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Kapitel 1
ОглавлениеWas war das? Befindet er sich auf einem schwankenden Schiff? Oder träumt er nur? Schlaftrunken richtet sich Otto von Wesenheim in seinem Bett auf. Ihm ist schwindlig. Doch zu viel Alkohol gestern Abend beim Empfang hier in der Kaiserlichen Botschaft? Da ist es schon wieder, dieses Rucken und dann das Knarzen der Wände.
Plötzlich schießt es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Ein Erdbeben! Konstantinopel ist ja ein besonders gefährdetes Gebiet. Schnell raus aus dem Bett und hinaus ins Freie, so seine spontane Reaktion. Wieder wackelt das Gebäude, bewegen sich die Wände und Otto schwankt wie auf einem großen Dampfer im Sturm, als er in der Dunkelheit, so schnell es eben geht, die Treppe vom zweiten Obergeschoss hinunterrennt. Er kennt den Weg seit nunmehr fast zwei Jahren schon quasi blind. Jeden Abend und jeden Morgen nimmt er ihn. Na ja, zumindest fast jeden.
Im ersten Stock angekommen, hört er ein fürchterlich lautes Krachen. Otto zuckt zusammen. Der schreckliche Lärm kommt aus dem prächtigen Festsaal. Er ist mit Stuckornamenten und einer mit plastischen Hängezapfen verzierten, teilvergoldeten, schweren Kassettendecke ausgestattet. Die Vertäfelungen sind in tiefroten Mahagonifarben gehalten, während die Wände mit rötlichgelbem Stuckmarmor bedeckt sind.
Als Otto die Tür öffnet, sieht er im hellen Mondschein das Malheur. Einer der drei großen bronzenen Kronleuchter, Augenfang des Festsaals, liegt auf dem Boden und um ihn herum Tausende von Kristallsplitter. Sie sind erst vor kurzem kontrolliert und gereinigt worden. Dabei hat niemand die anscheinend defekte Aufhängung bemerkt. Verdammte Schlamperei, denkt Otto von Wesenheim wutentbrannt. Aber da ist doch noch mehr, oder? Otto glaubt unter dem zerborstenen Leuchter etwas liegen zu sehen. Einen Menschen?
Er geht näher an den heruntergefallenen Kronleuchter heran und macht erschrocken einen Schritt zurück. Das kann doch nicht sein, denkt er sich. Aber die Figur, die Kleidung, das blutige, zerschnittene Gesicht. Jetzt macht er einen Schritt näher heran. Es ist der Kanzler Hermann von Darius!
Sehr seltsam, schießt es ihm durch den Kopf. Was hat von Darius hier denn noch zu suchen gehabt?
Und nun diese Bescherung, alles nur wegen dieses verdammten Erdbebens. Doch im Moment ist es wieder ruhig und friedlich. Tatsächlich hielt das Beben nur kurze Zeit an, aber es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor. Otto beugt sich nieder, um zu sehen, ob von Darius doch noch lebt. Aber das wäre ein wahres Wunder, denn der Kronleuchter wiegt schon etliche Kilo. Und in der Tat, als Otto zunächst zögernd, die aufkommende Übelkeit herunterschluckend, seine rechte Hand an der ausgelaufenen Hirnmasse vorbei an den Hals des Kanzlers legt, stellt er fest, was er angesichts des Zustandes des Körpers bereits vermutet hat: Dieser Mann ist tot.
Ihm wird nun wirklich schwindlig. Sein Kreislauf droht zu kollabieren. Einen Augenblick muss er, auf dem Boden sitzend, verweilen, dann kann er sich wenigstens hinknien, ohne dass ihm gleich schwarz vor Augen wird. In diesem Augenblick bleibt sein Blick an etwas Weißem, Blutverschmierten hängen. Aus der Anzugjacke des Kanzlers ragt etwas hervor, das wie ein Brief aussieht. Ohne recht nachzudenken, greift Otto mit der linken Hand danach und zieht das Papier heraus. Tatsächlich! Ein Brief mit arabischen Zeichen auf dem Umschlag. Mittlerweile sind Rufe und Schritte im Hintergrund zu vernehmen. Otto schaut sich verstohlen um und versteckt den Umschlag unter seinem Schlafrock.
In diesem Moment treten auch schon die ersten Mitarbeiter der Botschaft in den Festsaal und erkennen zunächst Otto von Wesenheim. »Herr Legationsrat, alles in Ordnung?«, ruft der erste Sekretär Franz Wohlleben voller Sorge, als er seinen am Boden knienden Vorgesetzten erspäht.
»Mit mir schon, Wohlleben. Aber schauen Sie hier. Unseren Herrn von Darius hat es erwischt.«
Franz Wohlleben erstarrt. Als er das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennt, weicht alle Farbe aus seinem Gesicht, ihm wird schwindlig und er muss sich an der Wand abstützen. Seine Muskeln verkrampfen. Vor Übelkeit muss er sich übergeben.
Otto von Wesenheim zögert einen Augenblick, gibt dann aber, wie von ihm erwartet, klare Anweisungen: »Holen Sie augenblicklich den Botschaftsarzt! Gehen Sie mit allen verfügbaren Leuten durch das gesamte Gebäude! Stellen Sie die entstandenen Schäden fest und ob es noch weitere Opfer zu beklagen gibt! Und, Wohlleben, wischen Sie Ihr Malheur weg!«
Schon nach kurzer Zeit erhält er die Meldung, dass glücklicherweise keine weitere Person ernsthaft verletzt worden ist oder gar ihr Leben verloren hat. Auch die Schäden am Gebäude der Botschaft scheinen, soweit man das in der Kürze der Zeit feststellen kann, eher gering zu sein.
Trotz der Gefahr von Nachbeben begibt sich Otto von Wesenheim, nachdem er sich noch einmal umgeblickt hat, wieder zurück in sein Gemach im zweiten Obergeschoss, um sich endlich die blutverschmierten Hände zu waschen.
In seinen privaten Gemächern schließt er erst einmal die Augen. Ihm ist wieder schwindlig, kein Wunder nach dem eben Erlebten. Er atmet tief durch, lehnt seinen Kopf zurück und greift nach seinem Wasserglas. Doch das liegt in kleine Glassplitter zerbrochen auf dem Boden. Das sind unwirkliche Minuten gewesen, wie in einem Traum, einem Albtraum. Doch dann hat er sich wieder gefasst.
