich, um meine Kunst zu prüfen. Trotz einer Reihe von Ausrutschern, die von Unsicherheit und Aufregung herrührten, war er ganz zufrieden mit mir und bestellte mich gleich zur nächsten Orchesterprobe.

Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich mich ans Orchesterleben gewöhnte. Als ich indes erst einmal richtig Fuß gefasst hatte, fragte ich mich, wieso ich nicht schon längst auf die Idee gekommen war, zum Schulorchester zu stoßen; ebenso, wie ich mich bei meinem ersten Sommerkonzertbesuch gefragt hatte, warum es mich nicht schon früher dorthin verschlagen hatte. Ich arbeitete mich schließlich so gut ins Orchesterleben ein, dass es gar nicht lange dauerte, bis ich die erste Geige übernehmen durfte, worüber ich mich sehr freute.

Als die Proben fürs nächste Sommerkonzert begannen, begann auch die Zusammenarbeit mit den Jahrgangsstufenchören und damit die Zeit, da ich sozusagen beruflich mit Patrícia zu tun bekam. Tatsächlich fiel nach und nach die Barriere, die sie zwischen sich und mir errichtet hatte. Wenn ich sie ansprach, bekam ich wieder Antwort, die oftmals sogar wieder von einem Lächeln begleitet wurde, so dass ich mich manch für die Dauer mehrerer Sekunden in alte Zeiten zurückversetzt fühlte. Was hingegen Patrícia betraf, wollte es so aussehen, als erinnere sie sich nicht daran, dass wir vor fast genau zwei Jahren schon einmal miteinander gesprochen hatten. Es war so, als wären wir uns durch die Chor- und Orchesterarbeit zum allerersten Mal begegnet. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass sie sich überhaupt nicht mehr an mich erinnerte; aber wusste ich, was alles in ihr vorging?

Eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, dass die Berliner Mauer, die Patrícia zwei Jahre lang absolut dicht von mir abgeschottet hatte, niedergerissen war. Es kam mir sogar so vor, als sei Patrícia mir recht wohl gesonnen, so wie ihre Augen und ihr Lächeln mich manchmal anstrahlten. Dahinter lag jedoch nichts Schwärmerisches, dafür aber gewiss eine gesunde Sympathie, die sich vielleicht sogar hätte ausbauen lassen, wenn ich mich genug darum bemüht hätte.

Wenn ich gewollt hätte! Ich erwiderte ihre Sympathie; aber, und das erschreckte mich beinahe, mehr empfand ich nicht. Die große Faszination war verschwunden; das wurde mir erst jetzt bewusst. Die zwei Jahre vergeblicher Liebesmühe hatten so sehr an meinem Gefühlshaushalt gezehrt, dass meine große Liebe, mit der alles begonnen hatte, abgekühlt war und nichts weiter als eine den Rahmen nicht sprengende Sympathie zurückblieb. Obgleich ich heilfroh war, den Fall Patrícia Fernandes zu den Akten legen zu können, bedauerte ich diese Entwicklung auf der anderen Seite. Immerhin hatte ich Patrícia zwei Jahre lang heiß und innig geliebt – vielleicht sollte ich besser sagen: umschwärmt und nicht wenig darunter gelitten und nun war alles verpufft, ohne irgendetwas zurückzulassen, außer vielleicht der Erfahrung so ein brennendes und doch unglückliches Verliebtsein einmal durchgemacht zu haben. Mir war ja noch nicht einmal die „Chance“ vergönnt gewesen, irgendeinen dummen Fehler bei Patrícia zu begehen, für den ich mich zwar wochenlang geschämt, aber wenigstens eine Lehre fürs Leben gezogen hätte.

Jedenfalls ist mir keiner bewusst. Alles hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und das frustrierte mich ein wenig. Ich fühlte mich regelrecht um meine Gefühle betrogen, die ich in Patrícia investiert hatte. Glücklicherweise kam ich nicht dazu, lange darüber zu sinnieren; denn ich lernte ziemlich bald darauf Claudia kennen, das Mädchen vom Reiterhof Ponderosa, das ich vorhin schon mal kurz erwähnt habe.

Jetzt im Juni habe ich Patrícia wie gesagt beim diesjährigen Sommerkonzert wieder getroffen. Genau wie damals kam ich erst nach dem Konzert dazu, mit ihr zu sprechen. Sie hatte sich eigentlich kaum verändert; sie trug die Haare in etwa noch so lang wie früher und benutzte noch das gleiche Parfüm und ihre Stimme klang noch genauso samtweich wie die einer Katze.

Das Wiedersehen war überaus herzlich. Wie zwei gute alte Freunde, die sich nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder begegnen, sanken wir einander in die Arme und konnten uns gar nicht genug danach ausfragen, was wir denn jetzt so machten. Sie erzählte mir, dass sie nun in Guarda in Portugal Wirtschaftswissenschaften studiere und sich kürzlich dort verlobt habe. Ich gestehe, dass mir diese Neuigkeit einen ganz leisen Stich in die Herzgegend versetzte. Eine gewisse Verbundenheit mit früheren Herzdamen bzw. -buben scheint das ganze Leben lang bestehen zu bleiben, und sei dieser Faden auch noch so dünn.

