Читать книгу Kein Lord wie alle anderen - Inka Loreen Minden - Страница 9
Kapitel 5 – Das Unwetter
ОглавлениеWie versprochen, schickte Henry gleich am nächsten Tag Blumen. Da jedoch das Fest noch in vollem Gange war und die anderen Herren Wind davon bekamen, legten sich diese noch mehr ins Zeug, um Izzy zu imponieren. Sir Mortimer trug ein Gedicht vor und Lord Thaunton, der Baron, gab sogar ein Lied zum Besten, während Penny ihn am Klavier begleitete. Selbst der Marquess of Rochford schien noch intensiver mit ihr zu flirten als gestern. Es war der reinste Albtraum.
Einzig die Geschichten, die Lord Hastings über sich und seinen Freund, den Marquess, zum Besten gab, amüsierten Izzy. Die beiden hatten in London öfter miteinander trainiert, um sich beweglich und gesund zu halten – zumindest bis zu Lord Hastings’ Heirat mit Emily. Danach hatte er ihre Treffen arg vernachlässigt, weshalb nun Rochfords Kammerdiener als Ersatz herhalten musste.
Lord Rochford schien sich unwohler zu fühlen als am Tag zuvor und starrte noch öfter zur Tür, während sein Freund alles gab, um die Anschuldigungen von gestern Nacht vergessen zu machen. Ob der Marquess wirklich Männer bevorzugte? Izzy konnte sich das bei seinem Image unmöglich vorstellen. Andererseits wäre genau solch ein Ruf eine hervorragende Tarnung, um sämtlichen Verdacht von sich abzulenken.
***
Am Nachmittag erlaubte es das herrliche Wetter, nach draußen in den Garten zu gehen, um mit den Gästen eine Runde Krocket zu spielen. Penny stützte sich neben Izzy auf ihren Holzschläger und murmelte ungehalten: »Du hast die kleinen Tore mal wieder an den unmöglichsten Stellen platziert.«
Izzy schmunzelte zufrieden. Sie war die Königin des Krockets und genoss Heimvorteil. Niemand würde ihr den Titel strittig machen. »Was für ein wundervoller Oktobertag, findest du nicht, Penny?«
Ihre Freundin rollte mit den Augen, während diese den Baron beobachtete, der mit einem gezielten Schuss das nächste Tor traf – das Izzy in einen Maulwurfshügel gesteckt hatte. Seine Brust platzte gleich vor Stolz. Nun war Sir Mortimer an der Reihe, danach Lord Rochford. »Da dein Henry anscheinend schon die Flucht ergriffen hat, solltest du dich an den anderen Marquess halten«, erklärte Penny so leise, dass niemand der Umstehenden ihre Worte mitbekam. »Wenn Lord Rochford schon einmal auf dem Land ist, musst du diese Gelegenheit beim Schopfe packen. Er hält sich für gewöhnlich fast ausschließlich in London auf. Also scheint er echtes Interesse an dir zu haben, wenn er extra hierher gekommen ist.«
Izzy seufzte. »Penny, bitte versuch mich nicht auch noch zu verkuppeln. Es reicht schon, wenn Rowena das macht.« Tief atmete sie durch und genoss den Duft nach Laub und Pilzen. Sie mochte den Herbst. »Außerdem habe ich dir doch erzählt, was gestern passiert ist. Vielleicht fühlt er sich gar nicht zu Frauen hingezogen.«
Während ihre Stiefmutter am Vortag ungehemmt mit Lord Rochford geflirtet hatte, strafte sie ihn jetzt mit Nichtachtung. Sie saß neben Papa auf einem bequemen Stuhl am Rande des Spielfeldes und beteiligte sich nicht am Vergnügen, was allerdings nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun hatte. Rowena hasste Krocket. Papa hingegen umklammerte freudig seinen Schläger und konnte es kaum erwarten, gleich nach dem Marquess an der Reihe zu sein.
Izzy grinste. »Ich könnte Lord Rochford schöne Augen machen, um Rowena zu ärgern. Ich glaube, er ist nicht länger ihr favorisierter Schwiegersohn in spe.«
Mama hätte ihn gemocht. Izzy wünschte, sie wäre noch hier. Ihre Mutter hätte vor Papa niemals mit einem anderen Mann herumgeschäkert, sondern wäre auf Papas Bedürfnisse eingegangen. Rowena dachte immer nur an sich. Izzy konnte sich beim besten Willen keinen Grund vorstellen, warum Papa sie geheiratet hatte.
