Читать книгу Ein Job - Irene Dische - Страница 7
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ОглавлениеIm Winter des kurdischen Jahres 2603, also einige Jahre vor Anbruch des dritten christlichen Jahrtausends, kam Alan mit dem Flugzeug aus Frankfurt am Main nach New York City – ein Mann, der nur sich selbst und der eigenen Erbarmungslosigkeit traute. Hoffentlich mußt du nie nach New York, denn da kribbeln und krabbeln lauter Einwohner ohne Namen herum, und keiner von denen spricht richtiges Englisch wie du und ich. Als Alan in die Halle mit den Schaltern der Einreisekontrolle kam, wurde ihm seine Erniedrigung deutlich. Sie stand an allen Wänden: Plakate, auf denen ungewöhnlich schöne Menschen die allergewöhnlichsten Dinge taten, sich die Zähne putzten oder einen Hamburger aßen. Alan empfand sofort Beschämung: So jung war er nicht mehr, und er sah auch nicht mehr so gut aus. Erschöpft und unfroh erreichte er die erste Hürde, die Paßkontrolle.
Dort schenkte ihm niemand große Beachtung. Überhaupt läßt sich von Alan sagen, daß er Leuten, die ihn nicht kannten, so gut wie nie auffiel. Mit soviel Getöse wie ein Schatten ging er seiner Wege. Alles an ihm war dunkel, der steife Wollmantel und auch seine Gesichtszüge – hila hila!: immerhin waren diese Züge außerordentlich, die Augen schwarz wie feuchte Erde, und der Zweitagebart mit seinen klaren Konturen unterteilte das Gesicht eindeutig in Hell und Dunkel, Oben und Unten. Nase, Mund und Kinn waren so fein geschnitten und so gleichmäßig angeordnet wie die Grabsteine auf einem gepflegten Friedhof. Und doch blieb niemandes Aufmerksamkeit je an ihnen hängen, weil die Zurückhaltung in seiner Miene alle Neugier abgleiten ließ.
Alan kam mit fast leeren Händen nach Amerika, hatte außer einer Stange zollfreier Zigaretten in einer Plastiktüte nichts dabei. Seine Taschen waren leer, bis auf den nagelneuen deutschen Paß. Das kostbare Dokument erregte bei dem amerikanischen Beamten keine Bewunderung – nicht mal Mißtrauen. Der prüfende Blick auf das Paßfoto und das Zuklappen des grünen Büchleins waren eine einzige Bewegung, und schon knurrte der Staatsdiener: »Willkommen in den Vereinigten Staaten.« Er sah auf seine Uhr, es war bald Mittag.
Alan ging zum Ausgang, vorbei an den Gepäckbändern. Was dort vor sich ging, erfüllte ihn mit Grausen – die Gleichbehandlung, die diese Apparatur jeglicher Habe angedeihen ließ. Wie gut, daß er gar nicht in die Versuchung hatte geraten können, seinen Ziegenlederkoffer mit dem Innenfutter aus roter Seide der Demokratie auszusetzen. Als sich die Tür zur Ankunftshalle öffnete, sah er hinter einer Absperrung eine Menschenmenge in seine Richtung starren. Doch im Unterschied zu den Menschenmengen, mit denen er es in letzter Zeit zu tun gehabt hatte, ignorierte ihn diese hier. Er ging weiter.
Ein paar Männer lösten sich aus dem Gedränge und kamen auf ihn zu. Einer sprach ihn auf Kurdisch an: »Hallo. Hier lang.« Mehrere durch die Skijacken aufgedunsen wirkende Körper umringten ihn, lotsten ihn nach draußen, in die Kälte. Keiner sagte etwas, aber schlenkernde Arme und ausholende Schritte nahmen ihn mit sich fort. Ein gelber Wagen wartete am Straßenrand. Geräumig, aber ordinär. Die hintere Tür klappte auf. Alan zwängte sich hinein, stellte seine Tüte mit den Zigaretten auf das häßliche Sitzpolster und saß nun also wieder, wie fast immer in den letzten Tagen. Er mochte diese Haltung nicht – für ihn bedeutete Sitzen Langeweile und Beengung. Einer seiner neuen Gefährten setzte sich neben ihn auf die Rückbank und hielt ihm eine türkische Zeitung vor die Nase – auf der Titelseite war ein Foto, es zeigte den »Schwarzen Stein«.