Als er ganz in Gedanken seinen Schlafrock ablegt, um sich anzukleiden, fällt der Umschlag auf den Boden. Ach ja, denkt Otto, den habe ich schon ganz vergessen und steckt ihn beiläufig in die Tasche seines Gehrocks. Der muss warten, denn Otto ist nach diesem Schock fest entschlossen, etwas zu tun, was er sonst nach einem festen Rhythmus nur einmal in der Woche heimlich im Schutze der Dunkelheit der Nacht macht: seine Ayşe besuchen.
Seit seiner Scheidung vor nun fast genau zehn Jahren hat Otto so einige interessante Frauenbekanntschaften gemacht, aber keine der Damen ist mit der faszinierenden Ayşe vergleichbar. Für Otto bedeutet Ayşe orientalische Verführung und Mystik pur.
Noch innerlich aufgewühlt von den schrecklichen Ereignissen sehnt er sich förmlich nach der wohligen Geborgenheit in ihren Armen und er beschließt, sich sofort zu ihr auf den Weg zu machen. Ihr wird doch wohl während des Bebens nichts passiert sein?, schießt es Otto erschrocken durch den Kopf. Das darf einfach nicht sein.
Obwohl er es gar nicht mehr erwarten kann, aufzubrechen, beherrscht er sich doch. Auch wenn er mit seinen knapp vierzig Jahren, einem leichten Bauchansatz, einem runden Gesicht und seiner Halbglatze, umgeben von einem braunen Haarkranz, nicht mehr der Frischeste ist, so hat sich Otto von Wesenheim doch ein gewisses Maß an Eitelkeit bewahrt. Besonders stolz ist er auf seinen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, dessen Pflege er sich jeden Tag sorgfältig widmet. Die Enden des Schnurrbarts müssen immer akkurat hochgezwirbelt sein, so sieht es die momentane Mode für den Herrn vor.
Mit seinen etwas über einen Meter siebzig hat er nicht gerade das Gardemaß für einen stattlichen Herren, aber dafür legt er viel Wert auf seine Kleidung. Nach langen Überlegungen wählt er schließlich einen blaugrauen Sommeranzug mit marineblauer Krawatte aus. Soll er seine Melone aufsetzen? Die steht ihm ausgesprochen gut. Aber Otto entscheidet sich dann doch für die lockere Kreissäge, wie die leichten, in Mode gekommenen Strohhüte genannt werden. Es wird bald bestimmt ein sonniger Tag anbrechen und er greift, nun schon in besserer Laune, nach dem hellen Strohhut mit dunklem Band.
So macht er sich noch vor Sonnenaufgang auf den verschlungenen Weg zur Wohnung seiner Ayşe, während die zahlreichen Muezzin-Rufe zum Morgengebet in den Gassen der durch das Beben erschreckten Stadt erklingen, als wäre nichts geschehen. Auch Stunden nach dem Erdbeben sind noch überall, wo er entlang kommt, die Spuren des Unglücks zu sehen. Feiner, wirbelnder Staub liegt noch immer in der Luft.
Einige ältere, renovierungsbedürftige Häuser sind sogar ganz eingestürzt. Menschen harren auf den Straßen aus, haben Angst vor einem Nachbeben. Wo sollen sie die nächste Nacht verbringen? Hoffentlich hat es nicht allzu viele Opfer oder gar Tote gegeben, denkt Otto. Da muss er auch schon wieder über einen hüfthohen Schutthaufen und herumliegende Steine steigen.
Schließlich biegt er in die Haupteinkaufsstraße Konstantinopels, der Grande Rue de Pera, Richtung Galata ein. Bis auf einige Nachtschwärmer, die ihm etwas schwankend entgegenkommen, wirkt die Straße wie ausgestorben. Ob die überhaupt etwas vom Erdbeben mitbekommen haben?, fragt sich Otto. Allzu viele Schäden sind hier in diesem Teil der Stadt nicht zu bemerken. Rechts und links der mit einigen Einschränkungen durchaus als prächtig zu bezeichnenden Grande Rue – so sind die wackeligen Platten des Gehsteiges besonders bei Regen ein richtiggehendes Ärgernis – biegen zahlreiche kleine und verwinkelte Gassen ab.
Eigentlich können diese Seitenstraßen, die von der Grande Rue abgehen, froh sein, als Gassen bezeichnet zu werden. Wenn überhaupt sind sie mit großen, unebenen und spitzen Steinen gepflastert, die aussehen, als ob sie schon im Mittelalter verlegt worden sind. Es gibt weder Rinnsteine noch Abflussrinnen. Hausfrauen kippen, ohne nach rechts oder links zu schauen, das Waschwasser direkt auf die Straße. Der grobe Sand, der die Gassen bedeckt, verwandelt sich besonders nach Regengüssen in einen tiefen, schwarzen und rutschigen Matsch.
Nachdem er sich mehrmals vorsichtig umgeschaut hat, ob er vielleicht beschattet wird, biegt er rechts in eine schmale Gasse ab, folgt ihr, überquert eine etwas breitere Straße und läuft direkt in eine schummrige Gasse in dem Stadtteil Tarlabaşe hinein. Hier muss er immer wieder entweder einigen Schutthaufen – Folgen des Erdbebens – oder dem üblichen Unrat auf den Straßen ausweichen. Auch der ansonsten tagsüber so quicklebendige Basar in diesem Stadtteil liegt fast verlassen dar. Meist herrscht dort schon zu früher Morgenstunde ein Gewimmel, das an ein reinstes Völkergemisch erinnert. Türken, Griechen, Kurden, Armenier, Juden, Perser, Albaner, die emsig unterwegs sind; Zigeuner, die aus der Hand lesen, und jede Menge Händler, die von goldenen Armreifen bis schmackhaften Granatäpfeln jede nur erdenkliche Ware feilbieten. Etwas weiter sitzt ein alter Mann einsam vor seinem Krämerladen. Die rechte Hand liegt in seinem Schoß, während er in der linken mit einer Gebetskette beschäftigt ist, deren Steine er langsam und rhythmisch zu zählen scheint.