Ich erzählte ihr, dass ich dank ihr der Musik treu geblieben sei.

„Dank mir?“, fragte sie ungläubig.

„Dank dir“, bestätigte ich und erzählte ihr aufs Geratewohl in Kurzfassung die Geschichte, die ich jetzt dir erzählt habe, wobei ich indes das Leidenskapitel aussparte. Dieses ließ ich einmal aus Zeitgründen weg und zum anderen wollte ich bei ihr keinesfalls den Eindruck erwecken, Mitleid, Bewunderung und Anerkennung erheischen zu wollen. Dafür kam ich in den Genuss einer aus allen Wolken fallenden Patrícia, die, wie allein schon ihr Gesichtsausdruck verriet, nicht das Mindeste davon geahnt hatte, dass ich einmal in sie verliebt gewesen war. Sie schloss mich noch einmal in die Arme und küsste mich auf die Wange. Dann gab sie mir ihre Adresse in Guarda und lud mich ein – nein, sie forderte mich regelrecht dazu auf, sie unbedingt zu besuchen, sollte es mich mal nach Portugal verschlagen. Ich habe ihr neulich geschrieben. Ich weiß nicht, warum; vielleicht, um zu testen, ob sie wirklich antwortet.«

* * *

Ich war beeindruckt, sowohl von der Geschichte, die er mir eben erzählt hatte, als auch von ihm selber. Ich habe schon eine ganze Reihe junger Männer kennen gelernt, bin mit einigen davon fest befreundet gewesen; aber nie hat jemand von ihnen so offen und ehrlich über seine Gefühle, Sorgen und Nöte, Wünsche und Hoffnungen gesprochen wie mein Mitreisender; auch diejenigen nicht, mit denen ich mich am besten verstand. Ich muss allerdings zugeben, dass es mir selber auch nie eingefallen wäre, Tiefgreifendes von mir nach außen zu tragen. Das war für mich eigentlich nie ein Thema gewesen. Die Interessen, die mich mit meinen Freunden verbanden, waren eher oberflächlicher Natur wie Disco oder die Frage, was am Wochenende anzustellen sei. Vielleicht sind gerade deswegen alle meine Beziehungskisten in die Brüche gegangen.

Nachdem mir mein Reisegenosse seine halbe Lebensgeschichte offenbart hatte, hielt ich es allmählich für angebracht, mich ihm vorzustellen.

»Ich heiße übrigens Susanne«, sagte ich zu ihm, »aber meine Freunde nennen mich Su. Und du?«

»Vinzenz«, antwortete er, »und meine Freunde nennen mich Vinz.«

Auf meine Frage, wo er normalerweise studiere, erwiderte Vinz, er habe in Würzburg angefangen zu studieren. Nach zwei Semestern sei er jedoch gezwungen gewesen, das Studium zu unterbrechen, da er zum Zivildienst einberufen worden sei. Der habe ihn hoch nach Norddeutschland verschlagen. Wie er den Zivildienst erwähnte, wurde er auffallend ruhig und besinnlich und flüsterte den Namen »Sheila« vor sich hin. Bevor ich ihn jedoch fragen konnte, wer jene Sheila sei, fand er zu sich zurück und erzählte weiter, dass er nach dem Zivildienst gleich nach Schottland gegangen sei. Für das kommende Semester habe er sich wieder an der Uni in Würzburg eingeschrieben. Hierauf fragte er mich im Gegenzug, was ich denn so triebe, und ich erzählte ihm, dass ich aus St. Gallen stamme und in Bern Zahnmedizin studiere. Er habe sich schon gedacht, meinte er, dass ich aus der Schweiz käme; der Akzent sei unverkennbar. Dann könne ich ja mal, fuhr er fort, nach seinen Zähnen schauen. Ich musste ihn jedoch um Geduld bitten; denn ich hatte gerade erst das zweite Semester hinter mir. Ich überlegte hin und her; doch er wollte mir partout nicht mehr einfallen, was ich Vinz hatte fragen wollen. Das Einzige, woran ich mich erinnerte, war, dass ich ihn etwas hatte fragen wollen. Stattdessen erkundigte ich mich, was es mit jener Claudia vom Reiterhof auf sich habe, die in seiner Erzählung aufgetaucht war. Ich betonte, dass ich keineswegs überneugierig sein wolle, setzte aber gleich hinzu, dass ich seine Art zu erzählen als sehr angenehm empfand. Vinz fühlte sich sichtlich geschmeichelt und versicherte, es mache ihm nichts aus, mir auch von Claudia zu erzählen, wenngleich sie kaum etwas mit mir gemein habe und es von ihr eigentlich nicht viel zu erzählen gebe, außer dass sie heute zu seinen allerbesten Freunden gehöre.

Vinz

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