Alan war kein besonders geübter Leser. Er las den Artikel laut, mit ausdrucksloser Stimme und blickte dabei immer wieder auf das Foto. Es ging darum, daß der berüchtigte Killer »Schwarzer Stein« mit einem waghalsigen Manöver aus dem Zentralgefängnis von Istanbul ausgebrochen war, nachdem ihn kurz zuvor ein türkisches Gericht wegen Mordes an einem türkischen Geschäftsmann zu lebenslanger Haft verurteilt hatte.
»Über deine Presse kannst du dich jedenfalls nicht beklagen!« sagte sein Nachbar, während der Fahrer den Wagen anließ und losfuhr.
»Das ist ein altes Fotos, ein neueres haben sie nie bekommen«, sagte Alan und fügte säuerlich hinzu: »Damals hatte ich noch Haare auf dem Kopf!«
»Und dieser tolle Schnurrbart! Neue Haare kannst du dir hier in Amerika besorgen. Für Geld gibt es hier alles«, sagte sein Nachbar und schälte sich aus seinem Parka. Darunter kam ein zweireihiger Nadelstreifenanzug aus Dormeuil zum Vorschein. Ein Knopf am Ärmel war nicht geschlossen, so daß ein handgenähtes Knopfloch sichtbar blieb. Er wechselte mühelos zwischen Englisch, das er mit den anderen sprach, und Kurmanci – dem Kurdisch, das Alan sprach. »In Amerika kann man auch Geld verdienen, wenn man sich anstrengt. Und du hast Glück. Wir haben Arbeit für dich. Du bekommst deine Chance. Diese eine Chance. Machst du es gut, bist du ein freier Mann. Läuft was schief, gehst du zurück nach Istanbul, und da foltern sie dich zu Tode. Wir brauchten jemand Besonderen für diesen Job. Und du bist doch was Besonderes.« Der Wagen schob sich in den vorbeiflutenden Verkehr. »Ich hab den anderen gesagt, es würde Spaß machen, dir bei der Arbeit zuzusehen. Hab ich da etwa zuviel versprochen?« Alan zuckte mit den Achseln. Sein Nachbar schenkte ihm das Raubtierlächeln des Menschheitsbeglückers und sagte: »Wir lassen dir ein paar Tage Zeit, damit du dich zurechtfindest. Wenn du dich am Anfang komisch fühlst – mach dir nichts draus! Das ist der Jetlag. Und jetzt sieh dich ruhig ein bißchen um. Wir sind hier im Land der freien Menschen.« Er deutete nach draußen, wo die düsteren Straßen von Queens vorüberglitten.
»Gehört alles dir«, fuhr er fort. »Dazu ein Apartment in einem angenehmen Viertel. Ein amerikanischer Paß. Und jede Menge Freiheit. Später kannst du machen, was du willst. Kommt dich nicht teuer zu stehen. Übrigens, ich heiße Mr. Ballinger. Freut mich, dich endlich kennenzulernen. Darf ich dir den Fahrer vorstellen und meinen anderen Freund hier vorn – mit ihren Namen will ich dich nicht behelligen. Mit diesen beiden wirst du ohnehin nicht viel zu tun haben, jedenfalls nicht so viel wie mit mir.«
»Worum geht es?« fragte Alan und warf Mr. Ballinger einen messerspitzen Blick zu. Den Amerikaner brachte das nicht aus der Ruhe.
»Ein Auftrag, reine Routine. Nichts, was du nicht schon gemacht hast.«
»Ich spreche kein Wort Englisch, das wissen Sie doch, oder?«
»Aber selbstverständlich. Wir wissen alles über dich – canê.«
Canê bedeutet auf kurdisch »Liebling«. Alan fühlte sich durch diese vertrauliche Art beleidigt. Aber er war unbewaffnet und durfte sich deshalb nichts anmerken lassen.
»Wie soll ich eigentlich heißen?« fragte er und fand seine Fassung in der Geduld wieder, die sein kaltes Herz umwucherte.
Auf der Straße bemerkte er ähnliche gelbe Wagen, in denen hinten Fahrgäste saßen.
»So wie jetzt«, antwortete Mr. Ballinger. »Alan. Mem Alan war der König der Kurden, nicht wahr? Aber Alan ist auch ein guter amerikanischer Name. Mit Nachnamen heißt du Korkunç. Geboren in Ankara. Du hast einen Abschluß in Verwaltungswissenschaft an der Universität Ankara gemacht und arbeitest in der Textilindustrie. Deinen deutschen Paß gibst du besser mir, der kann dich nur in Schwierigkeiten bringen.«
Alan rückte ihn widerstrebend heraus.
