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Kapitel 3
ОглавлениеNach einer kurzen Nacht in einer kleinen, aber immerhin einigermaßen sauberen Unterkunft besteigt Otto von Wesenheim am nächsten Morgen den schon wieder bereitstehenden Zug, der ihn zur vorläufigen Endstation der Bagadbahn nach Burgulu am Fuße des Taurusgebirges bringt. Für die zweihunderteinundneunzig Kilometer lange Strecke benötigt man geschlagene elf Stunden. Immer wieder windet und quält sich der Zug die steilen Höhen empor.
Gerade hat sich Otto in seinen Sitz zurückgelehnt, als es plötzlich an seiner Abteiltür klopft. Zu seinem großen Erstaunen erblickt er durch das Fenster in der Tür die Dame, die anscheinend in letzter Minute in Haidarpaşa zugestiegen ist, die er aber schon wieder vergessen hat. Immer noch etwas verwirrt, öffnet Otto die Tür. Noch bevor er sie ganz aufgesperrt hat, hört er die Dame auch schon sagen: »Mein Herr, ich bitte Sie vielmals um Verzeihung und entschuldige mich schon jetzt für mein ganz und gar ungebührliches Verhalten. Aber ich halte es nicht länger aus. Ich musste Sie noch unbedingt vor dem Ende unserer Reise ansprechen.«
Bevor Otto noch irgendetwas sagen kann, steht sie schon mitten in seinem Abteil.
»Ich darf mich doch setzen, oder?«, fährt sie ohne Unterbrechung fort.
Das kleine Taschengeld für den Zugbegleiter hat sich ausgezahlt. Nachdem sie ihm Otto von Wesenheim kurz beschrieben hatte, kam der Schaffner kurz darauf mit der Information, in welchem Abteil der gesuchte Herr zu finden sei, zurück. Gut, gut, denkt sie sich. Dann wollen wir mal sehen, wie es weitergeht.
»Aber selbstverständlich, meine Dame«, vernimmt sie die Stimme eines sichtlich überraschten Otto von Wesenheim, der dazu die Stirn ob solcher Forschheit runzelt.
»Gestern brachte ich in Erfahrung, dass ein Gelehrter des Orients aus Deutschland im Zuge sei. Ich konnte es vor Neugierde gar nicht mehr aushalten und fand schließlich heraus, dass es sich um Ihre Person handelt. Nun habe ich all meinen Mut zusammengenommen und Sie aufgesucht. Ich hoffe, Sie vergeben mir meine Aufdringlichkeit.« Dabei kommt ihr der letzte Satz fast aufreizend leise über ihre wohlgeformten Lippen.
Es entsteht eine längere Pause.
Mittlerweile hat Otto seine Haltung wiedergewonnen, kann sogar ihr Gesicht betrachten und stellt schnell fest, dass es nicht unbedingt als hübsch im klassischen Sinne durchgeht, aber für eine Europäerin eigentlich recht ansehnlich ist. Große blaugrüne Augen in einem schmalen, blassen Gesicht unter den rötlichen Haaren und dem spitzen Kinn, ein zartes Gesprenksel von Sommersprossen um die Nase. Ihr blassgrüner Rock schmiegt sich eng um ihre Hüfte. Dazu trägt sie eine weiße Bluse mit hohen Spitzenkragen.
Ungewollt beeindruckt und mit viel weicherer Stimme als sonst, kommt es über Ottos Lippen: »Meine Dame, wie unhöflich von mir. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wie wäre es mit einem Schluck ausgezeichneten Tee aus Rise am Schwarzen Meer? Ich habe ihn extra nach Konstantinopel schicken lassen. Eine Spezialität. Oder wie wäre es mit Mineralwasser der Marke »Friedrich«, direkt aus meiner Heimat importiert. Auch der Sultan liebt es.«
»Wie außerordentlich freundlich von ihnen«, flötet die Dame. »Dann natürlich deutsches Mineralwasser.«
Um ein Haar entgleitet ihrem Gesicht ein Grinsen.
Mit dieser Antwort hat sie zielsicher Ottos Herz erreicht. Er läutet nach Ali, seinem Diener, der den Befehl seines Herrn nach Mineralwasser der Marke »Friedrich« sofort erfüllt. Mit einem dankbaren Blick führt sie das Glas an ihre Lippen und nippt von dem Wasser. Ohne den Blick von ihr zu wenden, nimmt auch Otto einen großen Schluck.
