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Das Blut von San Gennaro und der Ausbruch des Vesuvs

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Gleich hinter dem Hauptbahnhof von Neapel umrandet eine breite, schmutzige Allee die Küstenlinie. Ihr Name wirkt, da sie offenbar landumschlossen ist, seltsam: Via del Ponte della Maddalena, Straße der Brücke der heiligen Maria Magdalena. Alliierte Bomber legten 1943 und 1944 einen Großteil der Gegend in Schutt und Asche, zerstörten die kleine Kirche des heiligen Erasmus (eines römischen Soldaten, der für seinen Glauben ausgeweidet wurde), aber die Straße hat irgendwie überlebt, ebenso wie wunderbarerweise die Brücke; allerdings wurde der Fluss, der unter ihr hindurch in die Bucht von Neapel fließt, vor langer Zeit in einen unterirdischen Kanal verlegt. Auch als er noch sauber und unter freiem Himmel floss, war der Sebeto nur etwa zehn Kilometer lang – oder, wie die alten Römer gesagt hätten, zehnmal tausend Schritte (mille passuum).1 Und seit es Neapel gibt, seit dem 6. Jahrhundert v. Chr., markiert der Sebeto die Grenze zwischen Neapolis, der „neuen Stadt“, und dem Rest der Welt.

Ebenso markierten die späteren Nachbarn des Sebeto, die Ponte della Maddalena und die kleine Erasmuskirche, den äußersten Rand der Stadt; in vielerlei Weise tun diese spukhaften Erscheinungen das bis heute. Italiens älteste Eisenbahnlinie nahm 1839 hier ihren Anfang. Heute finden sich in derselben Gegend nahe dem Hafen und dem riesigen Handelszentrum der Piazza del Mercato nicht weniger als drei Bahnhöfe: der Hauptbahnhof mit seinen Hochgeschwindigkeitsverbindungen, der U-Bahnhof an der Piazza Garibaldi und die private Linie Circumvesuviana, die älteste ihrer Art in Italien. Und hier hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Aufstieg des Automobils auch die schmutzige, ergrauende Auffahrt zur Autostrada A3 große Sprünge gemacht. Bevor es Züge und Autos gab, war das nun so trostlose Niemandsland auch ein sozialer Ort, wo sich – zu vielen Gelegenheiten und zahlreichen Anlässen – die Bevölkerung von Neapel versammelte, um dem Berg Vesuvius zu begegnen, zu Fuß, auf dem Rücken von Tieren, in Karren und Kutschen.

Unmittelbar jenseits der Ponte della Maddalena begann ungezählte Jahrhunderte lang eine breite Straße ihren direkten Weg in den Süden; seit dem Zweiten Weltkrieg weist ein Marmorstraßenschild sie als Strada Reggia di Ercolano aus – fälschlicherweise: Der richtige Name wäre (und war) Strada Regia (Königsstraße). „Reggia“ mit zwei g bezeichnet einen Königspalast, und tatsächlich steht ein Königspalast an der Königsstraße, gleich nördlich von Herculaneum in einem Ort namens Portici („Säulengänge“). Vorläufig jedoch machen wir am Ende der Ponte della Maddalena halt, am altehrwürdigen Begegnungsort einer Stadt und eines aktiven Vulkans.

Die Geschichte von Pompeji beginnt wie Neapels Geschichte mit einer dieser Begegnungen zwischen einer menschlichen Ansiedlung und dem Berg, der als unzähmbare Bedrohung über der ganzen Bucht aufragt. Heute zeigt der ascheschwarze, von vulkanischem Glas glitzernde Kegel des Vesuvs noch die Narben des letzten Ausbruchs von 1944, und Geologen sind überzeugt, dass der nächste längst überfällig ist.2 Anders als sein größerer Bruder auf Sizilien, der Ätna, genießt der Vesuv nicht das Ansehen eines „vulcano buono“, eines „guten Vulkans“, der Dampf und Lava ständig und daher eher schonend ausspuckt. Der Vesuv ist aufgestaut; wenn er endlich explodiert, ist sein Furor unerbittlich. Zu Zeiten seiner langen Geschichte allerdings hat er seinen Zorn so lange beherrscht, dass auf den nackten Hängen wieder Pflanzen wuchsen und die Menschen, die um ihn her leben, sein böses Naturell vergaßen.

