Читать книгу Jakob - Ingo T Herzig - Страница 9
25.6.1961
ОглавлениеGestern war meine Mutter da. Ich habe sie nach Jakob gefragt. Er war ja ihr Neffe, ihr Patenkind. Ihre Schwester, Tante Vera, war seine Mutter. Tante Vera ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Eigentlich viel zu früh. Sie war jünger als meine Mama.
Mama scheint sich auch nur mehr nebelhaft an Jakob zu erinnern. Aber wie auch nicht; denn es war eine sehr schwierige Zeit, die den Menschen sehr viel abverlangte. Der Verlust von Angehörigen war da nur ein Teil der Prüfungen, die einem auferlegt wurden. Aber ich habe den Eindruck, dass sie sich gar nicht richtig an die Reichenberger Zeit erinnern will. Dies dürfte nicht nur mit den bösen Erinnerungen an die Vertreibung, die sie erleben musste, zusammenhängen, sondern auch damit, dass diejenigen, die aus dem Sudentenland, Schlesien usw. vertrieben worden sind, sich nachgerade gar nicht daran erinnern dürfen. Als Mama unlängst in einem Café von Reichenberg und der Vertreibung erzählte, wurde sie danach prompt vom Staatssicherheitsdienst vorgeladen und belehrt, dass sie sich dazu nicht öffentlich äußern solle. Außerdem handle es sich um keine Vertreibung, sondern um eine „Umsiedlungsmaßnahme“.
Umsiedlungsmaßnahme! Darunter verstehe ich etwas Anderes! Bei einer Umsiedlungsmaßnahme bekommt man ein anderes, gleichwertiges Quartier zur Verfügung gestellt und man kann all seine Habseligkeiten mitnehmen; aber diese „Umsiedlungsmaßnahme“ sah anders aus!
Diese Belehrung hat meiner Mutter beträchtlich zugesetzt, was ihr anzusehen war – und noch immer ist. Ich frage mich, ob das wirklich nötig war. Warum soll man nicht über Tatsachen sprechen? Jetzt will sie noch viel weniger darüber reden und ich erfahre nichts Näheres, jedenfalls vorerst nicht. Schade!