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Das Wunder

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Otmars Mutter ahnte Schlimmes, als ihr Sohn einen Brief von der Schule mit nach Hause brachte. Otmar saß gerade mit seinem kleinen Bruder Melvin und dem Vater beim Essen am Küchentisch, als die Mutter den Brief öffnete und ihn mit bleichem Gesicht laut vorlas:

"Otmars Versetzung ist stark gefährdet. Vermutlich wird er das Klassenziel nicht erreichen. Ich möchte ihm dennoch eine letzte Chance geben: Im Rahmen eines Referates im Fach Biologie erhält Otmar die Möglichkeit, doch noch versetzt zu werden. Die Arbeit muss dafür mit einer Eins bewertet werden. Das Thema ist frei wählbar.

Mit freundlichen Grüßen

Otto Wimmerling (Klassenlehrer)"


Die Mutter ließ den Brief sinken, schloss ihre Augen und sog tief die Luft ein, so als sei dies ihr letzter Atemzug. Otmar sah betreten auf seinen Teller herab. "Ausgerechnet Biologie! Und dann auch noch ein Referat. Der Junge spricht doch so ungern vor der ganzen Klasse!", jammerte seine Mutter und sah dabei Hilfe suchend den Vater an, so als befände sich Otmar irgendwo anders und säße nicht direkt neben ihr.

Kopfschüttelnd legte sie das Schreiben beiseite und verkündete seufzend: "Da hilft eigentlich nur noch ein Wunder."

Später, als Melvin im Bett lag, musste er ständig an seinen Bruder denken. Ob Otmar es schaffen würde? Referate waren wirklich nicht gerade seine Stärke. Erst nach einer ganzen Weile schlief Melvin endlich ein.

Mitten in der Nacht wachte er jedoch wieder auf. Durch einen Spalt im Vorhang warf das Mondlicht einen hellen Streifen in sein Zimmer, der Teile seiner Bettdecke und die Schubladen seines Kleiderschrankes bleich beleuchtete.

Im Schrank rumpelte es plötzlich heftig, als sei darin etwas umgefallen. Ruckartig setzte sich Melvin im Bett auf. Einen Augenblick lang war es still und Melvin hätte sich fast schon wieder hingelegt, als das merkwürdige Geräusch erneut erklang. Den Schrank durchfuhr dabei ein heftiges Zittern. Auch Melvin zitterte mittlerweile, denn die Situation kam ihm äußerst gespenstisch vor. Er stieg aus seinem Bett und huschte zum Lichtschalter, in der Hoffnung, dass der Spuk vorüber sei, wenn er Licht machte. Entsetzt stellte er jedoch fest, dass der Schrank nun wackelte wie bei einem Erdbeben, und aus seinem Inneren ein sonderbares Fauchen drang.

"Mist!", tönte es plötzlich aus der Schublade.

"Wer ist da?", hauchte Melvin ängstlich.

"Verflixt!", antwortete die Stimme aus dem Schrank. "Das Ding klemmt!"

Melvin überlegte. Was sollte er tun? Die Eltern aufwecken? Seinen Bruder rufen, oder besser gleich die Polizei?

"So hilf mir doch", jammerte das Ding im Schrank. "Ich komm' hier nicht mehr raus!"

Die Eltern würden ihm nicht glauben und wahrscheinlich genervt sein. Ebenso würde sein Bruder reagieren und die Polizisten erst recht. Er musste wohl oder übel selbst zur Tat greifen. Beherzt fasste er an den Griff der Schublade und zog kräftig daran. Zuerst klemmte die Lade, aber dann, mit einem Ruck, sprang sie auf. Melvin hielt sich die Hand vor Augen, denn ein gleißend heller Schein drang daraus hervor. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, wagte er zu blinzeln und sah eine sehr sehr kleine Frau mit goldenem Haar, die vor ihm im Zimmer schwebte.

"Wer bist du?", fragte er ängstlich.

"Na, eine Fee. Was hast du denn gedacht? Ein Werwolf?", entgegnete sie gereizt und fügte verärgert hinzu: "Die verdammte Schublade hat geklemmt, und ich konnte nicht mehr raus."

Es erstaunte Melvin, dass Feen fluchen konnten, doch noch mehr erstaunte ihn, dass sich ein solches Wesen ausgerechnet in seinen Schrank verirrt hatte.

"Was machst du in meinem Schrank?"

Die Fee verdrehte die Augen.

"Was Feen eben so machen. Muss man dir denn alles erklären?"