Eine solche Phase der Vergessenheit gab es offenbar in den ersten Jahren der römischen Kaiserzeit. Der etwa 20 Jahre vor Christi Geburt tätige Architekt Vitruvius, der möglicherweise aus der Gegend stammte, überlieferte, dass „in den alten Zeiten unter dem Vesuv Feuer aufflammten und immer mehr wurden und in der Folge der Berg Flammen auf alle um ihn liegenden Felder spie“. Ein solches Chaos konnte sich im geordneten Wohlstand der Villen auf den malerischen Meeresklippen von Baiae, Herculaneum, Oplontis und Pompeji indes kaum jemand vorstellen.3 Die klare Linie des wundervoll symmetrischen Bergkegels milderte der üppige Wuchs von Weinreben, Bäumen und blühenden Pflanzen, in denen es von zwitschernden Vögeln ebenso wimmelte wie in der darunterliegenden Bucht von Fischen. Schwärme von Schmetterlingen geleiteten, so glaubte man, die Seelen der Toten auf schwerelosen Flügeln über die Hänge des Vesuvs. Alle Sorgen der Welt schienen in jenen frühen Tagen der römischen Kaiserzeit so gut wie zur Gänze menschengemacht und nicht durch Fehler der Natur verursacht – Sorgen wie der Bürgerkrieg, der fast ein Jahrhundert lang in Süditalien getobt hatte, oder der Sklavenaufstand, angeführt von dem Gladiator Spartacus, der für einige Zeit sein Lager im bewaldeten Krater des Vulkans aufgeschlagen hatte. 4 Nun jedoch, so hielt Vitruvius fest, versprachen die starke Hand und gottgleiche Klugheit des Augustus, selbst menschlichen Aufruhr in den Bann zu zwingen.5

80 Jahre später, unter Kaiser Nero, schlitterte das Reich in die Dekadenz, und die Natur begann, missvergnügt zu grollen. Ein Erdbeben erschütterte im Jahr 63 die Bucht von Neapel und traf die Hafenstadt Pompeji mit besonderer Wucht. Ein kurz danach entstandenes Marmorrelief zeigt die Schäden am Forum der Stadt. Weshalb diese Darstellung das „lararium“ (den Familienschrein) des reichen pompejischen Bankiers Lucius Caecilius Iucundus ziert, werden wir wohl nie erfahren – vielleicht kam Iucundus bei der Katastrophe ums Leben, und seine Nachkommen ehrten ihn in seinem eigenen Haus. Jedenfalls zeigt der Fries, dass die Monumente auf dem Forum von Pompeji, als sich die Erde wieder beruhigt hatte, in aberwitzigen Winkeln gekippt standen. Zu sehen sind der Tempel des kapitolinischen Jupiters und der Triumphbogen des Augustus sowie diverse Statuen mit gefährlicher Schlagseite. Auf der rechten Seite sind Vorbereitungen für ein aufwendiges Opfer zu erkennen, das Neptun, den Welterschütterer, besänftigen soll – oder ihm danken, dass er nicht noch mehr Unheil angerichtet hat.

Ominöserweise umfasst die Liste der irreparabel beschädigten Gebäude den Tempel der Kaiserfamilie, der eben auch der heillose Nero angehörte. Die Stadtväter von Pompeji ließen die Requisiten des bedeutenden Kultes vom zerstörten Forum in den antiken Tempel des Zeus Meilichios bringen, der aus Pompejis Jahren als griechische Kolonie stammte und der „honigsüßen“ Unterweltversion von Jupiter, dem König der Götter, geweiht war. Zeus Meilichios nahm die Gestalt einer Schlange an. Die Pompejaner hofften vermutlich, er werde in die Risse der tobenden Erde schlüpfen und sie mit seiner Macht beruhigen.

Eine Wandmalerei in einem anderen „lararium“ im Haus der Hundertjahrfeier (Abb. 2.1) zeigt im Hintergrund den aufragenden Kegel des Vesuvs unter einer bebänderten Girlande und mit üppig bewachsenen Hängen. Vor dem Berg vergießt Bacchus, in ein Kostüm aus riesigen Trauben gekleidet, Wein als Trankopfer, während sein zahmer Leopard (den er mit sich führte, seit er und sein Kult Indien erreicht hatten) spielerisch versucht, etwas von dem Trunk zu erhaschen. Die Szene scheint einen Vers des römischen Dichters Martial darzustellen (obwohl er diesen wohl erst einige Jahre später schrieb): „Dies ist der Bergrücken, den Bacchus mehr als die Hügel von Nysa (seiner Heimat, Anm. d. Ü.) geliebt hat.“6 Ein Spatz – üblicherweise ein Liebessymbol – fliegt nach rechts davon, und unter dem Gott und dem Berg sehen wir eine prächtige Schlange, die sich anmutig vor einem Altar aufbäumt. Dies ist das traditionelle Glückssymbol aller römischen Lararien, aber die Ähnlichkeit dieser speziellen Schlange mit Zeus Meilichios ist unverkennbar.


2.1. Bacchus vor dem Vesuv, Fresko aus dem Haus der Hundertjahrfeier in Pompeji, Vierter Stil, 1. Jh. n. Chr. Museo Archeologico Nazionale, Neapel/The Bridgeman Art Library.