Andersherum war es klar: Rowena war verwitwet und pudelarm gewesen, als sie sich Papa an den Hals geworfen hatte. Sie genoss ihre neue Stellung sehr.
Izzy wünschte, sie könnte für immer hier bleiben, doch ihr Papa war schon alt. Zwar hatte er mit einer Klausel in seinem Testament dafür gesorgt, dass Izzy abgesichert war, aber wenn Papa nicht mehr wäre und Rowena einen Jungen gebar, würde dieser der neue Viscount werden – und sie wollte sich nicht ausmalen, wie es sein würde, hier unter Rowenas Fuchtel zu leben. Ihre Stiefmutter bestimmte ohnehin schon zu viel über sie.
Schweren Herzens musste sich Izzy eingestehen, dass sie sich doch besser bald nach einem passenden Gatten umsehen sollte. Vielleicht wäre Lord Rochford gar keine so schlechte Wahl. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er tatsächlich sein eigenes Geschlecht bevorzugte, hätte sie vor ihm im Bett nichts zu befürchten. Er wäre womöglich der geeignetste Heiratskandidat. Andererseits war er ein Mann von Rang und brauchte einen Erben, deshalb würde er die Ehepflichten bestimmt dennoch vollziehen wollen.
Himmeldonnerwetter, egal wie sie es drehte und wendete, es schien für sie einfach nicht die passende Lösung zu geben.
***
Izzy machte drei Kreuze, als das ganze Theater um ihre Person vier Tage später endlich ein Ende fand und der letzte Gast abgereist war. Nachdem sie sich von ihrer persönlichsten Seite gezeigt und mit den Herrschaften über Ackerbau, Viehzucht und Verwaltungsangelegenheiten geplaudert hatte, war das Interesse der Herrschaften stark geschrumpft. Sie bevorzugten wohl alle das Kissen bestickende, musizierende und Bilder malende Weibchen, das möglichst wenig Ahnung von »Männerthemen« hatte, damit man es wunderbar kleinhalten konnte.
Nicht mit ihr!
Zum Glück war Rowena dennoch zufrieden mit ihrer Veranstaltung, weil Lord Wakefield weiterhin Blumen schickte. Rosen, um genau zu sein. Ihre Stiefmutter plante bereits ein Treffen zwischen Izzy und ihm und bereitete zumindest gedanklich schon die nächste Feier vor. Rowena unterbreitete Izzy ihre Ideen am Frühstückstisch, während Papa den ganzen Tag im Bett blieb, um sich von den Strapazen zu erholen.
Izzy hatte jedoch genug von Partys und Partyplänen und allem, was dazugehörte. Dennoch nickte sie an den hoffentlich passenden Stellen und sagte »aha« oder »klingt gut«, um Rowena die Laune nicht zu verderben. Ihre Stiefmutter konnte unausstehlich werden, wenn man sich nicht für ihre Ideen begeisterte.
Izzy trieb es nach draußen, denn sie wollte die letzten warmen Tage des Jahres sowie ihre Freiheiten in vollen Zügen genießen, solange sie noch konnte. Also schlich sie aus dem Salon, nachdem sich Rowena in ihre Modezeitschriften vertieft hatte, und warf einen Blick in die Pachtbücher. Anschließend zog sie sich ihre heißgeliebte Hose an – ganz allein. Izzy beschäftigte keine Zofe. Nach Mutters Tod und weil Izzy erst dreizehn gewesen war, hatte sich Mamas Gesellschafterin Rosalie um ihre Belange gekümmert. Doch als Papa die Frau in den Altersruhestand geschickt hatte, wollte Izzy keine neue Kammerdienerin. Alles ging viel schneller, wenn sie es allein erledigte. Musste sie jedoch in ein kompliziert zu schnürendes Kleid schlüpfen oder brauchte eine aufwendige Frisur, ließ sie sich von einem der Hausmädchen helfen. Izzy hatte wirklich alles im Griff und verstand diese abhängigen Frauen nicht, die kaum etwas allein auf die Reihe brachten.