Normalerweise begibt sich kein Europäer hierhin. Otto würde es auch nicht tun, wenn er nicht wüsste, dass sich nach ungefähr zweihundert Schritten im zweiten Stock eines unscheinbaren, etwas heruntergekommenen Hauses, eine kleine Appartementwohnung befindet. Dort wohnt Ayşe, seine orientalische Verlockung. Zum Glück, stellt er erleichtert fest, ist hier in der Gegend nicht allzu viel Schaden durch das Erdbeben angerichtet worden. Wie immer streichen ein paar dünne Katzen herum und sitzen mit krummem Buckel auf einem kleinen Steinhaufen. Andere sind anscheinend gerade gefüttert worden und stecken ihre Köpfe zusammen, als ob sie sich an einem Fisch gütlich tun.
Otto erinnert sich immer wieder voll Wonne an sein erstes Zusammentreffen mit Ayşe. Es war letztes Jahr an einem der ersten milden Frühlingstage. Diesen Tag hat er noch sehr gut im Gedächtnis. Er saß in der beliebten Brasserie Janni fast direkt gegenüber der Buchhandlung Otto Keil an der Grande Rue und trank ein kleines kühles, frisches Bier im ersten milden Sonnenschein. Eigentlich bevorzugt er die exklusivere Bierschenke Kuch, wo man richtigen westfälischen Schinken mit Meze, den einheimischen kalten Delikatessen, die man als Vorspeisen isst, genießen kann. Einfach köstlich für den deutschen Gaumen. Der bloße Gedanke an den saftigen Schinken lässt ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber hier bei Janni genoss er es, auf einem Klappstuhl an einem kleinen Tisch unter den Bäumen mit ihren ersten zaghaft grünen Blättern zu sitzen und sein Bier zu trinken.
Anschließend begab er sich in das Kleidergeschäft Mayer, wo er einen neuen Gehrock anprobierte. Da die gesellschaftliche Oberschicht der in Konstantinopel lebenden Ausländer hier kauft, war es für Otto von Wesenheim selbstverständlich, auch dieses Geschäft aufzusuchen. Allerdings stellte sich der Sitz des von ihm neu bestellten Gehrocks nicht als zufriedenstellend heraus. Daran musste der Schneider noch ein bisschen arbeiten. Etwas missgelaunt betrat Otto das Kaufhaus Paluka, eine der ersten Adressen für Import-Luxuswaren, bei den Türken auch Pazar Alman genannt. Selbst der Sultan ließ hier einkaufen. Schon Sultan Abdülhamid II., der an einem Nierenleiden litt, kaufte zu Genesungszwecken das Mineralwasser der Marke »Friedrich«. Auch sein Nachfolger und jetzige Herrscher Mehmet V. hatte dieses Wasser zu seinem Lieblingsgetränk erkoren. Otto gönnte sich zur Aufmunterung eine Flasche dieses köstlichen, aber doch recht teuren Nasses.
Kurz nachdem er den Pazar Alman verlassen hatte, bog, aus einer Seitengasse kommend, eine faszinierende Gestalt in die Grande Rue ein. Sie trug ein langes, weites Gewand aus grünem und goldenem Brokat mit engen, bis zu den Fingerspitzen reichenden Ärmeln. Darunter ein weit geschnittenes weißes Hemd aus feiner Baumwolle, eine weite Hose aus dünnem rosafarbenen Damast, um die Taille zusammengehalten mit einem breiten Gürtel aus kunstvoll besticktem Satin, versehen mit einer diamantbesetzten Schließe. Als Kopfputz eine Kappe aus leichtem, schimmerndem Seidenstoff, an der ein bestickter dünner weißer Schleier mit Schmucknadeln befestigt war. Alles in allem also die Kleidung einer gut situierten einheimischen Dame.
Doch dann trat sie mit einem Absatz ihrer kleinen gelben, spitzen Pantoffeln auf eine dieser elenden losen Platten, schrie erschrocken auf und fiel auf die staubige Straße. Zwar reagierte Otto schnell, doch er konnte ihren Sturz nicht aufhalten. Sofort beugte er sich über sie und fragte mit fürsorglich klingender Stimme: »Meine Dame, ist Ihnen etwas geschehen?«
Dann unvergesslich. Auf den Knien liegend blickte sie ihn hilfesuchend an. Er sah nur diese großen, schwarzen, tiefgründigen Augen, die der Schleier freigab. Unglaublich. Ihm war kribblig, abwechselnd heiß und kalt. Ein verrückter Zustand.
»Ja, mein Herr. Au, mein Knöchel tut mir weh und schauen Sie sich mein Kleid an. Verschmutzt und auch noch eingerissen.«
Große Tränen traten in ihre dunklen Augen. Otto war gleich wie ein Jüngling hin und weg. Dann auch noch diese einzigartige Stimme, die ihn an ein unschuldiges kleines Singvögelchen erinnerte. Aber trotz aller Faszination handelte Otto, wie es sich für einen Mann von Stand gehört.
Ruhig beugte er sich nieder, um ihr wie ein Kavalier aufzuhelfen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sie sich gestützt auf den galanten Otto auf. Da erst schoss es Otto von Wesenheim durch den Kopf. Oh je, was habe ich nur getan?
Es war völlig unschicklich, dass ein ausländischer Gentleman eine einheimische, moslemische Dame auf offener Straße anspricht oder sie gar berührt, in welcher Situation auch immer. Auf der anderen Seite war es aber auch ungewöhnlich, ja schon ungebührlich, dass eine solche Dame sich allein ohne männliche oder wenigstens weibliche Begleitung in die Öffentlichkeit begab. Insgesamt also eine für beide Seiten höchst ungebührliche Begegnung. Hoffentlich sieht mich kein Bekannter, dachte Otto. Das wäre eine gesellschaftliche Katastrophe, gerade für ihn, den Legationsrat der kaiserlichdeutschen Botschaft. Was für ein Gerede entstünde! Er konnte das heimliche Getuschel, wo immer er hinkommen würde, schon hören. Dann das Schweigen oder das krampfhafte Bemühen, das Thema zu wechseln.
Aber bevor Otto irgendwie reagieren konnte oder ihm eine passende Lösung einfiel, denn die Hand wollte er eigentlich nicht von ihrem zarten Arm nehmen, ergriff Ayşe beherzt die Initiative.
