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Kapitel 3 – Der neue Nachbar

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»Danke, dass du mir beistehst, Penny«, flüsterte Izzy ihrer besten Freundin zu, kaum dass sie in den Salon zurückgekehrt war und sich auf einen Stuhl am Fenster neben sie setzte. Izzy würde nicht wissen, was sie heute ohne ihre Seelenverwandte tun würde.

Penny hatte das hohe Fenster schon vor der Tanzpause einen winzigen Spalt geöffnet, damit sie beide frische Luft abbekamen. Im Grunde machten Izzy Gerüche nichts aus, schließlich befand sie sich auch hin und wieder in einem Kuh- oder Schweinestall, da durfte man wahrlich nicht zimperlich sein. Aber diese ganzen Duftwässerchen und parfümierten Puder waren ihr dann doch zu viel.

Zahlreiche Kerzen und Öllampen erhellten den riesigen Salon und verbreiteten nicht nur Licht, sondern auch Wärme. Außerdem ließ Izzy die Erinnerung an Henry Griffiths’ Hals nicht los und erhitzte sie zusätzlich von innen, was sie sich einfach nicht erklären konnte.

Penny strich sich eine schwarze Locke aus der Stirn und lächelte Izzy aufmunternd an. »Natürlich stehe ich dir bei. Dazu sind beste Freundinnen doch da.«

»Wirst du auch noch für mich Zeit haben, wenn du verheiratet bist?« Sie kannten sich fast schon ihr ganzes Leben, und da ihre Familien Nachbarn waren, sahen sie sich so oft es geht. Doch bald würde ihre gemeinsame Zeit ein Ende finden, denn Penny hatte sich vor ein paar Wochen verlobt. Sie war neunzehn, also drei Jahre jünger als Izzy, und diese Veranstaltung war wohl eine von vorerst ganz wenigen Gelegenheiten, ihre Freundin noch einmal bei sich zu haben. Es war schon schrecklich genug gewesen, dass Penny die letzten beiden Saisons in London verbracht hatte, aber wenn sie erst einmal verheiratet war, würde sie für immer dort wohnen oder noch weiter weg auf dem Landgut ihres Gatten. Dabei waren sie seit Kindertagen ein Team. Penny und Izzy, von vielen einfach nur »Pizzy« genannt.

Penny drückte kurz ihre Hand. »Ashton möchte mir nach der Parisreise sein riesiges Herrenhaus in Nottinghamshire zeigen. Aber zum Beginn der neuen Saison werden wir in London sein.« Asthon – der Earl of Lexington. Zukünftig würde Penny »Lady Lexington« sein. Was für ein Zungenbrecher! »Ich bin also nächstes Jahr gar nicht so unendlich weit weg und werde dir jede Woche schreiben … natürlich auch während unserer Hochzeitsreise.«

Izzys Herz zog sich zusammen, wenn sie an die langen, einsamen und dunklen Winterabende dachte. London war jedoch tatsächlich nicht so weit weg wie Lord Lexingtons Landgut, vielleicht könnte sie Penny dann besuchen. Seit vielen Jahren war Izzy nicht mehr in London gewesen. Papa hatte nach Mutters Tod und dem schrecklichen Vorfall mit seinem Freund das Stadthaus verkauft, und seitdem wohnten sie auf dem Land. Izzy liebte es hier, liebte Trenton House, den verrückten Garten mit den wunderschönen Follies und all die Menschen in Rochester und den umliegenden Dörfern. Sie wollte gar nicht mehr zurück in das schmutzige, stinkende London. Doch für Penny würde sie eine Ausnahme machen.

»Ich werde sicher nicht eingehen vor Langeweile«, bemerkte Izzy ein wenig verschnupft. »Dennoch wünschte ich, du hättest noch gewartet.«

Ihre Freundin blickte sie mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Empörung an. »Izzy, nächstes Jahr werde ich schon zwanzig! Außerdem lasse ich mir doch keinen Earl entgehen.« Sie lächelte ihren Verlobten an, der sich in der Nähe gerade mit Pennys Vater unterhielt, und fächerte sich galant Luft zu. Die beiden Herren sahen sich irgendwie ähnlich. Natürlich war Pennys Vater – Lord Clearwater – bereits sehr viel älter und ergraut, aber Ashton hatte auch so eine große Nase. Ansonsten machte er einen ganz passablen Eindruck.

Lord Wakefield gefiel Izzy trotz der Narben auf einer Gesichtshälfte irgendwie besser. Er erinnerte sie damit an einen Piraten, und sie hatte ein Faible für Piraten- und Abenteuergeschichten. Während die vierzig geladenen Gäste nach und nach in den Salon zurückkehrten, stand er stramm wie ein Soldat neben Papa, der auf einem Stuhl saß, und redete mit ihm. Papa schien sich über etwas zu amüsieren, denn er lächelte den Marquess an.

Der lächelte nicht wirklich zurück, aber sein Mundwinkel – der ohne Narbe – zog sich ein bisschen nach oben, sodass der Lord gleich weniger düster wirkte.

Izzy bemerkte, dass sie ebenfalls lächeln musste. Papa schien heute einen guten Tag und weniger Schmerzen zu haben als sonst. Je kälter es draußen wurde, desto mehr taten ihm die Knochen weh. Außerdem sah er heute irgendwie goldig aus. Die Wangen in seinem runden Gesicht waren gerötet und sogar sein kahles Haupt schien zu leuchten wie eine Tomate. Am liebsten wollte Izzy hingehen und ihn umarmen – aber das gehörte sich natürlich nicht. Sie hätte es aber getan, wenn niemand sonst hier gewesen wäre.

Würden sich Lord Wakefields Mundwinkel etwas mehr heben, wenn sie es einfach täte?

Henry – wie sie den Marquess von nun an gedanklich nennen würde, weil sie bei »Lord Wakefield« immer an den früheren Lord Philip Cranton denken musste, der völlig anders ausgesehen hatte – würde bald zu ihr kommen, um mit ihr zu tanzen. Noch stimmten die Musiker, die auf einem niedrigen Podest am Ende des Salons saßen, allerdings ihre Instrumente.

Ob Henry ein guter Tänzer war? Sie hatte überhaupt nicht darauf geachtet und außer seinem Humpeln nichts bemerkt, weil sie bisher so wenig Eindrücke wie möglich an sich herangelassen hatte. Natürlich rein aus Trotz, um ihrer aufdringlichen Stiefmutter keinen Gefallen zu tun. Rowena war oft sehr unhöflich zu ihr, vor allem wenn Papa nicht in der Nähe war. Dabei war Izzy doch keine Konkurrenz für sie! Aber vielleicht glaubte ihre Stiefmutter das, schließlich war diese kaum zehn Jahre älter als Izzy, und sie selbst hatte ein sehr liebevolles und enges Verhältnis zu ihrem Vater – was in ihren Kreisen eher unüblich war. Oder Rowena nahm es ihr übel, dass das Personal auch immer noch auf Izzy hörte, schließlich war sie nach Mamas Tod die Dame des Hauses gewesen.