»Meine Dame«, sagt Otto, »darf ich mich vorstellen? Otto von Wesenheim, Orientgelehrter der Humboldt-Universität zu Berlin.«
»Sehr erfreut. Mein Name ist Margaret Morris, Archäologin der Universität Oxford.«
Jetzt wird es Otto klar, was ihm die ganze Zeit schon im Unterbewusstsein aufgefallen ist. Ihre Aussprache hat einen leichten Akzent, den er aber nicht so richtig zuordnen konnte. Eine Engländerin also.
»Ich bin außerordentlich erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Gnädigste«, sagt Otto galant und meint es auch tatsächlich so, obwohl sie Engländerin ist.
Die folgende Stunde verfliegt wie im Nu. Beide unterhalten sich, tauschen sich über ihre Familien, ihre Berufe und das Leben im Reich des Sultans aus. Vollkommen unvermittelt ändert Margaret dann die Richtung des Gesprächs. Mit leicht erröteten Wangen sieht sie Otto unmittelbar in die Augen und sagt: »Lieber Herr von Wesenheim, es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie mich Margaret nennen würden, jetzt nachdem wir uns so anregend unterhalten haben und Sie so … wie soll ich sagen … galant sind, wie ein echter englischer Gentleman.«
Leicht verwirrt über das direkte Vorgehen, den Vergleich mit einem englischen Gentleman eigentlich missbilligend, dann aber doch geschmeichelt, antwortet Otto.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Gnädigste, äh Margaret. Bitte nennen Sie mich Otto.«
»Ja, dann also«, räuspert sich Otto und schaut Margaret an: »Margaret, meine Teuerste, Sie wollen also zu Baron von Koppental nach Tel-Halaf in den Nordosten Syriens fahren, um den berühmten Ausgrabungen des Siedlungshügels aus assyrischer Zeit beizuwohnen? Ist das nicht zu gefährlich für eine Dame und dann noch ganz allein in diesem abgeschiedenen, unzivilisierten Teil der Welt?«
In ihrem Element und voller Selbstbewusstsein antwortet Margaret: »Aber nein, ich kenne nicht nur Franz von Koppental schon seit längerer Zeit und schätze ihn als Archäologen sehr, sondern auch die arabische Welt. Wie ich Ihnen, lieber Otto, bei unserer Plauderei schon gesagt habe, habe ich einige Zeit in Kairo gelebt, bin der arabischen Sprache mächtig und kann mich in der männlich dominierten Welt des Orients behaupten – da können Sie ganz sicher sein!«, schiebt Margaret, eine kleine Pause einlegend und leicht die rechte Augenbraue hebend, nach.
Letztere Äußerung glaubt Otto ihr aufs Wort. Mit neutralem Gesichtsausdruck, aber doch etwas enttäuscht bemerkt er: »Aber dann werden wir uns ja, nachdem wir Burgulu erreicht haben, trennen müssen. Weiter ist der Bau der Bagdadbahn nicht vorangeschritten. Das bedauere ich sehr.«
Und meint damit beide Tatsachen.
»Ja, verehrtester Otto, so wird es sein. Aber ich mag nun einmal Geheimnisse enthüllen und Rätsel der Vergangenheit lösen. Für mich ist das alles gar keine richtige Arbeit, sondern vielmehr wie ein Hobby und Vergnügen, ja geradezu eine Leidenschaft.«
Bei diesen Worten schaut sie Otto mit etwas schrägem Kopf leicht von unten an und streicht eine rötliche Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
Wie kokett, denkt sich Otto. Oder geht seine Fantasie mit ihm durch? Das kennt er doch sonst nur von Ayşe. Apropos Ayşe, was macht sie wohl nur ohne ihn? Für kurze Augenblicke schießt ihm dabei der Morgen nach dem Erdbeben durch den Kopf, als er unangekündigt bei Ayşe auftauchte und dabei eine Frau einen Moment im Flur sah. Das rötliche Haar und dieses Gesicht. Irgendwie kommt ihm dabei etwas bekannt vor. Aber schnell verwirft er den Gedanken. Das kann doch nicht sein. So wenige Europäerinnen haben nun auch nicht rötliche Haare. Aber dennoch. Doch dann lenken ihn Margarets Worte von seinen Gedanken ab.
»… Ihrer Reise?«, hört er Margaret fragen.
»Verzeihen Sie bitte. Wie unhöflich von mir. Ich war kurze Zeit abwesend. Wie war Ihre Frage, bitte?«
»Ich wollte nur wissen, was denn das Ziel Ihrer Reise ist.«
»Ach so, ja.« Was soll er ihr nur sagen? Am besten die Wahrheit.