Izzy verließ das Haus und marschierte über den Kiesweg zum Stall, um nachzusehen, wie die Arbeit an den neuen Boxen voranging. Dabei warf sie einen Blick über ihre Schulter auf Trenton House, um zu überprüfen, ob dort irgendwelche Reparaturen nötig waren. Schließlich besaß das Gebäude, das aus ockerfarbenem Stein errichtet worden war, gleich drei Stockwerke. Irgendetwas zu tun fand sich immer. Izzy musste demnächst auf jeden Fall einen Handwerker auf das Dach schicken, um den Zustand der Ziegel zu kontrollieren. Eins der Mädchen, das in der Mansarde wohnte, hatte in einer Zimmerecke eine feuchte Stelle entdeckt. Das sollte unbedingt noch vor dem Winter behoben werden. Außerdem mussten auch die zahlreichen Schornsteine wieder einmal gefegt werden.
Die großen quadratischen Fenster hingegen bedurften noch keiner Reinigung. Darin spiegelten sich die sternförmig angelegten Wege, die durch die riesige Gartenanlage zum Haus führten. Papa hatte ein Faible für Follies, deshalb standen gleich mehrere Miniaturbauten auf dem akkurat geschnittenen Rasen: eine nachgebaute römische Ruine, ein fünf Meter hoher Wachturm und die Skulptur eines griechischen Gottes, der von einem Felsen hinunter auf einen Teich blickte.
Als Izzy den Stall erreichte, bemerkte sie erfreut, dass die neuen Boxen fast fertig waren. Sie lobte die Arbeiter und bat den Stallknecht, ihre Stute zu satteln. Shiela brummelte freudig zur Begrüßung und Izzy hielt ihr einen Stängel Rosmarin hin, den sie noch in ihrer Hosentasche gefunden hatte. Shiela schnappte sich sofort das Leckerli und schnaubte glücklich. Sie konnte es genauso wenig erwarten wie Izzy, endlich rauszukommen. Izzy kraulte ihre Süße kurz an den Ohren, flüsterte ihr zu, dass sie sich noch ein wenig gedulden musste, und ging zurück zum Haus.
Da es erst früh am Nachmittag war, blieben noch ein paar Stunden für einen Ausritt, bevor es dunkel wurde. Izzy betrat die geräumige Küche, in der immer ein Feuer brannte, um sich von ihrer Köchin Ella einen Korb mit allerlei Leckereien zurechtmachen zu lassen, die von der Feier übrig geblieben waren.
Izzy kannte Ella bereits ihr ganzes Leben, denn sie hatte schon für ihre Familie gekocht, als Mama noch gelebt hatte. Allerdings war Ella damals nicht so rund gewesen wie heute und es hatte auch kein graues Haar unter ihrer Haube hervorgespitzt. Doch Izzy liebte jedes Gramm an der immer gutgelaunten Köchin, die stets ein offenes Ohr für ihre Sorgen hatte und kein Wort über Izzys Kleidung verlor. Zu den langen Männerhosen trug sie ihre Damenstiefel, ein weißes Herrenhemd und einen kurzen braunen Frauenreitmantel.
»Für wen ist das Essen?«, fragte Ella, die neben ihren leckeren Keksen, Früchten und Käse auch eine Weinflasche in den Korb stellte.
»Ich wollte Mrs Ward besuchen.« Die junge Bäuerin kümmerte sich ganz allein um ihren kleinen Hof, da ihr Mann letztes Jahr an Wundbrand gestorben war, und konnte jede Unterstützung gebrauchen. Von ihr bezog Ella Eier und Milch. Mrs Wards Hof befand sich etwa drei Meilen entfernt.
»Weiß dein Vater, was du vorhast?«, fragte Ella, als sie Izzy den mit einem Tuch abgedeckten Korb in die Hand drückte.
»Ich will ihn nicht stören, er ruht sich immer noch aus.« Papa sah es natürlich nicht gerne, wenn sie ganz allein ausritt, und forderte sie daher ständig auf, wenigstens eines der Mädchen als Begleitung mitzunehmen. »Außerdem bin ich in einer Stunde wieder hier, und du weißt, wo ich stecke.«
Ella seufzte verträumt. »Du bist einfach eine gute Seele, mein Kind. Ich werde dich sehr vermissen, wenn du mit Lord Wakefield verheiratet bist.«
»Ella …« Izzy senkte die Stimme, obwohl sie sich gerade allein in der Küche befanden. »Du weißt doch, dass mir Lord Wakefield nur zum Schein Blumen schickt. Das hatte ich dir erzählt.«
Die Köchin zwinkerte. »Kein Mann schickt einer Frau einfach so Blumen.«
»Henry schon«, sagte Izzy.