Möglichst unauffällig ließ sie den Blick über die zahlreichen Gäste schweifen, die in kleinen Grüppchen beieinanderstanden, und wunderte sich kein bisschen, dass ihre Stiefmutter mehr ledige Herren geladen hatte als Paare. Die einzige noch unverheiratete Frau, abgesehen von Izzy, war Penny – und das auch nur noch für zwei Wochen. Am liebsten wollte Izzy nach ihrer Hand greifen! Mit der besten Freundin als Verbündete ließ sich diese schreckliche Situation einfach leichter aushalten.

Izzy stieß einen frustrierten Seufzer aus, ohne dabei ihre perfekte Haltung und das aufgesetzte Lächeln auch nur einen Deut zu verändern. Sie hatte ihrer Stiefmutter Rowena versichern müssen, mit jedem alleinstehenden Herrn, der geladen war, zu tanzen. Und Rowena hatte eine Menge gut betuchter Adeliger eingeladen. Nicht nur die Lords aus den umliegenden Ländereien waren angereist, sondern einige sogar von weiter weg gekommen. Nicht jeder Mann bot dabei solch einen ansehnlichen Anblick wie Lord Rochford, mit dem sie zuvor getanzt hatte und der von Alter und Statur Ähnlichkeiten mit Henry besaß. Es gab auch Herren, die beinahe so alt waren wie ihr Vater! Und mit solch einem Greis wollte Rowena sie verkuppeln? Sie war doch kein Zuchtpferd, nur weil sie eine vorzügliche Abstammung vorzuweisen hatte. Ihr Papa war Wilson Norwood, Viscount Trenton, und Izzy war sein einziges Kind. Noch …

»Wer steht als Nächster auf deiner Tanzkarte?« Penny griff einfach nach dem Zettel, der auf Izzys Schoß lag, und riss die Augen auf. »Der unheimliche Lord Wakefield!«

»Hmm«, brummte Izzy wenig damenhaft und wollte sich am liebsten bequem auf den Stuhl lümmeln oder besser noch: auf ihr Zimmer gehen. Im Grunde hatte sie absolut gar nichts gegen einen fröhlichen Tanz einzuwenden. Aber der Spaß daran wurde durch die Aussicht, sich für den Rest des Lebens an einen Mann binden zu müssen, den sie nicht liebte, deutlich getrübt. Sie konnte Trenton House noch nicht verlassen. Papa brauchte sie doch! Außerdem fühlte sie sich nicht bereit für eine Ehe mit all ihren … Verpflichtungen. Aber was am schlimmsten war: Sie müsste all ihre liebgewonnenen Freiheiten aufgeben.

»Was hast du eigentlich mit deinem Haar gemacht?«, fragte Penny und legte die Tanzkarte zurück auf Izzys Schoß. »Wo ist dein natürlicher Rotstich geblieben?«

Sie seufzte erneut. »Rowena hat ihrer Zofe befohlen, ein pflanzliches Puder auf meine Frisur zu geben, damit man das Rot kaum noch sieht und das Blond besser herauskommt.«

Pennys perfekt geschwungene Brauen hoben sich kaum merkbar. »Aber … wieso?«

»Rowena sagt, meine furchtbare Haarfarbe würde sonst die potenziellen Heiratskandidaten abschrecken.«

»Das wäre dir doch gelegen gekommen, oder?« Ihre Freundin wedelte sich mit dem Fächer Luft zu – um dahinter garantiert ein verschmitztes Grinsen zu verstecken. Penny wusste sich eben immer perfekt zu benehmen. Zudem entsprach sie mit ihrem schwarzglänzenden Haar und dem optimal geschnittenen, herzförmigen Gesicht dem aktuellen Schönheitsideal. Die Heiratskandidaten hatten sich um sie gerissen! Und Rowena hatte in den letzten Monaten mehrfach erwähnt, dass sie lieber eine Stieftochter wie Penelope Clearwater hätte, die sämtliche Umgangsformen perfekt beherrschte und nicht den ganzen Tag in Hosen herumlief.

»Du machst mir nichts als Kummer, Isabella«, pflegte Rowena stets zu sagen. Dabei hatten sie ohnehin kaum Berührungspunkte, denn ihre Wege kreuzten sich nur zu den Essenszeiten. Seit Mutters Tod kümmerte sich Izzy um die Verwaltung von Trenton House und die Instandsetzung der Güter, trug dem Personal auf, was es zu tun hatte, oder packte auch schon einmal selbst auf ihrem bezaubernden Landgut mit an. Natürlich rümpften immer noch viele Leute die Nase, weil sie als Frau, noch dazu als höhergestellte Dame der Gesellschaft, die Arbeit eines Mannes erledigte. Aber Izzy liebte es, beschäftigt zu sein und gebraucht zu werden. Außerdem hantierte sie gerne mit Zahlen. Als Lady den ganzen Tag im Salon zu sitzen, aus dem Fenster zu starren, Tee zu trinken oder Kissen zu besticken würde sie umbringen!

»Sieh dir nur die Frau von Lord Hastings an«, flüsterte Penny ihr hinter vorgehaltenem Fächer zu. »Sie hat feuerrotes Haar und einen äußerst attraktiven Earl abbekommen. Es scheint Männer zu geben, denen andere Werte wichtiger sind als eine perfekte Haarfarbe.«

Izzy seufzte abermals und bewunderte Lady Hastings’ grüne Abendgarderobe, die farblich wunderbar zu ihrer bezaubernden Ausstrahlung passte. »Sie ist wirklich eine Schönheit.«

Penny ließ den Blick unverhohlen über Izzys pompöses Kleid wandern und bemerkte spöttisch: »Ich glaube eher, all diese rosa Blümchen und Rüschen schrecken die Herren ab.«

Nun musste auch Izzy grinsen. »Ja, Rowena hat einen fürchterlichen Geschmack. Genau deshalb habe ich dieses himmlische Gewand, das sie nur für mich und extra für diese wundervolle Feier ausgesucht hat, angezogen.«

»Du bist eine sehr weise Frau, Isabella Norwood.« Penny lächelte verschmitzt. »Nur das Kleid deiner Stiefmutter übertrifft deines an Hässlichkeit.«

Izzy konnte gerade noch verhindern, loszuprusten. Rowena sah mit ihrem Babybauch in dem pinkfarbenen Albtraum beinahe wie ein neugeborenes Ferkel aus. Ein Ferkel, das ein Schneckenhaus auf dem Kopf trug. Rowenas blonde Perücke, die ihre Zofe zu einem kunstvollen Turm aufgesteckt hatte, wackelte jedes Mal gefährlich, wenn ihre Stiefmutter wie ein Huhn gackerte, äh, lachte.