»Mein Herr, mein Knöchel tut mir immer noch weh. Ich fürchte, ich könnte wegen der Schmerzen in Ohnmacht fallen. Wären Sie so gut und würden mich ein Stückchen begleiten? Es ist nicht weit bis zu meiner Wohnung. Dort kann ich mich dann hinsetzen und ausruhen.«
Ohne nachzudenken, antwortete oder vielmehr stammelte der sonst so selbstbewusste Otto von Wesenheim, allerdings aus tiefster Seele: »Äh, ja, ja, selbstverständlich. Es, äh, es w-, wäre mir ein Vergnügen, Sie be-, begleiten zu dürfen, meine Dame.«
Schnell blickte er um sich und mit großer Erleichterung stellte er fest, dass der kleine Vorfall anscheinend keine große Zuschauermenge angezogen hatte. Alle hasteten, inzwischen den eigenen Angelegenheiten nachgehend, weiter. Aus immer noch leicht mit Tränen gefüllten Augen schaute Ayşe ihn dankbar an. So also bog er zum ersten Mal in diese Gasse ein, betrat zum ersten Mal das Appartement im zweiten Stock, küsste sie zum ersten Mal und …
Noch verschlafen und etwas überrascht, Otto von Wesenheim um diese Uhrzeit hier zu sehen, öffnet der Hausmeister, der Kapıcı, die Eingangstür nun eben dieses Hauses. Otto merkt, wie das Blut in seinen Adern zu pulsieren beginnt, nicht so sehr vor Anstrengung, sondern mehr in Erwartungshaltung. Vor allem will er Ayşe zu dieser ungewöhnlichen Tageszeit nicht erschrecken. Stufe um knarrende Stufe nehmend steigt er die Treppe hinauf. Da bemerkt er, wie sich kurz vor seinem Ziel eine Tür öffnet. Er vernimmt ein leises Flüstern und meint, einen Abschiedskuss zu hören. Anschließend tritt jemand geräuschlos auf den Flur. Kommt diese Gestalt nicht aus einer Wohnung auf Ayşes Stockwerk?
Schon befindet sich die Gestalt auf seiner Höhe und ist anscheinend genauso erschrocken, auf jemanden zu treffen, wie er selbst. Sie bleibt kurz stehen und er kann ihr Gesicht erkennen. Direkt und mit einer gewissen Portion Selbstsicherheit schaut sie ihn kurz an. Kein Schleier verdeckt ihr Gesicht. Eine Europäerin. Nur wenig kleiner als er. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut Otto in ihr Gesicht, das nicht unbedingt als klassisch schön bezeichnet werden kann, aber doch auf eine gewisse Art attraktiv ist. Große, helle, etwas eng beieinanderliegende Augen, eine kleine gerade Nase, ein leicht spitzes Kinn in einem schmalen Gesicht unter hochgesteckten rötlichen Haaren. Ihr Mund mit den vom Lippenstift kirschroten Lippen scheint ein kleines »Oh« zu formen, als sie ihn sieht.
Und dann ist die schlanke Gestalt, bekleidet mit einem bodenlangen dunkelblauen Rock und weißer Bluse, mit einer resoluten Bewegung auch schon verschwunden. Spontan schätzt Otto ihr Alter auf knapp vierzig Jahre, aber durchaus attraktiv. War da nicht ein Knopf ihrer weißen Bluse kurz über ihren Brüsten auf?
Noch ehe Otto weiter nachdenken kann, steht er schon vor Ayşes Tür und will gerade sanft anklopfen, um sie nicht zu erschrecken. Da öffnet sie sich auch schon wie von selbst und seine Ayşe steht mit etwas verwundertem Blick in den Augen vor ihm. Sofort fällt ihm ihr zerzaustes Haar auf und – ist da nicht auch ein leichtes Rot auf ihrer rechten Wange?
Aber er täuscht sich sicherlich im Halbdunkel. Sie kam natürlich gerade aus dem Bett – aber wie konnte sie die Tür so schnell öffnen? Ayşe scheint nur kurze Zeit überrascht zu sein, denn sie zieht ihn augenblicklich in ihre Wohnung. Ehe Otto sich versieht, ist er in ihrem Bann. Sofort erkennt, ja erspürt Ayşe Ottos labilen Zustand. Auch für solche Sensibilität liebt er sie. Ohne nach einer Erklärung für seinen Besuch zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu fragen, lässt sie Otto von Wesenheim auf einem Sessel Platz nehmen und haucht nur: »Warte, Liebling.«
Jetzt erst merkt Otto, wie ausgelaugt er eigentlich ist. Er fühlt sich unwohl, erschöpft, trinkt einen Schluck Wasser. Ayşe ist in einem Nebenzimmer verschwunden und kommt nur kurze Zeit später wieder zurück. Dazwischen aber liegen Welten. Immer wieder ist Otto von diesem Anblick fasziniert. So anmutig, mit ganz anderen Konturen als dieser eher großgewachsene, blonde, blauäugige nordische Typ mit weichen Formen, den Otto aus der Heimat kennt. Das verblüffende Ebenmaß ihrer Züge! Der reizende Gesamteindruck! Die herrlichen Proportionen ihres Körpers! Welch eine glatte, ebene Haut! Dieses unglaublich entzückende Lächeln! Dann erst ihre Augen, groß und schwarz! In jedem Gesichtszug entdeckt er neue Reize!
Nur mit ihrem Schleier bekleidet steht eine zierliche, schlanke Ayşe, ansonsten vollkommen nackt, vor ihm. Sein Blick gleitet über ihre glatte Haut mit dem herrlich bräunlichen Teint, über ihre kleinen festen Brüste und über ihren makellosen Hals bis zu ihrem lieblichen Gesicht hinauf. Der Schleier gibt ihre wunderschönen schwarzen Augen mit den leicht gewölbten, nachgezogenen Augenbrauen frei. Die Innenseite ihrer Lider ist mittels einer Tinktur schwarz gefärbt, was den Glanz der Augen beträchtlich erhöht.