»Henry!« Ella grinste. »Siehst du, ihr sprecht euch sogar schon mit den Vornamen an.«
»Wir sind nur Freunde.« Izzy holte tief Luft und schob sich schnell einen Keks in den Mund, damit sie nichts Unüberlegtes sagte. Mmm, Butterkräcker mit Vanillegeschmack, die hatte sie am liebsten.
Nachdem sie gekaut und runtergeschluckt hatte, murmelte sie: »Ich werde nicht heiraten, zumindest nicht in diesem Jahr.« Sie bedankte sich für den gefüllten Korb und machte auf dem Absatz kehrt. Sie würde es nicht ertragen, falls Ella nun ebenfalls damit beginnen würde, sie verkuppeln zu wollen. Hatte sich denn die ganze Welt gegen sie verschworen?
Ach, wenn sie doch jetzt zu Penny könnte. Aber die war mit ihren Eltern nach London gefahren, um sich für die Hochzeit einkleiden zu lassen.
Izzy verließ die Küche sicherheitshalber durch die Hintertür, damit sie weder Rowena noch Papa über den Weg lief, und begab sich erneut zum Stall. Leider ließ das Wetter zu wünschen übrig. Es regnete zwar nicht, aber dicke Wolken schoben sich vor die Sonne. Außerdem ging ein unangenehmer Wind. Izzy wollte deshalb nur schnell bei Mrs Ward nach dem Rechten sehen, ihr den Korb geben und gleich wieder zurückreiten. Ihr machte Regen nichts aus, aber ihre Stute Shiela war sensibler als so manche feine Lady. Da würden sie sich wohl beeilen müssen. Izzy grinste. Sie freute sich auf einen Ritt über Wiesen und Felder.
***
Glücklich betrachtete Izzy die Kuh, die neben dem neugeborenen Kälbchen im Stroh stand und es sauberleckte. Izzy konnte es kaum glauben, aber sie hatte soeben geholfen, ein neues Leben auf die Welt zu bringen! Nach ihrer Ankunft auf dem kleinen Hof von Mrs Ward hatte sie die verzweifelte Bäuerin im Stall vorgefunden. Es sah alles danach aus, dass Muttertier und Junges es nicht allein schaffen würden, weil das Bullenkälbchen sehr groß war. Schon die enormen Vorderfesseln, die zuerst gekommen waren, hatten das verraten. Doch nach Stunden des Bangens und vorsichtigen Mitziehens bei jeder Wehe war alles gutgegangen.
Während Izzy einfach nicht den Blick abwenden konnte, wusch sie sich gründlich die Hände in einem Eimer mit frischem Wasser, bevor sie die Ärmel ihres Hemds herunterrollte.
Mrs Ward zog sich die besudelte Schürze aus und lächelte Izzy unentwegt an. »Gott segne Sie, Miss Norwood. Ohne Ihre Hilfe hätten die beiden wahrscheinlich nicht überlebt. Sie müssen dem Kleinen einen Namen geben.«
»Wie wäre es mit … Lucky?«
Mrs Ward lächelte. »Das ist ein sehr schöner Name.«
Als plötzlich ein Donnerknall die Stille zerriss, schnaubte Shiela, die weiter hinten im Stall stand, nervös und Izzy warf zum ersten Mal einen Blick aus der geöffneten Tür. Oh je, sie hatte völlig die Zeit vergessen! Draußen war es fast ganz dunkel und ein Unwetter bahnte sich an. Leiser Regen prasselte auf das Dach, doch die Tropfen wurden schnell größer.
Hoffentlich hatte Papa ihr Fehlen noch nicht bemerkt. Er würde sonst umkommen vor Sorge!
»Ich muss jetzt leider los, Mrs Ward«, sagte Izzy, während sie ihre Stute losband.
Die Bäuerin sah besorgt nach draußen. »Ich bete für Sie, Miss Norwood, damit Sie gut nach Hause kommen.«
»Mir macht ein Gewitter nichts aus«, erklärte ihr Izzy, wobei sie Shiela beruhigend streichelte. »Aber meine Stute ist ein Angsthäschen.«
Wie zur Bestätigung tänzelte Shiela angespannt und zog den Schweif ein.