Izzys Magen zog sich zusammen. Sie wollte wirklich nicht gehässig sein, doch sie fühlte sich nur noch unwohl in ihrer Haut und vor allem in diesem Kleid.

Penny beugte sich ein wenig zu ihr. »Ich kann nicht verstehen, warum du so lange zögerst. Du bist schon zweiundzwanzig. Willst du denn keine eigene Familie gründen? Bald wird dich kein Mann mehr ansehen!«

»Keiner sieht mich wirklich an, Penny. Sie alle finden mich seltsam.« Und das war gut so.

»Dann bist du blind. George und Andrew vergöttern dich!«

»Penny, deine Brüder sind acht und fünfzehn Jahre alt.« Izzy kicherte leise. »Und sie sehen in mir wahrscheinlich eher einen Kumpel und keine Frau zum Heiraten. Außerdem sind sie ein wenig zu jung für mich, findest du nicht?«

Penny rollte mit den Augen. »Sieh dich mal um. Fast jeder alleinstehende Herr blickt immer wieder zu dir. Glaub mir, da gibt es einige, die echtes Interesse an dir haben, zum Beispiel Lord Thaunton. Aber der Baron ist zu alt für dich. Wie findest du denn Sir Mortimer? Er ist ein Knight und wohnt nur eine Tagesreise von hier entfernt …«

Vielleicht hatte ihre Freundin recht und Izzy erregte Aufmerksamkeit bei den Herren. Ihr fehlte wohl dieser spezielle Sinn, um zu erkennen, falls sie jemanden in ihren Bann zog. Doch wahrscheinlich hatten diese Männer längst gehört, wie seltsam und undamenhaft sie sich die meiste Zeit benahm, und wollten nur unterhalten werden.

Penny flüsterte ihr hinter vorgehaltenem Fächer zu: »Deine Stiefmutter hat nicht nur einen alleinstehenden Marquess eingeladen, sondern gleich zwei! Die beiden sind wohl gerade die angesagtesten Junggesellen am Heiratsmarkt. Sagt dir denn keiner von ihnen zu?« Penny senkte ihre Stimme weiter. »Ich gestehe, unser neuer Nachbar, Lord Wakefield, ist keine Augenweide, aber Lord Rochford ist äußerst attraktiv. Doch er scheint eher seinen Freund Lord Hastings interessanter zu finden als dich. Die beiden stecken die meiste Zeit zusammen …«

Izzy hörte Penny kaum zu, da sie sich unendlich schlecht fühlte. Normalerweise teilten sie wirklich alles miteinander, aber den wahren Grund, warum sie keinen Ehemann wollte, konnte sie Penny nicht sagen. Ihre Freundin dachte, sie wolle einfach ihre Freiheiten nicht aufgeben. Izzy hatte Papa versprochen, für immer über die Vorkommnisse in jener schrecklichen Nacht Stillschweigen zu bewahren. Niemand kannte dieses dunkle Geheimnis, außer Papa und ihr ehemaliges Küchenmädchen Jenny.

Als die Musiker plötzlich den nächsten Tanz ankündigten, sprang Izzy fast vom Stuhl, denn Lord Wakefield … Henry … kam direkt auf sie zu. Wie er so resolut durch den Salon marschierte, wirkte er groß, düster und auch ein wenig bedrohlich, denn er machte eher den Eindruck, als würde er in den Krieg ziehen!

Penny stand gemeinsam mit ihr auf und drückte kurz ihre Hand. »Ich habe Ashton die Quadrille versprochen. Viel Spaß mit deinem Lord!« Und schon huschte sie zu ihrem Verlobten.

Nur einen Atemzug später befand sich Henry vor ihr, sodass Izzy leicht den Kopf in den Nacken legen musste. Sie machte einen Knicks und ein möglichst zerknittertes Gesicht, bevor sie sagte: »Lord Wakefield, wären Sie sehr enttäuscht, wenn wir diesen Tanz ausfallen lassen würden? Ich fürchte, ich brauche noch ein wenig Pause.«

Er blinzelte nicht einmal, zeigte kaum eine Regung, als er antwortete: »Ganz und gar nicht, meine Liebe.« Seine Stimme klang dunkel, samtig – eigentlich sehr angenehm. Wenn er sie nur nicht so durchdringend anblicken würde!

»Wir könnten stattdessen eine Limonade trinken«, setzte sie schnell hinzu, damit er nicht dachte, sie würde sich wegen seiner Narben vor ihm ekeln und deshalb nicht mit ihm tanzen. »Unsere Köchin macht die beste Limonade der ganzen Gegend.«

»Sehr gerne, Miss Norwood. Ich hole uns zwei Gläser.« Als er sich von ihr abwandte, achtete sie genau auf seine Beine. Kaum merklich zog er das linke hinterher. Henry biss sicher gerade die Zähne zusammen. Schließlich hatte Izzy vor dem Ruheraum, als er sich unbeobachtet glaubte, gesehen, wie es wirklich um ihn bestellt war.

Am besten, sie tanzte fortan mit keinem der Herren mehr und unterhielt sich mit dem Marquess, damit er sich nicht verpflichtet fühlte, andere Damen zum Tanz aufzufordern. Izzy hatte ohnehin schon fast mit jedem alleinstehenden Mann auf ihrer Karte getanzt, und mehr als zwei Mal mit ein und demselben Herrn über das Parkett zu wirbeln kam schließlich schon fast einer Verlobung gleich.

Andererseits durfte sich Lord Wakefield bei ihr keine Hoffnungen machen! Sie musste unverzüglich klarstellen, dass sie keinerlei Ambitionen hatte, zu heiraten – ohne den Mann zu kränken. Sie wollte ihm wirklich keinen Grund geben, zu denken, sie würde sich vor ihm oder seinem Aussehen fürchten.

»Ist es so offensichtlich?«, fragte er düster, als er mit den Gläsern zu ihr zurückkehrte.

Izzy schluckte schwer. Oh je, hatte sie die ganze Zeit auf seine Beine gestarrt? »Haben Sie schlimme Schmerzen?«, fragte sie zerknirscht. »Wir können uns gerne setzen.«

Schnell ließ sie sich wieder auf ihrem Stuhl nieder, und Henry setzte sich neben sie. Dann reichte er ihr die Limonade. »Sie nehmen wohl kein Blatt vor den Mund, Miss Norwood?«

Ihr Gesicht erhitzte sich. »Ich halte nichts davon, um den heißen Brei herumzureden.« Sehr zum Leidwesen von Papa und Rowena.

