Читать книгу Gute Nacht, Mr. Sharon - Ingrid Müller - Страница 7
ОглавлениеDie Krankheit
Der Krieg allein war nicht Unheil genug. Unser Leben wurde auch dominiert von Krankheiten. Ich erinnere mich noch schwach daran, wie meine Mutter als Folge einer Diphterie bewegungsunfähig mit Rheuma auf der Couch lag. Männer mit einer Bahre kamen und trugen sie hinaus. Mein Vater und ich besuchten sie einmal im Krankenhaus, was eine Himmelsreise war. Heute ist das kein Problem mehr. Man setzt sich ins Auto und fährt hin. Damals mussten wir uns durch mehrmaliges Umsteigen in Zug und Straßenbahn sowie einem anschließenden Fußmarsch den Krankenhausbesuch geradezu erkämpfen.
Irgendwann hatte ich als Kleinkind eine Lungenentzündung. Mir ist noch in Erinnerung, wie mich mein Vater keuchend quer durch die Stadt schleppte, bis wir endlich das Kinderkrankenhaus erreichten.
So richtig habe ich es in meiner frühen Kindheit nicht begriffen, dass mein Vater schwer erkrankte. Irgendwann einmal war meine Mutter sehr aufgeregt und sagte, der Papa sei im Krankenhaus. Heute weiß ich, dass er auf der Straße mit einem Blutsturz zusammen gebrochen war. Er hatte offene Tuberkulose und lag wochenlang auf der Isolierstation.
Danach war er sehr lange zur Rehabilitation in einer Lungen-Fachklinik. Als er wieder nach Hause kam, kennzeichnete er ein Essbestecke durch Kratzer, und meine Mutter erklärte mir, dass wir mit diesem Besteck nicht essen dürften, um uns nicht anzustecken. Das war ein genialer Einfall, denn dieses Besteck kam mit allen anderen gemeinsam in die Spülschüssel und wurde mit demselben Geschirrtuch abgetrocknet. Die Krankheit war jedoch soweit verheilt, dass sie nicht mehr ansteckend war.
Ich musste erleben, wie grausam die Umwelt auf Krankheiten reagiert. Die Kinder in der Nachbarschaft durften nicht mehr mit mir spielen, obwohl ich gesund war. Erwachsene trieben mich davon, wenn ich auf der Suche nach Spielgefährten irgendwo auftauchte. Selbst Jahre später, nachdem unsere Klassenlehrerin von der Krankheit meines Vaters durch eine Intrige erfuhr, setzte sie mich unter einem Vorwand in die leere letzte Bank und sagte, ich habe eine ansteckende Krankheit, man müsse mich isolieren.
Mein Vater starb kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag. Nach jahrzehntelanger Medikamenten-Einnahme hatte sein Arzt ihn Jahre vorher für geheilt erklärt.
Einen Vorteil hatte die Krankheit: mein Vater musste nicht in den Krieg. Niemand in unserer Familie hat sich angesteckt, aber die Niedertracht der Mitmenschen hat uns das Leben schwer gemacht.