Wie die weiteren Ereignisse zeigen sollten, hatte der „honigsüße“ Zeus offenbar seine eigenen Vorstellungen, wie Pompejis Probleme zu lösen waren. Binnen fünf Jahren (68 n. Chr.) wurde Nero von rebellierenden Einheiten der römischen Armee aus Rom verjagt und zum Selbstmord gezwungen. Sein letztendlicher Nachfolger, der beliebte General Vespasian (der vierte Imperator des heute so genannten Vierkaiserjahres), regierte mit einem willkommenen Maß an gesundem Menschenverstand, ließ das Colosseum in Rom und öffentliche Toiletten in den Städten erbauen. So schien in den frühen 70ern wieder einmal die Vernunft die Auswüchse menschlicher Torheit aufzuwiegen. Als Vespasian 79 starb, fiel die Nachfolge an seinen ältesten Sohn Titus, der neun Jahre zuvor Jerusalem für Rom erobert und die Schätze aus Salomos Tempel in den an das Forum in Rom grenzenden Friedenstempel seines Vaters hatte schaffen lassen.

Jedoch geschah es während der vielversprechenden Herrschaft des Titus, wahrscheinlich am 24. August 79, einigen Gelehrten zufolge auch erst am 24. November, dass der Vesuv explodierte und Pompeji sowie das benachbarte Herculaneum in einer Reihe schrecklicher, feuriger Ausbrüche unter einem Hagelschauer vulkanischer Lapilli (Steinchen) und pyroklastischen Strömen begrub. Unter Letzteren versteht man schnell fließende Fluten aus festen Partikeln – Gesteinsbrocken und Asche – in weißglühendem Gas. Die ganze tödliche Masse breitet sich aus wie eine Flüssigkeit, nur wesentlich schneller; sie erreicht Geschwindigkeiten von mehreren hundert Kilometern pro Stunde und tötet jede Form von Leben, die ihr in den Weg kommt. Wenn sie sich beruhigt und abkühlt, erhärtet sie zu einer nahezu undurchdringlichen Masse.7

Als sich der Himmel schwarz und die Sonne rot verfärbte, übernahm der diensthabende Admiral der örtlichen römischen Flotte, der Amateurnaturforscher Gaius Plinius Secundus (Plinius d. Ä.) mit hervorragender Effizienz das Kommando. Nachdem er die Evakuierung der Anwohner der Bucht von Neapel in die Wege geleitet hatte, stach er mit seinem Flaggschiff in See und befahl seinen Ruderern direkten Kurs auf die Küste unterhalb des speienden Berges. Bei all seiner Tatkraft war Plinius indes ein beleibter Asthmatiker; kurz nach der Landung seines Schiffes in Stabiae wurden Hitze, Mühsal und die Dämpfe der pyroklastischen Ströme seinen überforderten Lungen und seinem Herzen zu viel. Wie wir aus zwei Briefen wissen, die sein gleichnamiger Neffe Gaius Plinius Secundus (Plinius d.J.) ein Vierteljahrhundert später schrieb, starb er am selben Abend am Strand des heutigen Castellammare di Stabia.

Der jüngere Plinius hatte den Ausbruch ebenfalls gesehen, aber beschlossen, lieber zu Hause zu bleiben und zu studieren, als mit seinem Onkel aufzubrechen und die Sache näher in Augenschein zu nehmen. Möglicherweise rettete dieser instinktive Sinn für Selbstschutz dem Neffen 15 Jahre später erneut das Leben, als er den paranoiden Fängen des tyrannischen Kaisers Domitian entkam und so der Nachwelt die Geschichte des Untergangs von Pompeji überliefern konnte.8Als pflichtbewusster Angehöriger der römischen Senatorenklasse hatte Plinius der Jüngere den Hang seines berühmten Onkels, genau zu beobachten, übernommen und verfügte zudem über eine literarische Sensibilität, die dem älteren Plinius gänzlich fehlte (so behandelt dessen Naturgeschichte etwa Marmorskulpturen als Teil des Kapitels über Gesteine und Bronzearbeiten im Kapitel zu Metallen). Der jüngere Plinius hatte indes triftige Gründe, auf sein gutes Latein zu achten, weil er seine zwei Briefe über den Ausbruch des Vesuvs als Antwort auf die Anfrage eines berühmten Schriftstellers verfasste, des Historikers Tacitus, der seinen Freund um nähere Auskünfte über die Katastrophe gebeten hatte. Plinius’ Bericht, obwohl aus dem Gedächtnis geschrieben, ist eine menschlich ergreifende Geschichte und zugleich eine höchst informative Beschreibung der geologischen Vorgänge:

Die Wolke erhob sich – von welchem Berg, konnte man von Weitem nicht eindeutig erkennen (dass es der Vesuv war, erfuhr man erst später) – in einer Gestalt, die mit keinem Baum besser zu vergleichen war als mit einer Pinie. Denn sie schien auf einem sehr langen Stamm in die Höhe zu steigen und sich in einige Zweige zu verbreitern; wahrscheinlich, weil sie anfangs durch den frischen Druck in die Höhe stieg und sich dann, als jener nachließ, senkte oder sich durch ihre eigene Schwerkraft in die Breite ergoss. Sie war bisweilen weiß, bisweilen schmutzig und gefleckt, je nachdem ob sie Erde oder Steine mit sich führte. (…) Schon fiel Asche (…), heißer und dichter, je näher man kam, nun auch Bimssteine und schwarze, ausgebrannte, vom Feuer geborstene Steine. Jetzt machte eine plötzliche Untiefe und der Auswurf des Berges die Küste unzugänglich.9

Archäologen haben Überreste von mehr als tausend Opfern des Ausbruchs geborgen, darunter einen armen, verzweifelt an seiner Leine zerrenden pompejischen Hund und eine Gruppe von 300 am Meeresufer bei Herculaneum Gestrandeten, die auf ihre Evakuierung auf dem Seeweg gewartet hatten. Insgesamt müssen bei der Katastrophe mehrere Tausend Menschen ums Leben gekommen sein (manche Schätzungen reichen bis 16.000), Tausend weitere wurden verletzt, beziehungsweise für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Gegen Ende des Kataklysmus hatte sich das Profil des Vulkans grundlegend verändert, vom einzelnen anmutigen Kegelgipfel, dem Ätna und dem japanischen Fuji ähnlich, zum schartig zerklüfteten Krater. Die Wucht der Eruption hatte die Spitze des Berges einfach weggesprengt.10

Und dann schlief der Vesuv wieder ein. Wenn er in den folgenden Jahrhunderten erwachte, nahm er seine furchterregende Gewohnheit erneut auf, menschliche Turbulenzen gewissermaßen zu unterstreichen (bis hin zum letzten Ausbruch 1944 mitten im Zweiten Weltkrieg). Die Ausbrüche von 472 und 512 fügten sich in das Chaos des zerfallenden römischen Reiches und der Invasionen von Barbaren, Westgoten, Ostgoten und Lombarden. Zudem änderte der Vulkan 512 sein Verhalten. Bei früheren Ausbrüchen waren Vulkangestein und pyroklastische Ströme ausgestoßen worden, jetzt spie der Berg auch richtige Flüssigkeit: geschmolzene Lava. Als der Berg 1138 und 1139 noch einmal acht Tage lang Lapilli auswarf, war Neapel gerade in die Hände normannischer Kriegsherren gefallen, die die Stadt bald darauf in eine der schönsten und einwohnerreichsten Siedlungen auf Erden verwandelten – zu jener Zeit sahen die Bewohner der Region jedoch nur die Schrecken der Invasion, verstärkt durch einen explodierenden Vulkan. Falls es im Mittelalter zu weiteren Ausbrüchen kam, sind darüber keine Aufzeichnungen erhalten. Eine kleine Explosion gab es 1500; danach, in Zeiten durchgehender und überlieferter Chroniken der Region, fiel der Vesuv offenbar in einen jahrzehntelangen Schlaf. Ende des 16. Jahrhunderts war Plinius’ Bild einer Rauchsäule, die wie eine riesige Schirmkiefer in den Himmel wuchs, so verblasst wie Vitruvius’ Erzählungen über Flüsse aus Feuer. 11 Der gezackte Rand des alten Kraters war nach Jahrhunderten der Erosion sanfter geschwungen, und der Berg hatte nun zwei Gipfel: Somma, die Überreste des ursprünglichen Hangs, und den neuen Gran Cono (großer Kegel) – der beim Ausbruch im Jahr 79 entstanden war.

Wie der Berg während dieser Ruhephase aussah, können wir aus einem 1591 erschienenen, aber wohl schon Jahre zuvor geschriebenen Gedicht eines Bewohners der Gegend erahnen, des wandernden Philosophen Giordano Bruno. Er beschrieb den Vesuv seiner Zeit als prachtvoll bewachsenen Berg; der Wein aus den Trauben von seinen Hängen sei so göttlich auserlesen gewesen, dass man ihn Lacryma Christi („Christi Tränen“) nannte (und immer noch nennt). Mitte des 16. Jahrhunderts, das zeigt Brunos Beschreibung des Vesuvs aus der Ferne, trug das zerklüftete Profil des Vulkans noch die Spuren der Explosion, die Pompeji begraben hatte. Sein Gedicht ist ein imaginäres Gespräch mit dem kleineren Berg über seiner Geburtsstadt Nola, dem Monte Cicala, der ihm den Vesuv ans Herz legen möchte. Der junge Bruno (er war etwa 13 Jahre alt) zeigt sich unbeeindruckt:

Mit glasklarem Blick die unförmige Form betrachtend, die Gestalt des düsteren Haufens prüfend, sagte ich: Diesen rückwärts gekrümmten Bergrücken? Diesen zickzackförmig angenagten Buckel, der den angrenzenden Himmel zerfurcht?12

Als Bruno den Vesuv jedoch aus der Nähe sah (erstmals 1563 als Jugendlicher), verwandelte sich der „angenagte Buckel“ in jenen „liebenden Bruder“ von unvorstellbarer Schönheit, als den ihn der Monte Cicala empfohlen hatte:

Sobald daher die Gelegenheit sich bietet, dort zu sein und den Vesuv aus der Nähe zu schauen, der berühmt ist für seinen Wein und geziert mit viel stolzem Bewuchs, wo die Trauben und Früchte aller Art in Fülle an den Zweigen hängen, wie sie Mutter Natur in vielerlei Gestalt und Farbe hervorbringt, und den gütigen Himmel der Heimat atmen, fehlt jenem nichts von diesen Dingen, er hat offenbar sogar hundertmal mehr(.)13

Der Vulkan schlummerte während des 16. Jahrhunderts, aber die Erde um die Bucht von Neapel kam nicht zur Ruhe. Die Küstenstadt Pozzuoli sank Jahr für Jahr tiefer in die Bucht, und dann begann sie sich plötzlich wieder zu erheben (man nennt dieses Phänomen „Bradisismus“ – griechisch für „langsame Bewegung“). Der brodelnde Schlamm des Kraters La Solfatara rülpste wie seit Urzeiten seinen fauligen Geruch aus. Und vor allem wuchs zwischen dem 29. September und 3. Oktober 1538 im Norden von Neapel ein ganzer Berg (Monte Nuovo, der „neue Berg“) aus dem Boden und zerstörte dabei ein Dorf.14 Dennoch scherzten Neapolitaner im späten 16. Jahrhundert, der Vesuv sei eher wegen der Schlammlawinen in der regnerischen Jahreszeit gefürchtet als wegen seiner unterirdischen Feuer.

Diese allerdings brannten weiterhin unter dem Pfropf aus verfestigtem Magma, der sich im Krater gebildet hatte, wodurch der Druck unter der Oberfläche Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert anstieg. Als er schließlich erneut barst und der Vesuv feurige Flüsse von Lava und pyroklastische Ströme ausstieß, ergoss sich der Vulkan in eine erkennbar moderne Welt. Mit dieser dramatischen Explosion, der schlimmsten in tausend Jahren, nahm die Wiederentdeckung von Pompeji ihren Anfang.

Am Morgen des 16. Dezember 1631 begann der Vesuv zu grollen wie seit Jahrzehnten nicht, an seinen Flanken flammten Feuer auf. Auch diesmal schien der Vulkan Turbulenzen im Weltgeschehen zu unterstreichen: 1630 hatte der schwedische König Gustav Adolf mit seiner Artillerie in den Dreißigjährigen Krieg eingegriffen und zog sengend und brennend durch Deutschland. Im weiteren Verlauf des Morgens spie der aktive Kegel des Vulkans dichte Rauchwolken aus – den zerstäubten Pfropf aus verfestigtem Magma –, und drei Flüsse aus heißem Gas ergossen sich den Abhang des Vesuvs hinab in die Bucht.

Der alte Krater des Somma, der Pompeji und Herculaneum zerstört hatte, blieb ruhig, dafür tat sich südöstlich ein neuer Krater auf. Statt flammender Lava flossen pyroklastische Ströme (in Gas gelöster Feinstaub) die zum Meer gelegenen Anhöhen hinunter. Wie beim Ausbruch 79 wurde das Meer ebenso durchgeschüttelt wie der Berg.

Dieser Ausbruch kostete um die 3000 Menschen das Leben, die meisten in der Bucht von Neapel. Asche fiel jedoch auch auf Neapel selbst, das im 17. Jahrhundert zu einer der meistbevölkerten Städte der Welt herangewachsen war: Eine Viertelmillion Menschen drängte sich in dem dichten Gewirr hoher Gebäude in engen Straßen, das griechische Kolonisten mehr als 2000 Jahre zuvor angelegt hatten – für ein Zehntel der jetzigen Einwohnerzahl. Eine mögliche Panik war in den Mauern von Neapel fast so gefährlich wie der Ausbruch selbst. Die von einem habsburgisch-spanischen Vizekönig mehr schlecht als recht regierte Stadt stand ebenso vor einer Eruption wie der Vesuv. Der Herrscher pflegte ein feindseliges Verhältnis zur örtlichen Oberschicht, einer kleinen Gruppe feudaler Barone, die ihr Vermögen über Jahrhunderte den in verzweifelter Armut dahinvegetierenden Bauern und Stadtbewohnern abgepresst hatten.15 Rivalitäten zwischen Nationalitäten, Klassen sowie zwischen Kirche und Staat standen in Neapel an der Tagesordnung.