Eine von Henrys nachtschwarzen Brauen hob sich. »Dann sagen Sie immer, was Sie denken?«

»Natürlich nicht, das geziemt sich schließlich nicht für eine Dame. Ausnahmen mache ich nur bei Personen, die ich mag.« Rasch trank sie ein paar kleine Schlucke aus ihrem Glas, um einerseits ihre flinke Zunge zu zügeln und andererseits ihre brennenden Wangen zu verstecken.

Verdammt, er machte sich doch jetzt keine Hoffnungen?

Henrys Mundwinkel zuckte, und er klang amüsiert, als er sagte: »Ich dachte schon, Sie wären hier die Einzige, die sich nicht für mich zu interessieren scheint.«

Er machte sich Hoffnungen. Himmeldonnerwetter!

Der Anflug eines Schmunzelns huschte über seine Lippen. »Sie sind also die Frau mit den Hosen?«

Natürlich war ihr Ruf bereits bis zu ihm vorgedrungen, denn sicher amüsierte sich alles, was Rang und Namen hatte, über die »verrückte Isabella«. Vorteil für Izzy! Kein Mann fand eine Frau in Hosen attraktiv.

Wir sind wohl beide Außenseiter, jeder auf seine Art, dachte sie, was uns nicht zu Verbündeten werden lässt!

Als sie gerade nach einer geistreichen Antwort fischte, fragte er leise: »Schreckt Sie mein Äußeres ab?«

Er war aber auch sehr direkt! Nun musste sie genau überlegen, was sie erwiderte. Schließlich wollte sie ihn nicht verletzen, aber er sollte auch nicht denken, dass sie sich für mehr als nur eine platonische Freundschaft interessierte. »Ich beurteile Menschen nicht nach dem Äußeren, Lord Wakefield, und mache mir gerne mein eigenes Bild von jemandem.« Dann lass dich auch nicht von den ganzen Gerüchten über ihn beirren, schalt sie sich und blickte Henry direkt in die Augen. Die besondere Nuance seiner Iris war ihr bisher gar nicht aufgefallen. Um die Pupille herum besaß sie die Farbe von tiefbrauner Bratensoße, ging aber zum Rand hin in ein saftiges Blattgrün über. »Doch ich möchte gleich etwas klarstellen: Ich habe kein Bedürfnis, demnächst zu heiraten, und zwar weder einen der anwesenden Herren noch sonst irgendeinen Mann.«

Henry runzelte die Stirn. »Ihnen ist aber bewusst, dass Ihre Stiefmutter diese Feier gibt, um Sie unter die Haube zu bringen?«

Izzy sah sich im Saal um und wurde von Rowenas scharfem Blick regelrecht durchbohrt. Während die meisten tanzten, saß ihre Stiefmutter neben Papa und ließ Izzy nicht aus den Augen. »Sie haben Rowena also durchschaut.«

»Durchaus.« So etwas wie ein angedeutetes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, die erstaunlich schön geschwungen waren, wie Izzy feststellte. »Nur aus Ihnen werde ich nicht schlau, Miss Norwood.«

Sie lachte. »Das sagt Papa auch ständig.« Irgendwie mochte sie den Mann.

»Wie alt sind Sie?«

Seine direkte Frage überraschte sie, aber dann wurde ihr bewusst, dass er nicht in ein Leben als Adliger hineingeboren wurde und ihm viele Regeln sicher noch unbekannt waren. Izzy schmunzelte. »So etwas fragt man eine Dame nicht, Mylord.«

Er nippte ein Mal gelassen an seiner Limonade, sodass seine Oberlippe von dem süßsauren Saft glänzte. »Sie sind aber keine gewöhnliche Dame.«

»Touché, Mylord.« Sie grinste zufrieden. Der Abend versprach, doch noch amüsant zu werden.

Als er sich mit der Zungenspitze über die Lippen leckte, konnte sie den Blick nicht von seinem Mund abwenden und fühlte ein seltsames Prickeln tief in ihrem Unterleib. Schnell richtete sie ihr Augenmerk auf die vernarbte Gesichtshälfte. Wer hatte ihn bloß so übel zugerichtet?

Ein Schnitt zog sich von seinem Mundwinkel bis zur Mitte seiner Wange. Dort sah es so aus, als hätte ihm jemand ein X in die Haut geritzt. Wenn man den Marquess nicht näher kannte, konnte seine schreckliche Verletzung wirklich einschüchternd wirken.

Als Izzy bewusst wurde, dass sie ihn ungebührlich lange anstarrte, senkte sie schnell die Lider. Doch Lord Wakefield schien nichts bemerkt zu haben, weil er anscheinend seinen eigenen Gedanken nachhing. Er starrte in sein Glas und murmelte: »Ich wünschte, Sie könnten mich bei meinem Geburtsnamen nennen. Ich habe mich einfach noch nicht an den Titel gewöhnt.«

Verschwörerisch beugte sie sich ein Stück zu ihm. »Ich nenne Sie liebend gerne Henry, Mylord, solange uns niemand zuhört. So mache ich das mit meiner besten Freundin auch. Für mich wird sie immer Penny bleiben, aber vor anderen spreche ich sie nur mit Penelope an.«

Gespielt empört riss er die Augen auf. »Sie sind ja eine richtige Revolutionärin, Miss Norwood!«

»Isabella, wenn wir schon bei den Vornamen sind«, flüsterte sie ihm zu, weil sie Angst hatte, dass jemand sie trotz Musik hören konnte. »Und Izzy, falls Sie ganz verwegen sein wollen.«

»Izzy«, wiederholte er todernst, und sie lachte erneut. Henry besaß Humor!

»Sie sind ein wirklich mutiger Mann.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Er seufzte und wirkte plötzlich niedergeschlagen.

Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Erneut richtete Henry den Blick in die Ferne, als wäre er nicht bei ihr, sondern ganz weit weg.

»Also … um auf Ihre Frage zurückzukommen«, sagte sie schnell, um ihn ins Hier und Jetzt zurückzuholen. »Ich bin zweiundzwanzig. Ja, ich weiß, dass mich einige bereits als Blaustrumpf oder alte Jungfer bezeichnen und mich meine Stiefmutter längst an der Seite eines Ehemannes sehen möchte. Aber ich kann jetzt einfach noch nicht heiraten.«

»Ich werde nicht so indiskret sein und Sie nach dem Grund fragen.« Das plötzliche Funkeln in seinen schönen Augen zeigte Izzy, dass er ihre Unterhaltung ebenfalls genoss, auch wenn er sich sonst überwiegend emotionslos zeigte. Außerdem duftete er angenehm. Leicht herb, nach Bergamotte, und ein klein wenig rauchig.