Otto weiß, was gleich folgen wird. Mit einer langsamen Handbewegung berührt sie mit ihren rötlich gefärbten Fingernägeln die Kappe, an der der bestickte Schleier mit Schmucknadeln befestigt ist, hebt die Kappe leicht an, verzögert den Moment noch, dann entledigt sie sich ihrer Kappe und ihres Schleiers, die beide zu Boden fallen. Mit einem grazilen Schütteln des Kopfes lässt Ayşe ihre langen, wunderschönen schwarzen Haare sich frei entfalten. Sie umrahmen einen wohlgeformten Kopf, so dass ihre leicht gebogene orientalische Nase eigentlich keinen Makel darstellt. Immer wieder diese dunklen Augen und dazu die kirschrot gefärbten Lippen.
Nun kommt sie mit leichten, federnden Schritten auf Otto zu und nimmt seine Hand. Langsam erhebt er sich aus dem Sessel. Er lässt es geschehen. Ayşe führt Ottos Hand an ihren Hals und dann gleitet sie fast automatisch zu ihren kleinen Brüsten herunter. Er merkt, wie sich ihre Brustwarzen aufrichten, gleichzeitig nimmt seine Erregung merklich zu. Aber seinen Höhepunkt erreicht er fast schon, als er seinen Kopf zu der fast fünfzehn Zentimeter kleineren Ayşe niederbeugt, um so ganz nah in ihre faszinierenden Augen zu schauen. Von dort ist es dann nur noch ein kurzer Weg, um seine Lippen auf die ihren zu pressen.
Nach knapp einer Stunde gleitet ein erschöpfter, aber sichtlich entspannter und wohl gelaunter Otto aus dem Bett und bindet ein Handtuch um seine mittlerweile doch leicht fülligen Hüften. Schließlich ist man mit vierzig Jahren auch nicht mehr ganz jung, aber er verfügt immer noch über genügend Energie, wie er wieder einmal zufrieden feststellen konnte. Otto dreht seinen Kopf noch einmal zu der im Bett liegenden Ayşe und sieht ihr schlankes Bein unter der leichten Decke hervorschauen. Daraufhin zögert er für einen Moment und will sich wieder dem Bett nähern. Doch dann besinnt er sich und beginnt sich im Nebenraum frisch zu machen.
Ayşe, allein im Zimmer, steigt aus dem Bett, immer noch nackt, und geht zum Tisch, um sich ein Glas Wasser zu holen. Da bleibt ihr Blick auf Ottos Gehrock haften. Aus der rechten Tasche ragt etwas Weißes, das wie ein Brief aussieht, heraus. Ayşe, eine offene, moderne, aber auch neugierige Frau zieht dieses Etwas aus der Tasche. Erschrocken, fast hätte sie aufgeschrien, lässt sie es fallen. Es ist nicht nur weiß, sondern es sind auch unverkennbar Blutspritzer auf dem Papier. Sie schaut sich um, doch zum Glück hört sie nur Waschgeräusche aus dem Nebenzimmer. Mit flinken Händen hebt sie den Umschlag auf, öffnet ihn und zieht behutsam das Schreiben heraus.
Mit großer Spannung liest sie es. Schnell erkennt sie, dass es sich um einen Kaufvertrag handeln muss. Und dann diese hohe Summe. Da muss es sich um etwas sehr Wertvolles handeln. Weiter liest sie im unteren Teil des Briefes die Worte: »Der verkaufte Gegenstand befindet sich in der Nähe der heiligen Stätte der Mohammedaner, unweit von Abwässern und …«
Da hört sie, wie Otto die Tür aufmacht und das Schlafzimmer wieder betritt. Hastig faltet sie den Brief zusammen, kann dabei gerade noch ganz unten den Namen »Dschidda« oder so ähnlich lesen, steckt ihn schnell in den Umschlag und lässt ihn wieder in Ottos Rocktasche verschwinden. Doch Otto hat trotzdem etwas bemerkt.
»Was machst du denn da?«, fragt er recht forsch und sein Gesicht verzieht sich dabei ein Stück.
Geistesgegenwärtig und mit anmutig leiser Stimme antwortet Ayşe: »Ich richte nur deine Sachen her, damit sie nicht so kraus sind. So merkt niemand etwas von deinem kleinen Ausflug.«
Und sie schaut ihn leicht von unten mit etwas schrägem Kopf kokett lächelnd an. Sofort ist Ottos aufkommender Argwohn verschwunden und er bemerkt ihren delikaten Zustand. Er nimmt ihren Überwurf und hängt ihn galant um die nackte Ayşe, die das, immer noch neckisch lächelnd, mit sich geschehen lässt.
»Ich muss jetzt gehen. Wann sehen wir uns wieder?«
»Mein Liebster, du kennst doch unsere Vereinbarung. Aber nachdem, was ich heute erlebt habe, kann ich nur sagen, wann immer du willst.«
Otto ist erleichtert. Sichtlich gerührt verspricht er ihr aber, sie nicht noch einmal so unangekündigt zu besuchen. Nach einem langen Kuss verabschiedet sich Otto von Ayşe und geht auf die Straße hinaus in die Frühlingssonne. Ayşe ist noch immer ganz in Gedanken, nicht ganz bei sich, aber nicht wegen Otto, sondern wegen dem, was sie gelesen hat. »Heilige Stätte« – »Dschidda«, murmelt sie vor sich hin. Liegt da nicht Mekka ganz in der Nähe oder irrt sie sich? Was hat das nur zu bedeuten? Und dann diese hohe Geldsumme.
Schnell beschließt Ayşe, Maggie, ihren geheimnisvollen Gast, beim nächsten Besuch davon zu erzählen. Maggie ist neugierig und liebt Rätsel. Kein Wunder, ist Maggie doch Archäologin, so sagt sie zumindest. Außerdem kann die liebste Maggie immer Geld gebrauchen. Ihr nächster Besuch lässt hoffentlich nicht so lange auf sich warten. Bestimmt nicht, denkt Ayşe, wenn ich ihr eine Andeutung über das Rätsel zukommen lasse. Wenn sie dann hier ist, lasse ich sie noch ein bisschen zappeln. Etwas anstrengen soll Maggie sich schon, bevor ich ihr alles berichte, sagt sich Ayşe und schließt gedankenverloren mit einem sinnlichen Lächeln ihre schwarzen Augen, um sich nach all den Besuchen etwas auszuruhen.