Hilflos zuckte Melvin mit den Schultern.

"Na schön. In Vollmondnächten sehen wir in den Schränken von euch Kindern nach dem Rechten und räumen in den unordentlichsten etwas auf. Deiner hier scheint aber ganz in Ordnung zu sein, bis auf diese blöde Schublade. Du hast übrigens einen Wunsch frei, weil du mich da rausgeholt hast. Mach aber schnell, ich muss gleich wieder hier weg."

Melvin überlegte. Wünsche hatte er so viele, doch jetzt wollte ihm auf die Schnelle kein einziger davon einfallen.

"Na los!", drängte die Fee. "Ich gebe dir noch eine halbe Minute."

Da dachte Melvin an Otmars gefährdete Versetzung und die Worte seiner Mutter. Mit fester Stimme wünschte er sich: "Ein Wunder. Ich wünsche mir ein Wunder." Die Fee guckte ein wenig gelangweilt.

"Ein Wunder, alles klar. Sollst du haben. Aber jetzt muss ich. Adieu!"

Damit machte sie sich lang, sodass sie durch den Spalt im gekippten Fenster passte und schwebte in die Nacht hinaus.

Am nächsten Morgen glaubte Melvin, er hätte alles nur geträumt und erzählte deshalb erst einmal niemandem von der sonderbaren Begegnung. Wie gewöhnlich ging er zur Schule, als sei überhaupt nichts geschehen.

Als Melvin nach Hause kam, dachte er schon gar nicht mehr an den nächtlichen Vorfall. Er aß zu Mittag und ging schließlich in sein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Gedankenverloren stieß er die Tür auf, trat ein und stellte die Schultasche auf seinen Schreibtisch. Jemand räusperte sich. Erschrocken fuhr Melvin herum und erwartete fast, dass die Fee wieder zurückgekehrt war. Doch stattdessen hockte ein Tintenfisch auf seinem Bett, der in etwa Melvins Größe hatte.


"Hallihallo junger Mann!", begrüßte ihn der Tintenfisch erfreut und winkte fröhlich mit seinen Fangarmen, während Melvin der Mund offen stehen blieb.

"W-w-wer bist du denn?", stotterte er sichtlich irritiert.

"Ich bin das Wunder", fiepte der Tintenfisch vergnügt und verwandelte sich innerhalb von einer Sekunde in ein viel zu großes Seepferd.

"Du wolltest doch ein Wunder, nicht wahr?"

Melvin nickte vorsichtig. "Schon, aber..."

"Was aber?" Das Seepferd schwebte taumelnd heran.

"Ich dachte eher an das Wunder, das mein Bruder braucht, um eine Eins zu kriegen", erklärte Melvin schüchtern. Mutig fügte er hinzu: "Ich glaube, du hast dich da geirrt. Jemand muss sich so was wie dich gewünscht haben und jetzt bist du aus Versehen bei mir gelandet."

"Papperlapapp!", widersprach das Wunder. "Ich bin hier genau richtig!"


Jetzt verstand Melvin überhaupt nichts mehr. Dieses merkwürdige Geschöpf konnte Otmar gewiss nicht helfen. Während Melvin überlegte, wie er es schnell wieder los werden könnte, nahm das Wunder die Gestalt eines Seehundes an, der vergnügt über seinen Teppich robbte und dabei große nasse Flecken hinterließ.

"Warum verwandelst du dich dauernd?", wollte Melvin wissen.

"Ach, ist das nicht herrlich!", entgegnete das Wunder begeistert. "Dieses Jahr sind Meerestiere groß in Mode. Schick, nicht wahr?"

Im nächsten Moment schlängelte es sich als Aal um Melvins Füße herum.

"Melvin!", rief der Vater aus dem Wohnzimmer.

"Du musst hier verschwinden, bevor meine Eltern dich entdecken!"

Melvin streckte den Kopf aus seiner Zimmertür.

"Ich komme gleich!"

Rasch schlüpfte er hinaus, schloss die Tür hinter sich und betete, dass das merkwürdige Wesen in seinem Zimmer blieb.

"Wir gehen einkaufen", teilte ihm sein Vater mit. "In etwa einer Stunde sind wir wieder zurück."

Melvin nickte dankbar. Das kam ihm sehr gelegen. Erleichtert verfolgte er, wie seine Eltern das Haus verließen. Dann stürmte er in Otmars Zimmer.