»Wir bringen dich jetzt zu einem Apartment. Es liegt von deinem Job ziemlich weit entfernt, aber du wirst das mit dem Autofahren hier schon hinkriegen. Ich habe eine Schwäche für das Viertel, und die Aussicht von diesem Apartment ist einfach herrlich. Der Wagen hier gehört dir, bis du die Sache erledigt hast.«
»Dieser Wagen …?« protestierte Alan. »Das ist ein Taxi!« Ein Chevy – mit billigen Bezügen auf den Sitzen und einem Armaturenbrett aus Plastik. Er hatte immer nur Mercedes gefahren.
»Na klar«, sagte Mr. Ballinger. »In New York fahren Leute, die kein Englisch können, Taxi.«
Er beugte sich nach vorn zu den anderen und sagte etwas. Alan hörte ihr schallendes Gelächter. Dieses Gefühl der Isolation, wenn andere lachen und man selbst nicht versteht worüber. »Ich habe ihnen gesagt, daß zumindest dein Führerschein echt ist«, erklärte Mr. Ballinger. »Was unser Fahrer hier von seinem nicht behaupten kann. Und daß du drei Mercedes gehabt hast, einer davon ein Jeep.«
»Ihr Kurdisch ist ausgezeichnet«, sagte Alan. »Aber Kurde sind Sie nicht.«
»Absolut nicht. Ein bißchen jüdisches Blut«, sagte Mr. Ballinger, öffnete die Augen weit – streunende Pupillen vor blauem Hintergrund – und schob die Lippen nach vorn: Stolz. New York ist voll von Typen, deren Gesichter nur dazu da sind, die verschiedensten Gefühle auszustellen, die den Betrachter beeindrucken sollen. Dieser Mr. Ballinger war daran gewöhnt, anderen Leuten zu sagen, wo es langgeht. Sogar die Sachen, die er anhatte, gehorchten ihm. Normalerweise ist es ja umgekehrt: die Leute lassen zu, daß die Kleider mit ihnen machen, was sie – die Kleider – wollen. Mr. Ballingers Anzug dagegen zierte den Körper seines Herrn mit größter Ehrerbietung und war ganz darauf bedacht, sich nützlich zu machen. Selbst sein blondes Haar hatte ihn nicht im Stich gelassen; es war zwar verblaßt, aber immer noch unverschämt dicht. Mr. Ballinger mischte dem Stolz, den er ausstrahlte, einen Anflug von Traurigkeit bei, als er jetzt seinen dröhnenden Bariton senkte: »Homosexuell. Außenseiter. Und meine Großtante ist sogar in einem KZ umgekommen. Deshalb verstehe ich die Kurden. Ich spreche alle vier kurdischen Sprachen. Eigentlich brauchst du über mich nichts zu wissen, aber ich erzähl dir trotzdem was – für Sprachen habe ich eine Begabung. Und vor kurzem bin ich sogar in den Sentinel Club aufgenommen worden.«
Alan sah ihn nicht an und antwortete nichts. Manche Menschen können ihre Abneigung gegen jemanden richtig auskosten – Alan nicht. Er hätte so ziemlich alles dafür getan, dieser Empfindung aus dem Weg zu gehen.
Die Nachmittagssonne legte sich für den Neuankömmling richtig ins Zeug. Während das Taxi einen Highway entlangglitt, sah Alan nach links aus dem Fenster und beobachtete, wie die Feuerkugel langsam hinter dem grauen Schlackenhaufen der Stadt versank. Er kam zu dem Schluß, daß der Wagen nach Norden fuhr – an einer leeren Wasserrinne entlang, die die anderen Fahrgäste East River nannten. Er nahm diese Information mit einem ähnlichen Interesse auf, wie es ein Mann in der Wildnis seinem Kompaß entgegenbringt. Der Wagen verließ den Highway, fuhr zuerst in westlicher Richtung und dann nach Süden, auf einer Straße mit grellbunten Geschäften und Schaufenstern, auf der es von englisch sprechenden Leuten nur so zu wimmeln schien. »Schon mal vom Broadway gehört?« fragte Mr. Ballinger. »Das ist er. Wenn du hier mit jemandem reden willst, kannst du Englisch vergessen, lern lieber Spanisch.«
Das Taxi verlangsamte seine Fahrt auf einer kleinen Straße, von der man auf einen anderen Fluß blickte, so breit wie der Bosporus. Die Sonne sah aus, als wäre sie ins Wasser gestürzt und auseinandergebrochen und als würde sie nun das Wasser dunkelrot färben. Das gleiche machte sie jeden Tag in Istanbul – fauler Zauber. Das Taxi fuhr in eine Tiefgarage, kurvte abwärts und parkte auf einem Platz, der mit einem weißen Schild markiert war: »Reserviert, Nr. 45«.