»Ruhig, meine Süße«, murmelte Izzy. »Da musst du jetzt durch.«
Sie zog sich ihren Mantel an, saß auf und verabschiedete sich von Mrs Ward. Dann ritt sie hinaus in den Regen. Blitze zuckten durch das Halbdunkel, der Donnerschlag folgte in immer kürzeren Abständen. Verdammt, das Unwetter kam schnell näher. Um ihm vielleicht ein Schnippchen schlagen zu können, musste Izzy eine Abkürzung nehmen. An der Grenze zu Henrys Land gab es einen Wald. Durch den ritt sie bei Dämmerung niemals, denn sie fand es gruselig, wie die Bäume ihre Äste gleich knorrigen Armen nach ihr ausstreckten. Aber es half alles nichts, dieser Weg würde eine Menge Zeit sparen. Heute musste also nicht nur ihre Stute die Zähne zusammenbeißen, sondern auch Izzy.
***
Henry beeilte sich, nach Hause zu kommen, und trieb seinen Hengst an, noch ein wenig an Tempo zuzulegen. Der plötzliche Wetterumschwung bekam seinem vernarbten Oberschenkel nicht, und es regnete immer stärker. Außerdem zog das Gewitter direkt auf ihn zu; er sollte den Wald schleunigst verlassen, damit er nicht von abgerissenen Ästen oder entwurzelten Bäumen getroffen wurde. Er war zwar in Indien auch schon in heftige Unwetter geraten, aber dort hatte niemals solch ein eisiger Wind geweht. Feuchtigkeit sowie Kälte krochen in seinen Nacken, und es würde nicht mehr lange dauern, bis seine Kleidung völlig vom Regen durchtränkt war.
Blitz und Donner erinnerten ihn an Artilleriefeuer, und Bilder von Blutvergießen und roher Gewalt zuckten vor seinem inneren Auge auf. Er hörte die Schreie sterbender Menschen, roch den Schmauch der abgefeuerten Schusswaffen. Henry hatte in der Armee jede Menge Leid gesehen und mit verursacht. Gott sei Dank lag dieses Kapitel hinter ihm. Es würde ihn allerdings auf ewig verfolgen.
Er sehnte sich nach einem prasselnden Kaminfeuer und würde seine neugewonnenen Privilegien genießen: sich ein warmes Bad richten lassen, sich an einem ausgiebigen Abendessen erfreuen, früh zu Bett gehen und lange ausschlafen. Bereits nachmittags hatte es nach schlechtem Wetter ausgesehen und er wäre auch gar nicht losgeritten, wenn er nicht in Rochester einige Papiere unterzeichnen und andere dringende Angelegenheiten erledigen hätte müssen, die seine neuen Verpflichtungen mit sich brachten.
Niemals hätte er geglaubt, dass er einmal einen Adelstitel erben würde. Im Grunde hätte ihm nach der Geschichte in Indien nichts Besseres passieren können; nur dass er sich eine Ehefrau suchen musste, stresste ihn. »Müssen« war auch nicht das richtige Wort, eher sah er seine Pflicht darin, einen männlichen Erben zu zeugen, um all diese Privilegien an seinen Spross weitergeben zu können. Er hatte eine zweite Chance bekommen und wollte, dass es seine Nachkommen einmal besser hatten als er. Henry war zwar nicht in Armut aufgewachsen, hatte aber mehrmals erfahren, wie schnell sich alles im Leben ändern konnte.
Sein Vater war Lehrer gewesen, dementsprechend streng, aber umfangreich, hatte sich Henrys Ausbildung gestaltet. Doch als sein Vater viel zu früh starb – Henry war erst sechzehn –, konnten Mutter und er nicht ewig von dem Ersparten leben. Deshalb ging er zum Militär und schloss sich später der Ostindien-Kompanie an, um seine Mutter in England finanziell unterstützen zu können. Sein Offizierspatent für die Armee hatte er nicht gekauft, wie einige Adlige oder reiche Industrielle – er hätte die mehreren tausend Pfund ohnehin nicht aufbringen können –, sondern er hatte erst die Militärschule besucht und sich danach jeden einzelnen seiner Ränge durch Leistung verdient. Fernab der Heimat hatte Henry ein völlig neues Leben begonnen und geglaubt, die ganz große Liebe gefunden zu haben.