Otto weiß von Ayşes geheimnisvollen Gedanken nichts. Nach diesem Besuch ist er eigentlich ganz entspannt und passiert dabei den Taksimplatz, ein weitgehend unbebautes, nur von einer riesigen Artilleriekaserne begrenztes Areal byzantinischen Ausmaßes. Kurz, bevor er das letzte Stück Weges zum Botschaftsgebäude zurückgelegt hat, fliegen Möwen schreiend an ihm vorbei, drehen und steigen in einem erstaunlich exakten Bogen über die Wipfel der wildwachsenden Ölbäume hinab Richtung des kleinen Fischerdörfchens Kabataş. Vom Bosporus her hört er das langgezogene Tuten eines Dampfers, der die zahlreichen kleinen Fischerboote aus seinem Weg haben will.
Gutgelaunt kehrt Otto in die deutsche Botschaft zurück. Er ist stolz, in diesem repräsentativen, der Weltstellung des Deutschen Reiches angemessenen Gebäude Seiner Majestät dienen zu dürfen. Auf einem ehemaligen moslemischen Friedhof auf dem Taksimhügel gelegen, hat sich das Botschaftsgebäude zu einem wahren Blickfang entwickelt. Der Würde einer Großmacht entsprechend entfaltet der Bau einen monumentalen Charakter und ist mit einer gebührenden Pracht ausgestattet. Dekorative Wappen und Insignien prangen an der Außenfassade, während Inschriften, Büsten, Statuen und Gemälde im prunkvollen Inneren angebracht sind.
Der quaderförmige, sechsgeschossige, achtundzwanzig Meter hohe Bau präsentiert sich als hoher, geschlossener Block, den fünfzehn Gebäudeachsen symmetrisch gliedern. Seine schlichte, braunrote Backsteinverblendung zusammen mit der nüchternen Strenge und den geschlossenen, glatten Fassaden wirken eher preußisch ernst. Dafür aber krönen insgesamt zehn auffliegende Adler aus Zinkguss mit ausgebreiteten Schwingen das Flachdach, die einander paarweise mit ausgebreiteten Schwingen zugewandt sind. Diese mächtigen Wappentiere unterstreichen den Großmachtanspruch des Deutschen Reiches. Otto ist immer wieder fasziniert von diesem Anblick, wenn er dem Botschaftsgebäude zustrebt.
Nur nicht heute. Im Moment hat er dafür keinen Blick. Noch versunken in die Gedanken an die letzten leidenschaftlichen Ereignisse, schreitet Otto durch das Einfahrtstor mit seinen je zwei schmiedeeisernen Flügeln, deren Mitte ein vergoldetes Reichsadleremblem ausfüllt. In dem Moment, als er durch das Tor eintritt, greift Ottos Hand nahezu automatisch in seine Rocktasche und zieht den Brief hervor. Fast augenblicklich ist er hellwach. Ja, natürlich, der Umschlag. Flugs strebt er seiner Wohnung in der zweiten Etage entgegen, tritt ein und fällt geradezu in seine Chaiselongue. Das blutverschmierte Schreiben lässt ihn den ereignisreichen Tag kurz Revue passieren.
Voller Dankbarkeit, dass er die Ereignisse unversehrt überstanden hat und sich bei Ayşe entspannen konnte, betrachtet er den Umschlag genauer. Die Zeichen kann er schnell als arabische Schriftzeichen entziffern. Was die wohl nur bedeuten?, fragt sich Otto. Ohne großartig nachzudenken, öffnet er den unverschlossenen Umschlag, achtet dabei aber darauf, dass seine gewaschenen Hände nicht das Blut berühren, auch wenn es mittlerweile getrocknet ist.
Mit einem schnellen Ruck zieht er den Brief heraus und öffnet das gefaltete Schreiben. Voller Ungeduld und Neugier will er zu lesen anfangen, doch die arabischen Schriftzeichen halten ihn davon ab. Er lebt zwar schon seit einigen Jahren in Konstantinopel, doch vertraut ist er mit der komplizierten Schrift nicht. Enttäuschung macht sich breit und Otto will das Schreiben wieder in den Umschlag schieben. Da merkt er, dass sich hinter dem Schreiben noch eine weitere Seite verbirgt. Durch Feuchtigkeit und wohl auch durch das Blut hat sich die zweite Seite an die erste geklebt. Ganz behutsam, dabei seine nun schon fast rasende Ungeduld im Zaum haltend, löst Otto die zweite Seite ab. Was mag noch auf ihr geschrieben stehen?
Endlich hat er sie ohne offensichtlichen Schaden abgelöst, da will er fast in einem Jubelschrei ausbrechen. Sie ist tatsächlich auf Deutsch verfasst. Gott sei Dank!
Es scheint die Übersetzung des Schreibens zu sein. Schon beim ersten Überfliegen wird ihm klar, dass es sich um einen Kaufvertrag mit einer hohen Summe, eine sehr hohe Summe handelt. Zehntausend Türkische Pfund! Das sind ja, rechnet Otto schnell im Kopf um, einhundertachtzigtausend Mark! Nach heutigem Maßstab knapp eine Million Euro, doch das weiß Otto natürlich nicht. Ihm fällt spontan der Vergleich mit dem Jahreseinkommen eines Kommandierenden Generals der kaiserlich-deutschen Armee ein, weit mehr als das Zehnfache! Purer Wahnsinn!
Und dann dieser seltsame Schluss. Rätselhaft. Noch einmal liest Otto den Kaufvertrag. Diesmal jedoch genauer. Er legt den Brief auf seinen Tisch und blickt nachdenklich aus dem Fenster. Er schüttelt den Kopf. Worin ist der von Darius – Gott habe ihn selig – nur verstrickt gewesen? Was hat der allseits als knauserig bekannte von Darius für diese hohe Summe nur gekauft?, fragt sich Otto kopfschüttelnd. Noch einmal liest er den seltsamen Hinweis, der wie ein Rätsel anmutet:
Beide Parteien verpflichten sich zur strengsten Geheimhaltung der folgenden Angaben: Der verkaufte Gegenstand befindet sich in der Nähe der heiligen Stätte der Mohammedaner, unweit von Abwässern und unter dem A. Pascha Herrenhaus.