»Für einen Parkplatz bringen sich die Leute hier gegenseitig um«, warnte Mr. Ballinger. Seine Kumpel vorn machten besorgte Gesichter und fingen an, aufgeregt miteinander zu reden. Amüsiert lauschte Alan den weichen Silben. Gespräche hatte er noch nie wichtig genommen. Deshalb war es ihm egal, wenn er nichts verstand. »Crime!« sagte einer von ihnen mit Predigerstimme, während er aus dem Wagen stieg. Er wiederholte das Wort mehrere Male, dann griffen es auch die beiden anderen auf. Schließlich schnauzte Mr. Ballinger dazwischen: »Maul halten!«, worauf sie verdattert schwiegen. Er beruhigte sich und sprach leiser weiter. »Alan, vergiß deine Nummer nicht: 45. Wie dein Alter. Letztes Jahr mußte ich jemanden entlassen, weil er ständig auf dem falschen Platz parkte.«
Sie gingen zu einem Aufzug, aber Alan sträubte sich. Aufzügen mißtraute er. Sie konnten ihn gefangennehmen. »Gehen wir lieber zu Fuß«, meinte er. Mr. Ballinger übersetzte – zum Vergnügen der anderen. Aber sie taten Alan den Gefallen und nahmen die Betontreppe. Bald standen sie auf einer sauberen kleinen Straße, die von roten, mit Feuerleitern behängten Backsteinhäusern gesäumt war. Die Straßenlampen brannten schon, aber die Abstände zwischen ihnen waren so groß, daß sie die Düsternis kaum erhellten, die von Osten herübersickerte – aus der Türkei, wo die Düsternis herkommt. Mr. Ballinger blieb stehen, streckte einen Arm aus und erklärte: »Hier ist dein Zuhause. Probier das mal auf englisch: home, home.« Sein Mund formte ein »O« und machte einen langen Ton daraus.
Zuhause war ein sauberer, sechsstöckiger Backsteinbau. Zuhause lag in der obersten Etage, und wer Angst vor Aufzügen hatte, konnte sich abregen – es gab nämlich keinen. Die Bewohner mußten die Treppe benutzen, auf der sich ihre Schritte anhörten wie trockener Reizhusten. Zuhause war ein einziges Zimmer mit einer Liege und einem schwarzglänzenden Plastiknachttischchen, abgetretenem Parkett und kahlen Wänden, auf denen die Zeit ein Netz aus Rissen gesponnen hatte. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke. Vor dem Fenster war ein schwarzes Gitter angebracht, zum Schutz vor Einbrechern. Zuhause hatte eine fensterlose Küche mit einem größeren schwarzglänzenden Plastiktisch, einem dazu passenden Stuhl, einem Herd und einem bibbernden Kühlschrank. Mit einer Handbewegung lud Mr. Ballinger den neuen Bewohner ein, auf dem Küchenstuhl Platz zu nehmen. Alan setzte sich, während die anderen in der Tür stehenblieben. Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Plastiktüte, zündete eine an und entspannte sich. Er paffte, statt zu inhalieren, und die Küche füllte sich mit Dunst.
Mr. Ballinger warf eine pralle Brieftasche auf den Tisch, außerdem zwei Schlüsselbunde, einen Zettel mit einer Telefonnummer, einen Plan von Manhattan, auf dessen Rand ein Name und eine Adresse gekritzelt waren, und ein großes Foto.
»Sieh dir das Foto genau an. Du kümmerst dich bloß um die Leute auf diesem Foto, nicht um Mr. Erkal, der auch bei ihnen herumhängt. Süleyman Erkal. Du weißt doch, wer das ist? Ex-Gouverneur von Kurdistan. Deine Gegend. Als Kind wirst du ihn gehaßt haben. Aber jetzt bist du ein erwachsener Mann. Ein Profi. Also, Hände weg von ihm. Du nimmst dir die anderen vor. Hier steht ihre Adresse. Heute ist Sonntag. Morgen besorgen wir dir das nötige Werkzeug. Am Freitagnachmittag fliegt Süleyman übers Wochenende nach Istanbul. Und jetzt hör genau zu. Du hast fünf Tage Zeit, um alles vorzubereiten, dann erledigst du deine Aufgabe und verschwindest. Keine Faxen, du arbeitest diese Woche durch. Du wirst sehen, in Amerika macht den Leuten das Arbeiten Spaß. Weil sie besser sein wollen als ihre Nachbarn, jawohl.«
Alan hockte rauchend auf seinem Küchenstuhl und hörte sich Mr. Ballingers Vortrag mit geschlossenen Augen an. Jetzt ließ er die Augenlider langsam aufklappen.