Dabei war alles ganz anders gekommen.
Als ein mächtiger Blitz die Nacht zum Tag machte und ein gewaltiger Donnerschlag das Prasseln des Regens zerriss, zuckte er unwillkürlich zusammen. Sein Hengst – das ehemalige Reittier des früheren Marquess – schnaubte lediglich heftig und setzte tapfer seinen Weg fort. Aber Henry hörte ein Wiehern in der Nähe, dann die Rufe einer Frau. Wegen des Unwetters konnte er jedoch kein Wort verstehen. Der Regen hatte sich zu einer wahren Sturzflut ausgeweitet und die Donnerschläge erschütterten ihn bis ins Mark. Das Gewitter musste sich direkt über ihm befinden!
Als er die Wegbiegung passierte, sah er vor sich einen Reiter auf einer nervös tänzelnden Stute. Der Mann klammerte sich an den Hals des Tieres, das sich immer wieder aufbäumte, doch er konnte sich auf dem Pferd halten. Erst als Henry ihn rufen hörte: »Shiela, ganz ruhig!«, wusste er, dass es sich um eine Frau handelte … um eine Frau in Hosen!
War das etwa Isabella Norwood?
Der nächste Blitz offenbarte ihr helles Haar, das ihr in dicken, feuchten Strähnen auf die Schultern fiel, und ihre vor Schreck aufgerissenen Augen.
Verflucht, was suchte sie hier inmitten eines Unwetters? Noch dazu um diese Zeit? Es war beinahe dunkel!
»Halten Sie durch!«, rief er und ritt direkt auf sie zu.
Just in dem Moment schlug ein Blitz einige Meter entfernt in einen Baum ein. Der Lärm war ohrenbetäubend und die Entladung so gleißend, dass Henry in den nächsten Sekunden kaum noch etwas erkennen konnte. Funken stoben am Stamm herab und die Erde bebte. Nun scheute auch sein Hengst, und Henry versuchte, sich nicht zu verkrampfen, um dem Tier die nötige Sicherheit zu geben.
Als sich die grellen Flecken vor seinen Augen auflösten, lag Izzy mit dem Rücken auf dem Boden und rührte sich nicht mehr, während ihr Pferd davon galoppierte.
Verdammt!
Sein Herz pumpte wild darauf los und er betete, dass Izzy lebte und nicht allzu schwer verletzt war. Henry würde es nicht ertragen, wenn er ihr herzliches Lachen nie mehr hören könnte.
Als Izzy durch die Luft flog und rücklings auf dem Waldboden aufschlug, presste es ihr sämtliche Luft aus den Lungen. Außerdem tanzten Flecken vor ihren Augen, sie konnte sich nicht bewegen und glaubte, zu ersticken. Regen prasselte auf ihr Gesicht und raubte ihr zusätzlich den Atem. Sie fragte sich, ob das ihr Ende war. Ob sie nun sterben würde. Doch dann kehrte zum Glück Leben in ihre Glieder zurück und sie schnappte nach Luft.
Ihre Stute Shiela hatte sich so sehr erschrocken, dass sie Izzy abgeworfen hatte. Nun war die Süße fort, und sie lag ganz allein in der Dunkelheit! Izzy tastete feuchtes Moos unter ihren Fingern und dankte Gott, dass sie auf einem weichen Polster gelandet war. Ansonsten hätte sie den Sturz vielleicht nicht überlebt.
Plötzlich beugte sich eine düstere Gestalt über sie, und Izzy stieß einen Schrei aus. Donner knallte, Blitze durchzuckten die Finsternis – und sie blickte direkt in Henrys vernarbtes Gesicht. Wie ein Dämon wirkte er auf sie – auf seine Weise teuflisch schön und doch unsagbar gefährlich. Ihm hier ganz allein im nachtschwarzen Wald zu begegnen, war etwas völlig anderes, als sich mit ihm in einem überfüllten, kerzenerleuchteten Saal zu unterhalten.
»Izzy, ich bin es, Henry!« Er ging in die Hocke und starrte sie besorgt an, wobei er ihr behutsam über den Kopf strich. »Kannst du dich bewegen?«
»Ich denke schon«, murmelte sie, wusste aber nicht, ob er sie überhaupt hörte, denn das Unwetter tobte wie wild um sie herum. Izzy musste so schnell wie möglich nach Hause!