"Ich muss dir unbedingt etwas zeigen!", sprudelte Melvin hervor.

"Was denn?", entgegnete Otmar, der in einem Lehrbuch blätterte, um sein Referat auszuarbeiten, gelangweilt. "Ich habe eigentlich gar keine Zeit."

"Los, komm schon!", drängte ihn Melvin. "Da ist etwas ganz Merkwürdiges bei mir im Zimmer. Es verwandelt sich dauernd in verschiedene Tiere."

"Ach was!" Otmars spöttischer Miene war anzumerken, dass er seinem Bruder nicht glaubte. Dennoch war er neugierig geworden und stand rasch auf, um zu sehen, was Melvin ihm zeigen wollte. Als beide auf den Flur hinaus traten, entfuhr Otmar ein schriller Schrei. Ein etwa zwei Meter langer Haifisch schwebte an ihnen vorbei, als befänden sie sich statt im Hausgang in einem riesigen Aquarium.

"Siehst du!", rief Melvin. "Das meinte ich!"

Es klingelte an der Haustür. Erschrocken sahen sich die Geschwister an.

"Wir machen einfach nicht auf!", schlug Otmar leise vor. Doch das Klingeln hörte nicht auf. Schließlich klopfte jemand kräftig gegen die Tür und eine Frauenstimme schrie: "Ich bin's, Tante Edelgard. Macht auf! Ich weiß, dass ihr zu Hause seid. Ich habe eben eure Eltern getroffen."

"Was sollen wir jetzt machen?", flüsterte Melvin, doch bevor die beiden darüber beratschlagen konnten, ruckelte es im Schloss der Haustür.

"Mist!", wisperte Otmar. "Unsere Eltern haben ihr einmal einen Reserveschlüssel gegeben."

Die Tante trat mit Schwung ein und begrüßte die beiden Jungen mit strafenden Blicken.

"Warum macht ihr mir denn nicht auf?"

"Wir, wir hatten die Musik laut und hätten beinahe das Klingen überhört", rettete Otmar die Situation, während sich Melvin verblüfft nach dem Wunder umsah, es aber nirgends entdeckte.

"Ihr solltet lieber Hausaufgaben machen, als euch dieses neumodische Zeugs anzuhören!", empfahl sie und trat forsch auf ihre Neffen zu, um ihnen einen feuchten Schmatz auf die Wangen zu drücken.

"Was habt ihr denn hier Schönes?"

Voller Staunen wandte sie sich der Kommode zu und deutete auf etwas, das die Geschwister vorher noch nie dort gesehen hatten. Es war eine riesige weiße Muschel mit gewelltem Rand.

"Ein wahres Prachtstück!", befand die Tante und begutachtete sie ausgiebig, bevor sie das Interesse an dem vermeintlichen Dekorationsstück wieder verlor.

"Was macht die Schule?", fragte Edelgard streng und ging dabei auf Otmars Zimmer zu. Hinter ihrem Rücken hob sich der Deckel der Muschel leicht an. Melvin glaubte zu erkennen, dass aus ihrem Inneren ein Augenpaar herausspähte.


Als die Tante gegangen war, rannte Melvin schnell zu der Kommode und schnappte sich die Muschel.

"Puh, das war knapp!", rief er und trug das Wunder zurück in sein Zimmer, wo es augenblicklich verschwand. Unruhig sah sich Melvin um und erkannte erleichtert, dass das Wunder nicht geflüchtet war, sondern nur eine durchsichtige Färbung angenommen hatte und nun als Qualle durch die Luft schwebte. Interessiert begutachtete sich die Qualle im Spiegel von allen Seiten.

"Na, wie sehe ich aus? Ich fand, der Haifisch stand mir irgendwie besser."

Doch niemand antwortete ihm. Nachdenklich betrachtete Otmar das Tier, während sein Bruder ihm die ganze Geschichte erzählte.

"Vielleicht könnte mir das Wunder doch nützlich sein", grübelte er, als Melvin fertig war. Verblüfft starrte Melvin ihn an.

"Wie soll das denn gehen?"

Otmar rückte verschwörerisch näher und berichtete ihm von seinem Plan.


Am nächsten Tag ging Otmar froh gelaunt zur Schule. Er war sich seiner Sache sicher. In seiner Schultasche lag - sorgsam in Butterbrotpapier eingewickelt, damit keine Ecke abbrach - ein kleiner orangefarbener Seestern. Heute war der entscheidende Tag. Otmar musste sein Referat halten - gleich in der ersten Stunde.