Als sie nichts erwiderte, setzte er hinzu: »Keine Angst, Sie haben von mir keine Avancen zu befürchten.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinen schönen Lippen, und er sah gleich weniger bedrohlich aus. Izzy mochte ihn.

»Vielleicht können wir Freunde werden«, beschloss sie. »Jetzt, da mich Penny verlässt, um mit ihrem Earl glücklich zu werden, bräuchte ich Ersatz.«

Henry riss gespielt empört die Augen auf. »Das, meine liebe Izzy, ist völlig gegen die Regeln des ton, ansonsten würde ich bei Ihrer verrückten Idee herzlich gerne mitmachen.«

Ja, sie mochte den Marquess. Er war völlig anders als alle sonstigen Männer in diesem Raum, was sie herrlich erfrischend fand.

Die Limonade in ihrem Magen prickelte plötzlich. Was hatte ihre Köchin heute bloß für Zutaten verwendet? Izzy fühlte sich ein wenig berauscht, dabei war sicher kein Alkohol in dem Getränk. Sie kam sich sogar ein wenig beschwipst vor, als sie grinsend fragte: »Sie sind doch kein Feigling, Henry. Geben Sie sich einen Ruck!«

Kurz sah es so aus, als würde sich sein Gesicht verdüstern, doch dann schien er sich wieder zu entspannen und nickte. »Also schön. Da wir die Fronten geklärt haben … Darf ich nun, als Ihr neuer bester Freund, doch so indiskret sein und fragen, warum Sie keinen Gatten oder Kinder wollen?«

Izzy zögerte keine Sekunde mit der Antwort, denn es fiel ihr unglaublich leicht, sich mit Henry zu unterhalten. »Ich wünsche mir schon eines Tages eine Familie, aber wenn ich einmal heirate, dann nur aus Liebe.«

Schnaubend schlug er die Augen zum Himmel.

»Was?« Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen, weil die Stimmung zwischen ihnen schlagartig zu kippen schien. »Finden Sie mich naiv?«

»Nein.« Ernst sah er sie an. »Ich halte Sie für eine gebildete Frau, die weiß, was sie möchte. Doch Sie sind eine hoffnungslose Romantikerin.«

»Keineswegs, Mylord.« Sie warf einen kurzen Blick zu ihrem Vater, der auf seinem Stuhl eingenickt war. »Ich habe die Liebe in den Augen von Mama und Papa gesehen. So etwas würde ich auch gerne erleben.«

»Es tut mir sehr leid für Ihren Verlust.«

»Danke.« Izzy starrte in ihr Glas und drehte es in den Händen. »Mama ist bereits seit neun Jahren nicht mehr bei uns, aber ich vermisse sie immer noch sehr.«

»Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Stiefmutter?«

»Sie stellen eine Menge Fragen für jemanden, der hier neu ist.«

»Genau aus diesem Grund.« Ein leises Lächeln, das eine regelrechte Kitzelattacke in ihrem Magen auslöste, erhellte sein angespanntes Gesicht. »Ich muss viel aufholen. Es ist auf jeden Fall schon einmal angenehm zu wissen, dass Sie nicht hinter meinem Geld her sind.«

Izzy lachte. Sie mochte seine Art. »Um zu meiner Stiefmutter zurückzukommen … Sie ist sehr anstrengend. Aber lenken Sie nicht vom Thema ab. Was ist mit Ihnen, Mylo… Henry? Liebesheirat oder Vernunftehe?«

Prompt verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Ich habe jede Menge Verpflichtungen geerbt. Mir ist es egal, welche Dame ich zur Frau nehme.«

Obwohl sie Henry zuvor genau über ihren Status aufgeklärt hatte, nagte es ein wenig an Izzy, dass er ihr kein Kompliment oder etwas Ähnliches machte. Und was hatten seine Verpflichtungen mit Gefühlen zu tun? Sie wurde aus dem Mann nicht schlau.

»Es ist Ihnen egal?«, fragte sie empört. »Aber … wollen Sie denn nicht auch jemanden fürs Herz?«

Als er murmelte: »Mein Herz habe ich in Indien gelassen«, wurde sein Gesicht nachtschwarz.

Izzy erschrak. Ihm musste etwas wirklich Schreckliches zugestoßen sein. Wahrscheinlich hatte er in Indien viele grauenvolle Dinge erlebt, woraufhin er sein Herz hatte verschließen müssen, um nicht verrückt zu werden.

»Da es Ihnen egal ist …«, sagte Izzy behutsam. »Wen würden Sie denn wählen, wenn Sie sich genau jetzt für eine Frau entscheiden müssten?«

Ihr Herz hämmerte wie wild drauf los, als er sich im Salon umschaute und die tanzenden Paare betrachtete. Vor Nervosität leerte sie ihre Limonade in einem Zug.

Henry zuckte mit den Schultern. »Die Auswahl hier ist leider ziemlich begrenzt, da die meisten Damen bereits in festen Händen sind. Aber nur wenige sind hübsch anzusehen.« Als sein durchdringender Blick plötzlich auf sie traf, kribbelte es erneut in ihrem Magen.

Flirtete Henry Griffiths etwa mit ihr? Himmel, sie war nicht gut in diesen Dingen. Doch seine unverhohlene Musterung gefiel ihr durchaus. Es lag etwas Düsteres, Geheimnisvolles hinter seinen Pupillen verborgen, und das machte sie neugierig. Zu gerne würde sie hören, was er in Indien alles erlebt hatte. Sie hatte ein Faible für spannende Geschichten! Allerdings wollte sie keine schlimmen Erinnerungen wecken.

Auch wenn sie nicht heiraten wollte, streichelte es ihre Seele, zu wissen, dass ein Mann sie womöglich attraktiv fand – oder zumindest ihre unbeschwerte Art der Unterhaltung genoss. Gutes Aussehen war schließlich nicht alles! Nicht für sie …

Izzy räusperte sich verlegen und reichte ihr leeres Glas einem vorbeischlendernden Diener. Zum Glück war die Quadrille noch im vollen Gange und Izzy hatte weiterhin Zeit, sich mit Henry zu unterhalten. Immer noch blickte er sie an und fragte schließlich: »Wen würden Sie von den hier anwesenden Herren bevorzugen, falls Sie jetzt nach einem Ehemann suchen würden?«

Hitze stieg ihr ins Gesicht, und sie erwiderte schnell: »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»Kommen Sie, Izzy, spielen Sie mit.« Plötzlich klang er äußerst gut gelaunt. »Wie wäre es mit dem Marquess of Rochford? Nachdem sein Freund Hastings nicht mehr verfügbar ist, dürfte er der begehrteste Junggeselle des Abends sein.«

»Lord Rochford?« Izzy beobachtete den groß gewachsenen, braunhaarigen und zugegebenermaßen attraktiven Mann, mit dem sie zuvor getanzt hatte. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre, und dass er nicht längst verheiratet war, sollte ihr Warnung genug sein. Er führte Lord Hastings’ Frau Emily über das Parkett und schäkerte mit ihr herum, während sich ihr Ehemann mit Rowena unterhielt.