»Ja, also ich beabsichtige nach Dschidda zu fahren.«
»Oh, Dschidda! Welch ein ungewöhnliches Reiseziel und welch weiter und gefahrvoller Weg bis dorthin.«
»Nun, unser Ingenieur Meißner Pascha, eigentlich Heinrich August mit Vornamen, hat ab Damaskus die Hedjasbahn fertiggestellt. Da reist es sich, so nehme ich jedenfalls an, ganz bequem«, sagt Otto mit Stolz und auch etwas Pathos in der Stimme.
»Das freut mich aber. Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht«, bemerkt Margaret mit einem leichten Augenaufschlag, was Otto nicht verborgen bleibt. Diese Engländerinnen, sagt sich Otto. Aber zu seinem Leidwesen hakt sie nach.
»Und warum Dschidda? Das liegt doch ganz in der Nähe der Heiligen Stätten von Mekka und Medina. Da dürfen doch gar keine Ausländer hin?«
Was soll er ihr bloß sagen? Kurz denkt er an ein Ablenkungsmanöver. Aber wie er Margaret bisher kennengelernt hat, wird das überhaupt nichts nutzen. Also dann: »Gnädigste Margaret, ich muss Sie aber um äußerste Diskretion bitten. Das ist alles sehr, sehr, wie soll ich sagen, delikat.«
Bei diesen Worten rückt Margaret näher an Otto heran. Fast schon verschwörerisch haucht sie mit gepresster Stimme: »Aber ich bitte Sie, Otto, niemals würde ich Sie in irgendeiner Weise desavouieren.«
Otto schnellt leicht zurück, zögert einen Augenblick. Aufrecht sitzend spricht er mit leiser, aber klarer und tiefer Stimme: »Verzeihen Sie meine Worte. Das hätte ich auch niemals von Ihnen gedacht.«
Dann beugt er sich wieder nach vorne zu ihr und bemerkt ihren Parfümduft. Wie machen die Frauen das nur? Selbst in dieser schier unerträglichen Hitze riechen sie noch dermaßen gut, während er selber in seinem mittlerweile mit etlichen Sitzfalten versehenen Anzug ununterbrochen schwitzt und wer weiß wie riecht. Verschwörerisch raunt er ihr so eindringlich, wie er nur kann, zu: »Ich reise im Sonderauftrag Seiner Hoheit des Sultans. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Und auch das ist eigentlich schon zu viel. Ich bitte um Verständnis.«
Margarets hübscher Mund formt daraufhin ein »Oh«.
»Wie aufregend. Mein Mund wird verschlossen bleiben, Otto. Da können Sie sich ganz auf mich verlassen.«
In ihrer Stimme lässt sie eine tiefe Anerkennung mitschwingen, die die beabsichtigte Wirkung auf Otto von Wesenheim nicht verfehlt. Dabei schaut sie ihm fest in die Augen.
»Wenn wir schon bei Geheimnissen sind«, fährt sie fort und senkt ihrerseits die Stimme, »einige Wochen vor meiner Abreise aus Konstantinopel habe ich Gerüchte von einem Rätsel über einen Schatz oder etwas Wertvolles gehört. Haben Sie auch etwas davon vernommen?«
»Äh, nein.« Kurze Pause. »Überhaupt nichts«, antwortet Otto kurz und bündig.
»Ach so, hätte ja sein können.«
Auch Margaret lässt es damit bewenden. Seltsam, denkt Otto, davon hat er tatsächlich nichts gehört. Kann sie sich auf diesen merkwürdigen Brief beziehen, den er bei sich hat? Bei diesem Gedanken fasst er sich automatisch an seine Innentasche, um zu prüfen, ob der Brief noch da ist. Was mag Margaret nur wissen?, fragt er sich und hält kurz inne. Gar nichts, verwirft er schließlich diesen Gedanken.
Wenn es solche Gerüchte geben sollte, dann müssen sie sich auf etwas anderes beziehen, denn von diesem Brief weiß nur der verstorbene Hermann von Darius und nun er, Otto. Von etwaigen Gerüchten hat er auch deshalb nichts mitbekommen, weil er in den letzten Wochen wegen der vielen Arbeit kaum aus der Botschaft herausgekommen ist. Außer natürlich während seiner kleinen Abstecher zu Ayşe. Schwärmerische Erinnerungen machen sich breit. Einen Moment verliert er sich in seinen Gedanken. Doch dann holt ihn die Realität wieder ein.