Sehr ungewöhnlich für einen Kaufvertrag. Und dann noch dieser Satz ganz am Ende:
Wenn weitere Dienste benötigt werden, wird jeder Familienzweig von Mustafa Satıcı, sei es in Konstantinopel oder Dschidda, bei der ihr heiligen Familienehre demjenigen, der dieses Dokument vorlegt, jetzt und in Zukunft jede erdenkliche Gefälligkeit beim Auffinden des verkauften Wertstücks gewähren.
Dschidda, denkt von Wesenheim, das ist doch irgendwo in Arabien, oder? Ja, am Roten Meer, wenn er sich recht erinnert. Irgend so ein Wüstennest. Ein Außenposten am Rande des Osmanischen Reichs. Dort, wo man den Namen des Sultans kaum kennen dürfte.
Otto von Wesenheims Neugierde ist geweckt und sein nächster Gedanke ist eigentlich naheliegend. Vielleicht gibt es weitere Hinweise in von Darius Wohnung, die sich ebenfalls im zweiten Stock der Botschaft befindet. Sie sind, nein, korrigiert sich Otto, waren quasi Nachbarn. Deshalb hat er auch einen Schlüssel zur Dienstwohnung des verunglückten Kanzlers.
Mit leisen Schritten und unbeobachtet gelingt es Otto in die Wohnung zu kommen. Er schaut sich um. Ja, so kannten wir von Darius auch von der Arbeit. Immer alles sauber geordnet und korrekt aufgeräumt. Wonach suche ich eigentlich?, fragt sich Otto und blickt sich um. Am besten fange ich mit dem Sekretär an. Als ordentlicher Mensch hat Darius dort bestimmt seine Papiere deponiert. Neben den üblichen Schreibutensilien befindet sich nichts Ungewöhnliches auf dem Tisch. Alle Schubladen sind unverschlossen. Schnell schaut Otto die dort liegenden Papier und Sachen durch. Nichts! Verdammt noch mal! Enttäuscht schiebt er die unterste Schublade auf der linken Seite wieder hinein und entschließt sich zu gehen.
Da bemerken seine Finger noch eine weitere Schublade, die aber kleiner und nach hinten verlagert ist, sodass man sie gar nicht richtig sehen kann. Otto bückt sich und versucht sie herauszuziehen. Es geht nicht. Entweder ist sie verschlossen oder aber sie klemmt. Vergeblich sieht er sich nach irgendwelchen Schlüsseln um. Dann schlägt er gegen die Schublade, aber zu viel Lärm darf er auch nicht machen. Wenn ihn jemand erwischt wie er in den privaten Räumlichkeiten des Verstorbenen wühlt, dann aber gute Nacht. Er will schon gehen, weil ihn der Gedanke, entdeckt zu werden, immer nervöser macht. Da unternimmt er intuitiv noch einen letzten Versuch. Noch einmal kniet Otto vor dem Sekretär und fühlt mit seinen Fingern unter die Schubladen. Auf der linken Seite nichts, rechts auch nichts. Oder doch?
War da nicht eine kleine Unebenheit unter der letzten Schublade rechts unten? Er legt sich ganz auf den Boden, sieht unter die Schublade und erkennt einen angeklebten kleinen Schlüssel. Ottos Adrenalin schießt in die Höhe. Das muss er sein! Mit leicht zitternden Händen nimmt er den Schlüssel und versucht ihn in das Schloss der kleinen Schublade zu stecken. Nein, das gibt es doch nicht! Er passt nicht! Otto, ruhig bleiben, sagt er zu sich selbst. Noch einmal versuchen. Vor allem richtig herum muss der Schlüssel ins Schloss. Dann die Erleichterung. Es funktioniert doch. Langsam schließt er die Schublade auf und zieht sie hervor. Was ist drinnen?
Anscheinend nur ein Buch. Was für eine Enttäuschung! Aber es ist kein Titel aufgedruckt. Also öffnet Otto das Buch. Nach einem ersten schnellen Durchblättern ist es Otto klar: Das ist das private Tagebuch des von Darius. Otto nimmt es an sich und blickt verstohlen erst nach rechts und dann nach links. Aber natürlich ist niemand hier. Wie ein gemeiner Dieb, der er nun ja auch ist, stiehlt er sich aus der Wohnung und kehrt auf leisen Sohlen in sein Reich zurück.
Zurück in seinen Zimmern schenkt Otto sich zur Beruhigung der Nerven erst einmal einen doppelten Brandy ein. Das Brennen in der Kehle tut richtig gut. Öffnen oder nicht öffnen? Ottos Neugierde siegt dann recht schnell über seine moralischen Vorbehalte in dem Privattagebuch eines Verstorbenen unbefugt zu lesen und damit gewissermaßen in dessen Intimsphäre einzudringen.
Von Darius’ Tagebucheinträge beginnen mit seinem Dienstantritt am 1. Oktober 1902. Zum Herbststellenwechsel wurde er nach Konstantinopel versetzt. Ottos Neugierde schlägt allmählich in Enttäuschung um. Nichts Interessantes zu lesen, ein paar private Gedanken, Kommentare zu dienstlichen Vorgängen und Berichte über das Wetter. Ungeduldig blättert Otto die zahlreichen Seiten durch.
Schon ist er im Jahr 1908 angelangt, als sich die Jungtürken gegen die Herrschaft des Sultans durchsetzten und ihre Revolution starteten. Und noch eine Seite blättert Otto um. Da stockt er. Zurück. Da war doch was.
Hier unter dem 3. September endlich ein Hinweis. Darius berichtet unter diesem Datum von schon seit Jahren in bestimmten Kreisen umlaufenden Gerüchten, dass eine altehrwürdige, aus byzantinischer Zeit stammende Kostbarkeit, die als verschollen galt, doch noch erhalten sein soll. Das muss von Darius’ Interesse geweckt haben. Fortan gibt es immer wieder in unregelmäßigen Abständen Eintragungen über diese Geschichte in seinem Tagebuch. Fast schon detektivisch hat sich von Darius der Sache angenommen. In den letzten Monaten vor seinem tragischen Tod verdichteten sich die Gerüchte. Von Darius ging einem Hinweis nach, dass ein ehrenwerter Kaufmann konkrete Informationen über die verschollen geglaubte Kostbarkeit habe, er aber sehr viel Geld dafür verlange, zu viel, viel zu viel für einen Kanzler der kaiserlichen Botschaft.