Izzy beugte sich ein Stück zu Henry – wobei sie wieder in den Genuss seines angenehmen Geruchs kam – und sagte leise: »Lord Rochford ist zwar äußerst sympathisch, aber ein Frauenheld. Er hat zuvor wild mit mir geflirtet. Mir würde es nicht gefallen, wenn mein Ehemann weiterhin anderen Frauen zugetan wäre.« Stirnrunzelnd betrachtete sie Henry. »Woher wissen Sie denn, dass der Marquess noch verfügbar ist? Sie sind doch noch gar nicht so lange aus Indien zurück.«

Henrys unversehrter Mundwinkel hob sich ein wenig, als würde er ein schelmisches Grinsen andeuten, während sich der vernarbte Mundwinkel kaum verzog. Dadurch wirkte er wieder ein wenig wie ein Pirat auf sie. »Die Gäste reden über alles und jeden, und ich habe sehr gute Ohren.«

Sie war wohl nicht die Einzige, die gerne andere Personen beobachtete. Izzy genoss ihre unkonventionellen Gespräche, spürte allerdings auch, dass sich Henry hier, unter all den Leuten, nicht wohlfühlte. Immer wieder warf er den Gästen schnelle Blicke zu, als würde er jeden von ihnen genau unter die Lupe nehmen, wobei er aber kaum eine Miene verzog. Doch seine unruhigen Augen verrieten ihn.

Es musste für Henry eine gewaltige Veränderung bedeuten, plötzlich der Erbe eines Titels und den damit verbundenen Pflichten zu sein. Er machte jedoch einen anständigen Eindruck. Gewiss war er ein guter Mensch und kein eiskalter Mörder. Und je länger sie mit ihm zusammen war, desto mehr fiel ihr auf, dass er eigentlich ganz ansehnlich war. Ohne diese schrecklichen Narben, die sein halbes Gesicht entstellten, musste er ein attraktiver Mann gewesen sein. Er besaß eine gerade Nase, schöne Augen mit dichten schwarzen Wimpern, maskuline Wangenknochen und sinnliche Lippen. Seine breiten Schultern luden zum Anlehnen ein, und als ehemaliger Offizier hatte er bestimmt etwas mehr Muskeln an der einen oder anderen Stelle. Wenn er seltener so verbissen schauen würde – was er bestimmt wegen seiner Schmerzen tat – würde er weniger furchteinflößend auf alle wirken. Dennoch umgab ihn auch ohne seine Verletzungen eine Aura des Geheimnisvollen.

Nun unterhielten sie sich bereits eine ganze Weile, und Izzy wusste dennoch fast nichts über ihn.

»Was erzählt man sich denn über mich, Henry?«, fragte sie frech, um ihre Unterhaltung weiterzuführen.

»Die Leute, die auf dem Land Ihres Vaters leben, scheinen Sie regelrecht zu vergöttern, denn jeder spricht nur gut über Sie.«

»Wirklich?«, fragte sie eine Spur zu spitz, denn das konnte sie sich nicht vorstellen. Das behauptete er doch nur, um sich bei ihr einzuschmeicheln.

»Wirklich«, wiederholte er mit Nachdruck und einem sanften Lächeln. »Sobald jemand erfährt, dass ich der neue Nachbar Ihres Vaters bin, kommt das Gespräch immer sofort auf Sie, Izzy. Sie scheinen bei der hiesigen Bevölkerung Eindruck zu schinden und sollen unglaublich freundlich und hilfsbereit sein. Ihr Ruf ist Ihnen sogar bis nach Rochester vorausgeeilt.«

»Ach was«, murmelte sie und spürte, wie sich ihr Gesicht erhitzte. Izzy wünschte, sie hätte sich von ihrem Zimmer einen Fächer mitgenommen. Es wurde langsam ziemlich warm im Salon.

»Außerdem sollen Sie dafür gesorgt haben, dass die Pachtabgaben verringert wurden, und gewähren jedem Aufschub, der nicht bezahlen kann. Natürlich vergöttern Sie die Leute!«

»Jetzt hören Sie schon auf, mir zu schmeicheln, Henry, oder ich nehme gleich die Farbe von Rowenas Kleid an.«

»Gewisse Person soll Sie gerade wegen all Ihrer wunderbaren Eigenschaften verheiraten wollen, damit Sie endlich ausziehen und Ihre Stiefmutter einen Verwalter einstellen kann, der die Pachtabgaben hochschraubt.« Er warf Rowena, die sie mit Argusaugen überwachte, einen kurzen, düsteren Blick zu. »Ich erzähle Ihnen nur, was ich über Sie gehört habe, meine liebe Izzy.«

Hinter ihrem Brustbein breitete sich wohlige Wärme aus. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass die Menschen hier so große Stücke auf sie hielten. Und was über ihre Stiefmutter berichtet wurde, entsprach leider der Wahrheit. Izzy befürchtete, dass Rowena das Ruder an sich reißen würde, sobald sie aus dem Haus war. Papa war nicht mehr der Jüngste und froh, dass sich Izzy um alles kümmerte. Er würde tatsächlich einen Verwalter einstellen müssen. Aber der kannte die Leute und ihre Bedürfnisse nicht so gut wie sie!

Ihr Herz raste plötzlich drauf los, während sie an all die Menschen dachte, die höhere Pachtabgaben nur aufbringen konnten, wenn sie sich das Geld vom Mund absparten. Mrs Higgins lebte allein mit ihren drei Kindern, die ohnehin alle viel zu dünn waren. Izzy brachte ihr jede Woche einen Korb mit Essen vorbei, genau wie einigen anderen Frauen, die dringend Unterstützung brauchten. Und Mr West war zu alt, um seine Felder selbst zu bestellen. Er konnte seinen Arbeitern kaum den Lohn zahlen, den sie verdienten. Höhere Abgaben würden sie alle in völlige Armut treiben.

»Ich finde es erstaunlich, dass eine Frau ein Landgut verwaltet«, erklärte ihr Henry und riss sie aus den Gedanken. »Ihr Vater muss Ihnen sehr vertrauen.«

»Bedingungslos«, murmelte sie und ihr Herz verkrampfte sich, als sie sah, wie Rowena grob an Papas Schulter rüttelte, um ihn zu wecken. Er mochte diese großen Feste genauso wenig wie Izzy, weil ihn diese ermüdeten.