Henry streckte ihr den Arm hin, um ihr aufzuhelfen. Sie ergriff seine Hand, doch ihre Beine fühlten sich so weich an, dass sie gegen Henrys große Gestalt sackte.
»Hab dich«, murmelte er in ihr Ohr, und sie spürte die angenehme Wärme, die er ausstrahlte, als er sie umarmte. Außerdem roch er gut, nach Leder und Regen, Bergamotte und einem ansprechenden Duft, den sie nicht kannte. Aber er vermittelte ihr Geborgenheit, und sie fühlte sich gleich weniger ängstlich.
»Izzy, kannst du gehen?«, fragte er.
Nach und nach sickerte in ihr Gehirn, was soeben passiert war. Shiela hatte sie abgeworfen – und Henry hatte es gesehen. Wie peinlich. Sie war noch nie vom Pferd gefallen!
»Shiela!« Sie reckte den Hals, doch die Süße war nirgendwo zu sehen.
»Dein Pferd wird den Weg nach Hause finden.«
Das war ihr klar, doch Shiela sollte jetzt besser den Weg zurück zu ihr finden! Allein mit Henry im Wald zu stehen, noch dazu bei fast völliger Dunkelheit, war ihr nämlich ein bisschen unheimlich, egal wie gut er roch.
Immer noch hielt er sie an seinen Körper gedrückt. »Izzy, hast du dich schlimm verletzt?«
»Mein Kopf dreht sich ein wenig und mein Rücken tut etwas weh. Der weiche Waldboden hat wohl das Schlimmste verhindert.« Alle Geräusche schienen zu einem Rauschen zu verschmelzen, ihre Knie zitterten und sie nahm nur noch Henrys Duft und ihren eigenen, wilden Herzschlag wahr. Vielleicht hatte sie sich doch ernsthafter verletzt?
Er atmete auf, sodass sein Atem gegen ihre Lippen schlug. »Du bist ein Glückskind.«
Sein schöner Mund war dem ihren viel zu nah. Der ganze Mann war ihr viel zu nah! Hoffentlich beobachtete niemand sie zusammen, denn sie sahen aus wie Liebende, die sich heimlich trafen.
Sie musste nach Hause! Musste weg von Henry, bevor noch jemand auf die Idee kam, sie zu einer Heirat zu zwingen, bloß weil er ihr vom Boden aufgeholfen hatte.
Als sie vor ihm zurückwich und er sie losließ, hörte sie schlagartig wieder das tobende Unwetter in voller Lautstärke und spürte den Wind, der an ihrer Kleidung riss. Blätter und Zweige wirbelten durch die Luft, und der eiskalte Regen drang langsam in all ihre Poren.
Henry hielt seinen tänzelten Hengst am Zügel fest und blickte besorgt in den Himmel. »Setz dich auf mein Pferd, Izzy. Wir müssen irgendwo Schutz suchen!«
»Mein Vater wird mich umbringen, wenn ich nicht bald nach Hause komme!«
»Zuvor wird uns das Wetter umbringen! Wir sollten sofort ins Trockene und zusehen, dass uns kein Baum erschlägt. In der Nähe gibt es eine Hütte.«
»Ich muss …«
»Verdammt, Izzy, nun steig schon auf mein Pferd!« Das klang wie ein Befehl … wie der Befehl eines Captains. Doch dann setzte er sanfter hinzu: »Hab keine Angst, ich werde die Zügel nehmen. Du wirst nicht noch einmal fallen.«
Als ein weiterer, gewaltiger Donnerschlag über ihnen ertönte, versuchte Izzy sofort, auf den hohen Rücken des Tieres zu klettern. Henry drückte sie am Po nach oben, und als sie sicher im Sattel saß, ergriff er die Zügel.
Auch wenn sich das Gewitter langsam entfernte, schien der Sturm zuzunehmen. Ihr dunkler Retter eilte mit ihr und dem Pferd durch den Wald, und Izzy hoffte, dass er wirklich nur einen Unterschlupf suchen wollte und nichts Böses im Sinn hatte. Schließlich wusste sie nicht sicher, ob er vielleicht doch ein Mörder war.