»Otto, es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben. Wir haben ein anregendes Gespräch geführt und die Zeit ist wie ein Wimpernschlag vergangen. Nochmals ganz herzlichen Dank, dass ich Sie in Ihrem Abteil aufsuchen durfte. Bevor wir nun Burgulu erreichen, erlauben Sie mir, dass ich mich zurückziehe und mich frisch mache. Ich hoffe sehr, dass das nicht unser letztes Zusammentreffen gewesen sein wird.«
»Auch für mich war es eine große Ehre und ein großes Vergnügen, mit Ihnen gesprochen zu haben, teuerste Margaret. Auch ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen. Bitte richten Sie meine besten Grüße an Franz von Koppental aus und kommen Sie sicher und gesund nach Tal-Halaf«, erwidert Otto.
Mit einer leichten Verbeugung und einem vollendeten Handkuss verabschiedet er sich von Margaret, die schwungvoll das Abteil verlässt.
Wie recht zumindest Margaret mit ihrem Wunsch haben sollte, weiß Otto zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auf dem Weg zu ihrem Abteil denkt Margaret, Dschidda, wie interessant. Da passt doch einiges zusammen. Im Sonderauftrag Seiner Hoheit des Sultans. Ha, ha, wer soll das denn glauben? Sie, Margaret, jedenfalls nicht. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Sie hat genug gehört. Dann muss sie heute Nacht jedenfalls nicht aktiv werden und ihre Wege können sich erst einmal trennen. Gut so.
Als der Zug endlich in der Bahnhofsstation von Burgulu zum Stehen kommt, bleibt Otto noch einige Zeit in seinem Abteil. Sollen doch erst einmal die anderen Reisenden sich drängen und aussteigen. Als er die Menschentraube auf dem Bahnsteig fast gedankenversunken betrachtet, bleibt sein Blick an einer Frau haften. Sie wiederum schaut mit leicht geneigtem Kopf und einem dezenten Lächeln im Gesicht in Richtung seines Abteils. Als sie sieht, dass Otto zu ihr hinüberschaut, hebt sie ihren rechten Arm und winkt ihm mit ihrer Hand fast unauffällig zu. Ottos Blick bleibt fasziniert an ihrem Gesicht hängen und er meint ein »Auf Wiedersehen« auf ihren Lippen ablesen zu können. Wie gerne doch, Margret, formuliert er in seinen Gedanken. Nach einigen Sekunden gibt er sich einen Ruck, steht auf und verlässt als letzter den Zug, während auf dem Bahnsteig sein Diener Ali schon mit dem Gepäck geduldig wartet.
Die umfangreichen und schwierigen Tunnelbauten durch das über dreitausend Meter hohe Taurus- und Amanusgebirge erweisen sich bisher als ein kaum zu überwindendes Hindernis für die Ingenieure. Also geht es für die Reisenden, die sich den Strapazen dieser Landschaft aussetzen müssen, am nächsten Morgen mit Wagen, Ochsen und Maultieren weiter.
Selbst um diese Jahreszeit kann Otto auf den Gipfeln des Taurus noch Schneereste entdecken. Tagelang schleppt sich Ottos Karawane mühselig über schmale Passstraßen durch die Gebirgslandschaft, immer auf und nieder, stundenlange Ritte auf den Maultieren. Wie auch für die meisten der Mitreisenden ist es auch für Otto von Wesenheim ungewohnt, auf Maultieren zu reiten. Schon nach kurzer Zeit schmerzt sein Hinterteil und er hat fast überall Muskelkater. Allerdings lassen sich die Maultiere ohne Probleme führen und suchen sich fast immer selber den richtigen Weg.
Schließlich zieht die Karawane über die Kilikische Pforte, die trotz einiger Verbreiterungen immer noch der enge Pfad geblieben ist, über den seit Jahrtausenden eroberungssüchtige Heere gezogen sind. Darunter natürlich auch das Heer von Alexander dem Großen. Nur nach unten gucken darf Otto von Wesenheim nicht, denn ihm würde sonst schwindlig werden. Auf seiner rechten Seite geht es steil nach unten in karstige Schluchten. Wenn man abstürzt, gibt es keine Rettung. Doch daran will Otto nicht denken.
Von der wilden Schönheit der Landschaft bekommt Otto von Wesenheim kaum etwas mit. Fast wie in einem Traum und in Trance erlebt Otto die strapaziöse Reise. Dabei greift er von Zeit zu Zeit immer wieder in die Innentasche seines Anzugs und vergewissert sich, dass der Brief nicht verloren gegangen ist. Die Neugier auf des Rätsels Lösung lässt ihn die Strapazen ohne allzu großes Wehklagen ertragen, bis er endlich in Damaskus ankommt.