Henry war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen und redete munter weiter. »Sie sind sich auch nicht zu schade, überall mit anzupacken, habe ich gehört. Natürlich müssen Sie reiten wie ein Mann und Hosen tragen. In solch einem Kleid wäre das alles gar nicht zu bewerkstelligen.«

Sie wollte Henry am liebsten küssen! Selbstverständlich aus rein freundschaftlichen Gründen. Schade, dass er keine Frau war. Sie beide hätten wirklich neue beste Freundinnen werden können.

Ach, wie sehr sie Penny jetzt schon vermisste!

Izzy schmunzelte. »Ich fühle mich geehrt, dass Sie überhaupt mit solch einer seltsamen Frau wie mir reden, Mylord.«

»Ich halte Sie für eine außergewöhnliche junge Dame, Izzy. Allerdings brauchen Sie auch einen außergewöhnlichen Ehemann, so viel ist gewiss. Sollten Sie jemals heiraten wollen, werden Ihnen wohl nicht viele Männer, die Ihrer würdig sind, zur Auswahl stehen.«

»Vermutlich«, sagte sie lächelnd und seufzte leise. Sie wollte ohnehin lieber unverheiratet bleiben, das wäre für Papa, die Pächter und für sie das Beste. Doch sie freute sich für ihre Freundin. Penny tanzte mit Lord Lexington gerade die letzte Figur der Quadrille und lächelte ihren Liebsten unentwegt an, während alle anderen Gäste für die beiden nicht zu existieren schienen. Penny sah glücklich aus. Hoffentlich behandelte der Earl sie gut.

»Sie sind aber auch kein Lord wie alle anderen, Henry«, sagte sie schnell, weil ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Sobald die Musik verstummte, würde ihre intime Gesprächsrunde vorbei sein. »Nur weiß ich über Sie weitaus weniger als Sie über mich.«

»Was haben Sie denn bisher über mich gehört?«, fragte er, wobei er sie ernst anblickte.

Izzy schluckte. Sie konnte ihm doch unmöglich berichten, was halb Rochester und viele Bewohner der umliegenden Dörfer über ihn dachten!

»Ich weiß, was man sich über mich erzählt«, murmelte er und fuhr sich unwirsch durch sein dichtes Haar. Schlagartig verdunkelte sich seine Miene und er machte wieder einen düsteren Eindruck auf Izzy. »Glauben Sie die Gerüchte etwa?«

Sie lächelte zittrig. »Wie ich zuvor schon sagte: Ich mache mir immer mein eigenes Bild. Natürlich habe ich gehört, was einige Leute über Sie denken. Doch wie hätten Sie für ein Unglück verantwortlich sein können, wenn Sie sich zu dieser Zeit noch in Indien aufgehalten haben?«

»Ich hätte jemanden beauftragen können, die Kutsche zu manipulieren«, antwortete er kühl.

Ihr Magen flatterte. »Diese Information verschafft Ihnen keine Pluspunkte.«

»Es wird ohnehin schwer sein, Punkte zu sammeln, wenn sich die meisten schon ihre eigene Meinung gebildet haben.«

Plötzlich sah Henry zerknirscht aus, woraufhin sie am liebsten nach seiner Hand greifen wollte. Er war ein Mann, den viele Dämonen zu quälen schienen, und hier erwarteten ihn neue finstere Gesellen.

»Bereuen Sie es, den Titel geerbt zu haben?«, fragte sie behutsam.

Henry zuckte mit den Schultern und trank den Rest Limonade aus.

Wusste er die Antwort selbst nicht oder wollte er ihr seine Gedanken nicht verraten?

»Kannten Sie den früheren Lord Wakefield gut?«, fragte sie schnell, in der Hoffnung, wenigstens eine Kleinigkeit über Henry zu erfahren.

»Nicht wirklich. Ich wusste zwar, dass ich über einige Ecken mit Philip Cranton verwandt bin, doch ich habe ihn nur einmal vor vielen Jahren, da war ich noch ein halbes Kind, auf einer großen Familienzusammenführung gesehen. Es hat mich völlig schockiert, dass seine ganze Familie mit der Kutsche einen Abhang hinuntergestürzt ist und den Tod gefunden hat. Die Mädchen waren erst fünf und sieben!« Henry seufzte schwer und starrte in das leere Glas. »Ich war ziemlich überrascht, seinen Titel zu erben. Ehrlich gesagt habe ich geglaubt, Neville Turner wäre der Nächste in der Erbfolge. Ich habe ihn immer für einen Cousin des früheren Marquess gehalten, dabei war er das gar nicht.«

»Den Namen habe ich schon einmal gehört«, murmelte Izzy.

»Kann sein. Mr Turner war wohl öfter beim alten Lord Wakefield eingeladen. Die beiden verstanden sich angeblich ganz gut. Mr Turner hat mich letzte Woche besucht und mir zum Titel gratuliert. Er ist in meinem Alter und arbeitet in London als Landschaftsarchitekt, gestaltet private Parks und die Gärten der Reichen.«

»Oh, er wäre eine interessante Bekanntschaft für Papa. Er vergöttert seinen verrückten Garten.«

Henry lächelte. »Ich habe die Follies auch schon bewundert. Vor allem den Nachbau der römischen Ruine finde ich sehr gelungen.«

»Ich liebe das kleine Amphitheater«, gestand ihm Izzy und konnte kaum den Frühling erwarten, um wieder auf den Steintreppen in der Sonne zu sitzen und ein Buch zu lesen.

Als die Musik verstummte, fühlte sie ein wenig Enttäuschung aufsteigen, denn Rowena zerrte den nächsten Tanzpartner auf Izzys Liste regelrecht im Zickzackkurs durch die Gäste in ihre Richtung: Lord Rutherford, wenn sie sich nicht irrte. Der Mann war über fünfzig – und bei bester gesundheitlicher Verfassung, wie es schien. Izzy würde wohl mit ihm tanzen müssen. Rowenas energischer Blick duldete keinen Widerspruch. Dabei hätte sich Izzy so gerne noch länger mit Henry unterhalten. Gerade jetzt wurde es spannend!

»Ich habe unser Gespräch wirklich sehr genossen, Miss Norwood«, sagte er schnell, nun wieder förmlich, und erhob sich kurz nach ihr.