Darius’ Enttäuschung ist anhand seiner Eintragungen im Tagebuch nachzuvollziehen. Doch dann nahm das Schicksal, das ihm später einen endgültigen Streich spielen sollte, zunächst einen positiven Verlauf. Aus seinen Einträgen geht hervor, dass er für ihn völlig überraschend gegen Ende des Jahres 1909 von einem entfernten kinderlosen Großonkel, der sein Geld an der Börse gemacht hatte, eine Erbschaft in ungeahnter Höhe erhielt. Wie elektrisiert agierte Darius in den nächsten Wochen, bis er dann unter dem 28. April, also nur wenige Tage vor seinem Tod, eintrug: »Endlich geschafft. Kaufmann getroffen, handelseinig geworden. Ein hübsches Sümmchen Geld hingeblättert für ein Rätsel. Ist es mir aber wert. Jetzt wird gesucht. Volle Kraft voraus!«
So enthusiastisch hat Otto den eigentlich eher nüchtern-sachlichen Kanzler von Darius noch nicht erlebt, weder im wirklichen Leben noch in seinem Tagebuch. Das muss ihn wirklich bewegt haben. Otto holt das Schreiben hervor, das er vom toten Darius genommen hat. Jetzt will er alles in Ruhe noch einmal lesen und über die Sache nachdenken.
Da unterbrechen laute Stimmen seine Gedanken. Die Pflicht eines Legationsrats in der kaiserlich-deutschen Botschaft ruft wieder. Hastig schiebt er den Brief in den Umschlag und steckt ihn in das erstbeste Buch, das er aus seinem Regal nimmt, Charles Morawitz’ Buch »Les finances de la Turquie«. Dahinter deponiert er die gefundenen Aufzeichnungen.
Schnell hat der Alltag den Legationsrat Otto von Wesenheim wieder und er denkt nicht mehr an das seltsame Schreiben und das Tagebuch.
Knapp zwei Monate später soll sich sein Leben ändern und zwar für immer. An jenem Tag wird Otto von Wesenheim zu seinem Chef, dem mächtigen und auch gefürchteten Botschafter Seiner Majestät Wilhelms II. im Osmanischen Reich, Ernst Freiherr von Hohenstein, gerufen.
Von Hohenstein ist nun schon seit dreizehn Jahren Botschafter Seiner Majestät am Hofe des Sultans. Zuvor war er sieben Jahre lang Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er verfügt über ausgezeichnete Kontakte zum kaiserlichen Hof in Berlin wie auch zu Seiner Majestät persönlich. Das wusste auch Sultan Abdülhamid II. und das weiß auch die jetzige Regierung der Jungtürken. Hohensteins Worte haben Gewicht.
»Wesenheim, Seine Majestät haben geruht, mir aufzutragen, zu erkunden, wie es um die Lage an den äußeren Grenzen des Osmanischen Reiches bestellt ist. Seine Majestät planen, eine neue Militärmission nach Konstantinopel zu entsenden. Dazu bedarf es genauerer Informationen über den militärischen Zustand des Reiches und zwar auch in den Randgebieten. Wie Sie wissen, stehen auch die Heiligen Stätten von Mekka und Medina unter dem Schutz des Sultan-Kalifen. Wie ist die militärisch-politische Lage in diesem für die Moslems in aller Welt so außerordentlich bedeutenden Gebiet einzuschätzen?
Mit dieser äußerst wichtigen, aber zugleich delikaten Aufgabe betraue ich Sie, Herr Legationsrat. Zugleich ist es Ihre Aufgabe herauszufinden, wie es um die neue Hedjasbahn, als Zweigstelle unserer Bagdadbahn, bestellt ist. Ist sie im Fall der Fälle geeignet, militärische Verstärkungen in die gefährdeten Gebiete um die Heiligen Stätten zu schaffen?
Die Bahnlinie ist bis nach Medina fertiggestellt. Von da begeben Sie sich per Karawane nach Dschidda, wo es eine türkische Garnison gibt. Dort wartet unser Kontaktmann, der Kaufmann und Honorarkonsul Heinrich Voss auf Sie. Er ist vorab informiert worden und wird alles für Sie vorbereiten. Explorieren Sie in geeigneter Weise die dortigen militärischen Zustände und berichten Sie anschließend mir immediat.
Wesenheim, Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie sich nicht exponieren mögen als offizieller Repräsentant Seiner Majestät. Auch wenn Seine Majestät sich in unnachahmlicher Weise Anno 1898 in Damaskus zum Schutzherrn der dreihundert Millionen Mohammedaner ausgerufen hat, soll Ihre Reise in keinerlei Weise Anlass für Misstrauen bieten. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Noch Fragen, Wesenheim?«
»Nein, Eure Exzellenz. Eure Exzellenz können sich ganz auf mich verlassen.«
Eigentlich, denkt Wesenheim, verspüre ich gar keine rechte Lust, das doch sehr angenehme Leben hier in Konstantinopel gegen die Strapazen einer solchen Reise in den Orient für einige Zeit aufzugeben. Besonders ruft er sich dabei die kleine unauffällige Wohnung in der dunklen Seitengasse in Tarlabaşe, wo er in gewissen Abständen die Nacht verbringt, in Erinnerung. Dabei muss er unwillkürlich an Ayşe denken, wie sie sich so gekonnt und verführerisch ihres Schleiers entledigt, ihn dann mit ihren schwarzen Augen anschaut und anschließend …
Aber weiter will Otto seine Gedanken nicht fortführen. Schließlich hat er einen Auftrag für Seine Majestät zu erfüllen. Nur das zählt jetzt. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr gefällt ihm der Auftrag. Eigentlich wollte er schon immer mit der Bagdadbahn fahren. Schließlich ist sie ein besonderes Projekt Seiner Majestät und eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst. Warum sich also nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spuren der deutschen Weltpolitik im Orient begeben?
Und dann ist da doch noch etwas. Plötzlich erinnert sich Otto an diesen mysteriösen Brief, den er bei dem Erdbeben vor zwei Monaten beim toten Kanzler von Darius gefunden hat. War der Absender nicht jemand in Dschidda? Ein Mustafa, wie hieß er noch gleich? Na ja, vielleicht kann er sich etwas umhören, wenn er schon vor Ort ist.