Als der Vesuv den alltäglichen Lärm der Stadt mit seinem Rumpeln übertönte, waren der neue spanische Vizekönig Manuel de Guzmán, Graf von Monterey, und Erzbischof Francesco Boncompagni für die öffentliche Sicherheit verantwortlich. Boncompagni reagierte spontan, indem er sich den ganzen Abend des 16. Dezember lang versteckte. Guzman wiederum eilte zur Kathedrale und legte das Schicksal der Stadt in die Hände des unbedeutenden örtlichen Heiligen Januarius, dessen Kult die spanischen Herrscher seit ihrer Machtübernahme in Neapel unterstützt hatten.

Die wahre Macht der Heiligen des 17. Jahrhunderts beruhte auf der ihnen zugeschriebenen Fähigkeit, auf Anrufung im Gebet Fürsprache bei Christus, Gott und der Jungfrau Maria einzulegen. Seit ihren Anfängen hatte die Kirche aber auch den körperlichen Überresten von Heiligen wundersame Kräfte zugeschrieben, nicht nur den ganzen Körpern, sondern auch winzigen Fragmenten und sogar Absonderungen wie dem Fett, das von dem heiligen Laurentius herabträufelte, als er von Folterern über glühenden Kohlen geröstet wurde (es wird an drei Orten in Rom aufbewahrt), und Tropfen von der Milch der Jungfrau Maria (ein wenig davon wird zusammen mit einer Locke von ihrem Haar in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore aufbewahrt). Italien, eine der Wiegen des Christentums, glich einer wahren Schatzkammer solcher Reliquien; Neapel machte da keine Ausnahme. Aber niemand sammelte eifriger Reliquien als die spanischen Monarchen, die Neapel seit 1442 regierten.16 Ihre Hingabe für physische Überreste beschränkte sich nicht auf Heilige, sondern umfasste auch die königliche Familie. Erstaunlich viele spanische Monarchen unternahmen ausgedehnte Reisen in Begleitung der Leiche eines Verwandten: 1504 etwa brachte Ferdinand von Aragón den Sarg mit seiner verstorbenen Gattin Isabella von Kastilien von Granada nach Medina del Campo. Eine Generation später brachte ihre Tochter Johanna die Überreste ihres Gatten, des Erzherzogs Philipps des Schönen, von Medina del Campo zurück nach Granada, wobei sie angeblich mindestens einmal den Sarg öffnete, um ihn zu betrachten (einer der Gründe für ihren Beinamen „la Loca“, „die Wahnsinnige“). König Philipp II. geleitete die Leiche seines Vaters, Karl V., von Yuste in Zentralspanien ins 150 Kilometer entfernte Escorial bei Madrid.17 Manche spanischen Monarchen wurden überhaupt nie beerdigt: Die aragonesischen Herrscher, die Neapel von 1442 bis 1503 regierten, ruhen bis heute in Särgen mit Bleieinlage auf einem hohen Balkon in der Sakristei der Kirche San Domenico Maggiore.18

Einer dieser so kurios konservierten aragonesischen Könige, Ferrante I., verschaffte im späten 15. Jahrhundert die Überreste von Sankt Januarius aus der entlegenen Benediktinerabtei Montevergine in eine eigene Kapelle in der Kathedrale von Neapel. Am 17. Dezember 1631 brachten Vizekönig Guzmán von Monterey und Erzbischof Boncompagni diese Reliquien, beschirmt von einem Damastbaldachin, in einer prachtvollen Prozession die Via del Duomo entlang ostwärts zur Porta Nolana am Fuß des Berges.