Während nach und nach seine Klassenkameraden eintrafen, bereitete er sich auf den großen Augenblick vor. Sorgfältig breitete er seine Unterlagen aus und befreite schließlich den Seestern, den er vorsichtig auf das Pult legte. Dann kam auch schon Herr Wimmerling, nahm in der ersten Reihe Platz und nickte ihm aufmunternd zu. Als Otmar das Thema seines Referates nannte, wirkte der Lehrer sehr erfreut. "Meerestiere, wie interessant!", sagte er freundlich und bedeutete seinem Schüler zu beginnen.

Nach einer kleinen Einleitung begann Otmar, Seesterne zu beschreiben. Dazu nahm er das Exemplar, das vor ihm lag und hob es hoch.

Währendessen kauerte sich Melvin draußen unter dem Fenster zusammen und schob sich nun langsam hoch, um das Geschehen zu beobachten. Zu neugierig war er auf die Reaktion des Lehrers und der Mitschüler.

Als nächstes beschrieb Otmar Seeschlangen. Die meisten Kinder blickten recht gelangweilt. Doch als sich plötzlich dort, wo eben noch der kleine Seestern gelegen hatte, eine Schlange ringelte, ging ein Aufschrei durch die Klasse. Herr Wimmerling sprang auf. Doch Otmar ließ sich nicht beirren, sondern nahm die Schlange zwischen die Finger und erklärte, von was sich diese Meeresbewohner ernährten. Der Lehrer wollte ihm das Tier entreißen, da er vermutete, es sei gefährlich, doch als er die Hand ausstreckte, hatte sich die Schlange bereits in einen Delfin verwandelt, der über die Köpfe der Schüler hinweg schaukelte, als trügen ihn unsichtbare Wellen durch die Luft. Herrn Wimmerling stand der Schweiß auf der Stirn, doch er erkannte, dass er nichts gegen das sich ständig verformende Wesen tun konnte. Also ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und beobachtete mit offen stehendem Mund, wie Otmar nach und nach die Eigenarten von etwa einem Dutzend Meeresbewohner auf äußerst anschauliche Art erklärte.

Als Otmar sein Referat beendet hatte, fragte er Herrn Wimmerling, der sich mit einem Taschentuch gerade das schweißnasse Gesicht abtrocknete: "Und, welche Note kriege ich?"

Der Lehrer reckte seinen Daumen hoch und konnte nur noch heiser flüstern: "Eins, du bekommst eine Eins."

Otmar sprang in die Luft, wollte den Seewolf neben sich drücken, doch der verwandelte sich schnell in eine Krabbe, die gefährlich mit ihren Scheren schnappte.

Daheim war der Jubel natürlich groß. Otmar musste überhaupt nicht erzählen, wie er es genau angestellt hatte, eine Eins zu bekommen. Den Eltern genügte völlig zu wissen, dass er nun doch noch versetzt wurde. Freudig versprachen sie ihm, einen Wunsch dafür zu erfüllen.

Später saßen die Geschwister in Melvins Zimmer. Das Wunder hatte nun die Gestalt eines dicken Wals, der fast den ganzen Raum ausfüllte.

"Das war wunderbar!", schwärmte es. "Ich fühlte mich wie ein Model auf einer Modenschau. Zum Schluss haben sogar alle applaudiert!"

Begeistert blies es eine Fontäne aus seinem Rücken.

"Wirst du bei uns bleiben?", fragte Melvin plötzlich leise. Der Wasserstrahl versiegte jäh.

"Es tut mir sehr Leid", flötete der Wal mit hoher Stimme. "Aber ich muss diese Stadt verlassen. Wunder sind viel beschäftigt. Ich hoffe, ihr versteht das."

Die Geschwister nickten benommen.

"Außerdem", so fuhr er vergnügt fort, "will ich mich ein wenig auf den Modemessen umsehen und die neuesten Trends ausfindig machen."

Verschwörerisch schwamm er näher.

"Man munkelt, nächstes Jahr seien Monster ‚in'. Ich sehe mich schon als hässlichen Troll durch die Gegend stampfen."

Das Wunder kicherte verhalten. Dann wurde seine Miene wieder ernst.

"Aber nun lebt wohl!"

Bevor die Kinder ihn aufhalten konnten, schrumpfte der Wal zu einer flachen Flunder zusammen, machte kehrt und schlüpfte flugs durch den Türspalt hinaus.


Zwistien und Zankistan

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