Izzy lächelte ihn sanft an. Hoffentlich hatte sie ihm das Unwohlsein ein wenig vertreiben können. »Die Freude lag ganz auf meiner Seite, Mylord. Vielleicht finden wir später noch einmal Zeit, um unsere Unterhaltung fortzuführen.«

Als sich seine Brauen fragend hoben, setzte sie schnell hinzu: »Als Freunde!«

Henry schmunzelte und sagte so leise, dass es niemand sonst hören konnte: »Natürlich, meine neue beste Freundin.« Dabei beugte er sich so nah zu ihr, dass sie seinen angenehmen Duft wahrnahm.

Plötzlich stand Lord Rutherford bei ihnen, und Henry wurde von Rowena in Beschlag genommen. Sie zog ihn von ihr weg, und Izzy befand sich mit dem Adligen allein am Rande des Parketts.

»Lord Rutherford!«, begrüßte sie den ergrauten Mann lächelnd, der noch mehr Haare auf dem Kopf hatte als ihr lieber Herr Papa. »Sie sind also der Nächste auf meiner Tanzkarte.«

»In der Tat, meine liebe Miss Norwood.« Als er grinste, zeigte er erstaunlich gerade und helle Zähne. »Auf einen Tanz mit Ihnen freue ich mich schon den ganzen Tag.«

Oh je, Penny hatte wohl recht. Es gab anscheinend wirklich Männer, die Interesse an ihr hatten.

Ihre Freundin stand ein paar Meter hinter Lord Rutherford, fächerte sich Luft zu und blinzelte mehrmals in Izzys Richtung. Das war ihr geheimes Zeichen, dass Penny ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Lord Rutherford!«, stieß Izzy so laut hervor, dass sich einige Gäste zu ihnen umdrehten. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir eine Limonade zu holen? Ich könnte eine Erfrischung vertragen.«

Er nickte lächelnd und eilte davon.

Schon trat Penny zu ihr. »Ich habe dich mit Lord Wakefield beobachtet, Izzy. Du scheinst dich sehr gut mit ihm unterhalten zu haben. Warum habt ihr nicht getanzt?«

»Ich glaube, er hat Schmerzen im Bein.«

»Wegen einer Kriegsverletzung?«

»Vermutlich.«

Penny blickte sie ehrlich empört an, während sie sich wild Luft zuwedelte. »Du weißt es gar nicht? Worüber habt ihr denn die ganze Zeit geredet?«

»Wir haben erst lange über mich gesprochen, und als es wirklich interessant wurde, war die Quadrille schon wieder vorbei.«

»Schon?« Penny ließ sich ein wenig undamenhafter als sonst auf dem Stuhl nieder. »Ich bin völlig außer Atem. Ich kann verstehen, dass du eine längere Pause gebraucht hast. Du tanzt heute bereits den ganzen Abend!«

»Ich gestehe, ich würde mich gerne noch länger mit Lord Wakefield unterhalten.« Izzy blickte sich um und entdeckte ihn neben Lord Hastings und seiner Frau. Emily sagte etwas zu ihm, und er nickte, wobei sich nur sein rechter Mundwinkel ein bisschen hob. Immerhin schien er jetzt besser gelaunt zu sein als zuvor. Dadurch wirkte er gleich weniger finster.

»Bei dir hat er oft gelächelt«, flüsterte Penny ihr fröhlich zu. »Eigentlich zum ersten Mal an diesem Tag. Doch wenn ich ehrlich bin, finde ich ihn immer noch angsteinflößend. Er steht stramm wie ein Offizier und …«

»Er war ja auch ein Offizier«, unterbrach Izzy sie. »Ein Captain, soweit ich gehört habe.«

Penny nickte eifrig. »Er soll erst in der Armee gedient und sich später der Ostindien-Kompanie angeschlossen haben. Bestimmt versteckt er eine Waffe unter seinem Rock.«

Izzy lachte. »Du hast eine noch blühendere Fantasie als ich.«

Penny grinste verschmitzt. »Was dachtest du denn, was er unter seinem Rock versteckt?«

Plötzlich stieg eine unglaubliche Hitze in Izzy auf, als sie sich Henry nackt vorstellte. In der Bibliothek hatte sie ein Anatomiebuch gefunden und wusste, wie ein erwachsener Mann aussah. Außerdem hatte sie in der Eingangshalle des Hauses von Pennys Eltern mehr als einmal die römische, fast völlig unbekleidete Männerstatue studiert. Vor allem die breiten Schultern und schmalen Hüften hatten sie fasziniert, warum auch immer. Im Grunde unterschied sich ein Mann auch nicht so sehr von einer Frau, bis auf ein gewisses … Anhängsel.

»Penelope Clearwater, woher kommen plötzlich diese schmutzigen Gedanken?«, fragte Izzy übertrieben entsetzt.

»Ashtons Anwesenheit bringt mich völlig durcheinander«, gestand ihr Penny, wobei ihr Gesicht hinter dem Fächer knallrot anlief. »Izzy, ich bin so furchtbar aufgeregt wegen der Hochzeitsnacht.«

Izzy setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. »Das haben wir doch schon besprochen. Wenn der Mann rücksichtsvoll ist, tut es angeblich nicht weh, und ich glaube, dein Earl ist ein guter Mann. Außerdem habe ich dich letzten Monat zu Bauer Smither mitgenommen und du hast gesehen, wie es funktioniert.«

Penny riss die Augen auf. »Das waren Kühe, Izzy!«

»Recht viel anders ist es bei den Menschen auch nicht«, murmelte sie. Der Mann stürzte sich regelrecht auf die Frau und »vergnügte« sich so lange, bis er seinen Samen vergossen hatte. »Also … vielleicht überlegst du dir das noch mal wegen der Hochzeit, wenn du Vorbehalte hast.«

Penny schmunzelte. »Ich werde keinen Rückzieher machen. Ich habe heute Morgen meine Zofe Trish gefragt, ob sie etwas über das Thema weiß. Sie sagt, sie hätte eines unserer Zimmermädchen mit dem Knecht gesehen, und es machte den Eindruck, als würde es der Frau sehr gefallen.«

Das konnte sich Izzy beim besten Willen nicht vorstellen, obgleich sie natürlich hoffte, dass der ganze Vorgang für ihre Freundin nicht allzu schlimm wurde. Penny wünschte sich so sehr Kinder, eine ganze Schar, und Ashton schien wirklich ein anständiger Mann zu sein. Doch man konnte einem Menschen nur bis vor die Stirn sehen …

Izzy schüttelte sich und kalte Schauder rieselten über ihren Rücken, wenn sie daran dachte, was sie kurz nach Mutters Tod erlebt hatte. Nein, diese Sache konnte nicht angenehm für eine Frau sein. Deshalb und wegen all der anderen Dinge, die sie nur ungern aufgeben wollte, würde sich Izzy niemals an einen Mann binden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Kein Lord wie alle anderen

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