Der Beschluss, das Schicksal der Stadt Januarius (oder „Gennaro“, wie er im Landesdialekt hieß) anzuvertrauen, ging nicht nur darauf zurück, dass er ein Einheimischer war. Seine Reliquien hatten eine bemerkenswerte Eigenschaft: Wie das Gestein des Vesuvs konnten sie sich verflüssigen und wieder fest werden. Zwar kam Januarius als Heiligem keine sonderliche Bedeutung zu, ihn umrankte jedoch eine farbenfrohere Legende als die meisten anderen Heiligen, mit vielerlei Verknüpfungen an Stätten in Neapel und seiner Bucht. Zudem blickten 1631 seine Reliquien selbst schon auf eine lange Geschichte zurück. Die Kirche feierte ihn am 19. September, und an diesem Tag im Jahre 305 hatten die Schergen des christenfeindlichen Kaisers Diokletian dem Römischen Martyrologium zufolge, das die Leben der Heiligen verzeichnete, den als Bischof in der Gegend tätigen Januarius gefoltert, indem sie ihn in einen Ofen warfen. Der Bischof indes überstand die Tortur unversehrt. Wie so viele frühe Christen landete er dann als Intermezzo zwischen Tierkämpfen und Mann-gegen-Mann-Duellen in einer Gladiatorenschau, und zwar im Amphitheater von Pozzuoli, einer riesigen Arena nördlich von Neapel, deren Ruinen, fast so beeindruckend wie das Colosseum in Rom, heute noch stehen. Hier, berichtet das Martyrologium, wurde Januarius hungrigen Löwen vorgeworfen, aber die Löwen weigerten sich, ihn anzugreifen.19

Sein Leben endete schließlich wie das vieler Märtyrer mit der Enthauptung – aber erst nachdem ein tapferes Mitglied der Gemeinde des Bischofs etwas von dem Blut, das dem Nacken des Heiligen entströmte, aufgefangen hatte. Die christliche Gemeinde verschaffte sich auch Gennaros sterbliche Überreste und bewachte sie im Verborgenen, bis das Christentum im Jahr 313 offiziell zugelassen wurde. Als im Jahr 431 Wellen von barbarischen Invasoren durch Italien brandeten (und der Vesuv sich anschickte, erstmals Lava statt pyroklastischer Ströme zu speien), wurden die Leiche des heiligen Januarius und zwei Phiolen von seinem Blut zur Sicherheit in ein Labyrinth von Katakomben tief unter den vulkanischen Klippen über Neapel gebracht. Während dieser ersten Verlegung, so berichten einige Aufzeichnungen, verflüssigte sich das Blut in den Phiolen. Vielleicht aber tat es das erstmals erst fast tausend Jahre später, 1389, als die Reliquien von den Katakomben in die Stadt Benevento und dann in die Benediktinerabtei Montevergine gebracht wurden. Im frühen 14. Jahrhundert gab es von den körperlichen Überresten des heiligen Januarius nur noch drei: zwei Kristallphiolen mit seinem Blut und eine kunstvolle Silberbüste, die ein Stück vom Schädel des Märtyrers enthielt. Die Reliquiare, in denen diese Schätze bis heute aufbewahrt werden, entstanden im frühen 14. Jahrhundert, als die Reliquien bereits tausend Jahre alt waren. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als die reliquienvernarrten Könige von Aragón das Königreich Neapel übernommen hatten, ließen sie Sankt Januarius an seinen heutigen Ehrenplatz in der Kathedrale von Neapel bringen.20

Ein Gemälde des neapolitanischen Künstlers Micco Spadaro (der vermutlich selbst Zeuge des Vorgangs war) zeigt, was sich am 16. Dezember 1631 abgespielt haben könnte, als Vizekönig Guzmán von Monterey und Erzbischof Boncompagni den Schädel von San Gennaro und die Phiolen mit seinem Blut der Öffentlichkeit präsentierten: Rauch füllt die Atmosphäre, Flammen umzüngeln das Profil des Vulkankraters, während die zwei Granden, einer weltlich, einer kirchlich, mit den gesegneten Reliquien unter einem weißen Baldachin aus Neapel hinaus paradieren und unablässig beten, diese Prozession möge in einem heiligen Prozess der Analogie den Fluss der feurigen Gase von den Hängen des Vesuvs stoppen. Weil die schlimmsten Schäden auf dem Land südlich von Neapel eintraten, an praktisch denselben Orten, die 79 zerstört worden waren, bemühte sich Micco Spadaro zu zeigen, dass die Prozession unmittelbar vor der Stadtmauer am Ponte della Maddalena haltmachte.

Im Angesicht des tobenden Vulkans brachten die Gebete des Erzbischofs und ihr Widerhall in der gewaltigen, panischen Prozession der Neapolitaner San Gennaros Blut dazu, sich genau in dem Augenblick in den Phiolen zu verflüssigen, als die pyroklastischen Ströme des Vesuvs an den Hängen des Berges erstarrten. Dieses Wunder machte San Gennaro, den heiligen Januarius, mit einem Schlag zum meistgeliebten frommen Beschützer der Stadt.

Der Kult um San Gennaro verbreitete sich ebenso schlagartig wie die Berichte über sein Wirken. Die Kathedrale ließ zu seinen Ehren einen riesigen Marmorobelisken aufstellen, gestaltet und gemeißelt von dem berühmten Bildhauer Cosimo Fanzago. 21 Die Stadt Pozzuoli, Schauplatz des Martyriums des Heiligen, beauftragte die berühmten Maler Artemisia Gentileschi und Viviano Codazzi, Gennaros Lebensgeschichte bildlich dazustellen, samt einer wundervollen Szene im Amphitheater, in der die freundlichen Löwen möglicherweise absichtlich wie gutmütige neapolitanische Doggen aussehen.

Seit jenem Dezembertag 1631 hat San Gennaros Ansehen nicht gelitten. Seine Kapelle in der Kathedrale ist heute ein besonders bevorzugter Schrein, eine unabhängige Immobilie, die nicht der Kurie in Rom untersteht, sondern dem Bürgermeister von Neapel, und selbst gemessen an der Üppigkeit des neapolitanischen Barocks unvergleichlich reich dekoriert. Altar, Reliquiare, Kerzenleuchter und Lampen funkeln vor Silber aus den spanischen Kolonien in der neuen Welt, und die ganze Kapelle erstrahlt in den düsteren, erhabenen Tiefen der gotischen Kirche im eigenen Lichterglanz.

Die drei Reliquien von Blut und Schädel in ihren Behältern aus dem 14. Jahrhundert werden dreimal jährlich zeremoniell der Öffentlichkeit vorgeführt: je eine Woche lang Ende Mai und Mitte September sowie am 16. Dezember, dem Jahrestag von San Gennaros erstem großen Wunder.

Im Mai und September begutachtet der Bischof von Neapel die Phiolen mit San Gennaros Blut, und meistens verflüssigt es sich. Wenn nicht, gilt das als Vorzeichen einer Katastrophe, und tatsächlich verflüssigte sich San Gennaros Blut im Revolutionsjahr 1799 nur widerwillig, und im 20. Jahrhundert blieb das Wunder zweimal gänzlich aus: Im September 1939, unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, und im September 1980 vor einem verheerenden Erdbeben im November.

Als sie 1631 San Gennaro anriefen, setzten Vizekönig Guzmán und Erzbischof Boncompagni zwei Dinge voraus: Der Ausbruch des Vesuvs sei eine Tat Gottes, und San Gennaro habe im Himmelreich genügend Einfluss auf den Allmächtigen, um ihn zu überzeugen, seine Pläne zu ändern. An einen Zusammenhang zwischen dem Vulkanausbruch und Vorgängen in Neapel zu glauben, hieß aber auch überzeugt zu sein, menschliches Verhalten, insbesondere menschliche Verdorbenheit, könne Naturkatastrophen auslösen. Mit anderen Worten: Naturkatastrophen seien Gottes Warnung, dass die natürliche Neigung der Menschheit außer Kontrolle gerate. Es war keine neue Idee, den Zorn des Vesuvs mit dem Zorn Gottes in Verbindung zu bringen; als der Vulkan 79 ausbrach, meinte der römisch-jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, die Katastrophe müsse eine göttliche Strafe dafür sein, dass Kaiser Titus neun Jahre zuvor Jerusalem erobert hatte.22

Neapel um 1631 war außergewöhnlich reich an menschlicher Verdorbenheit. Da gab es einmal die spanischen Vizekönige – arrogant, gierig und grausam, Erfinder immer neuer und höherer Steuern. Die habgierigen Barone des örtlichen Adels waren nicht besser, ebenso wie ihre hochmütigen, herrischen Diener. Der Klerus trug seine eigenen Spielarten von Korruption und Arroganz zur Schau; die oberen Ränge besetzten Spanier, Barone oder in Rom geweihte Aristokraten (Erzbischof Boncompagni beispielsweise war der Neffe eines ehemaligen Papstes, seine Familie stammte ursprünglich aus Bologna). Das untere Ende der komplexen neapolitanischen Klassenstruktur bildete der barfüßige, schlagfertige Pöbel, die „lazzaroni“, die sich unentwegt abstrampelten, um eine höhere Sprosse auf der glitschigen sozialen Leiter des Königreiches zu erklimmen. Neapolitaner waren überzeugt, dass San Gennaro ein Gespür für Politik hatte – aber jeder Einzelne war sich sicher, den gutherzigen Heiligen auf seiner Seite zu haben, welche Seite auch immer das war. Die Geschehnisse von 1631 lieferten alles in allem einen stichhaltigen Beweis, dass der schreckliche Vulkan christlichem Flehen um Gnade zugänglich war. Das heidnische Pompeji mochte in einem Regen von Asche und Gesteinsbrocken untergegangen sein, aber jetzt fanden Neapel und die ganze Region um den Vesuv Schutz unter den Fittichen von San Gennaro, der den Zorn des Berges mit seinem sich wundersam verflüssigenden Blut zu besänftigen vermochte.

In Pompeji

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