Mr. Ballinger zischte: »Paß auf, wenn ich mit dir rede!« Alan sah ihn uninteressiert an, Mr. Ballinger schien besänftigt und fuhr in leiserem, aber immer noch sehr entschiedenem Ton fort: »Am Freitagnachmittag holt ein Wagen Süleyman bei seinem Haus ab. Das ist dein Zeichen: Du gehst rein, mit diesem Schlüssel hier, und nimmst sie dir vor – alle, die du findest. Wie du es machst, bleibt dir überlassen. Was wir sehen wollen, sind die Ohren, als Beweis. Du lieferst sie uns zusammen mit den Wagenschlüsseln. Ansonsten läßt du alles, wie es ist – es soll für Süleyman eine Überraschung werden, wenn er am Montag zurückkommt. Und paß auf, daß du nichts verwechselst! Ihm selbst soll kein Haar gekrümmt werden, verstehst du? Nichts. Wir brauchen ihn. Aber ohne seinen Größenwahn. Wir müssen ihn da ein bißchen herunterholen. Und diese Leute auf dem Bild, die sind sein Rückhalt – ohne die wird er das Maul nicht mehr so aufreißen.« Besonders neugierig war Alan nie gewesen. Er sah sich das Foto gar nicht an.
»Kein Problem«, sagte er zu Mr. Ballinger.
»In dem Haus gibt es eine Alarmanlage. Der Code ist 1923 – das Geburtsjahr eurer Republik. Etwas Besseres ist ihnen nicht eingefallen. Nimm das Taxi und den Plan, um hinzukommen«, sagte Mr. Ballinger. »Ach ja, und hier im Haus heißt noch jemand so wie du – Allen –, aber das braucht dich nicht zu stören. Du kümmerst dich um niemanden.«
»Noch ein Alan?« fragte er mißtrauisch.
»Genau. Aber kein Kurdenkönig, wie du einer bist. – Das hier ist unser Gästeapartment. Ich komme gern ab und zu hierher, denn das ist nicht ungefährlich. Gegen Routine muß man in jedem Beruf was tun. Du kommst hier schon klar, für die paar Tage. Wenn du den Job erledigt hast, bringen wir dich woanders unter. Und nicht vergessen, du bist Einzelgänger. Wir wollen keinen Ärger mit irgendwelchen Randfiguren. Keine Freunde, keine Flittchen, nichts. Du wirst mit mir vorliebnehmen müssen. Ich rufe dich gelegentlich an. Oder komme vorbei, wenn es zu lange dauert. Hier hast du ein Telefon. Wenn du mich sprechen willst, drückst du diesen Knopf. Kannst du dir das merken? Wenn du das Telefon aufladen mußt, nimmst du das hier – ach, du weißt, wie das geht?«
Alan nickte begeistert. »Ich habe selbst eins, in Istanbul.«
»Du hattest eins«, berichtigte ihn Mr. Ballinger. »Wenn es klingelt, geh ran. Das bin dann ich, sonst niemand. Wir wollen, daß du jederzeit erreichbar bist. Also nimm das Telefon überallhin mit, auch aufs Klo, canê!«
Dann starrten sie ihn der Reihe nach durchdringend an, machten einer nach dem anderen kehrt und verließen die Küche. Alan hörte, wie die Wohnungstür leise hinter ihnen ins Schloß fiel, und danach ihre Schritte im Gang, wie ferner Beifall.
Später ging Alan in sein Schlafzimmer und setzte sich auf die Liege. Die Federn knarrten in der gleichen Sprache wie seine Gefängnispritsche in Istanbul. Er verlagerte sein Gewicht, um sie noch einmal zu hören. Niemand sah ihm zu, und es machte Spaß. Bald hopste er wie wild, so hoch er konnte. Dann hörte er auf und vertiefte sich in die eigene Reglosigkeit. Er seufzte so laut, daß es sogar die deprimierten Gefängniswärter in seiner Heimat mitbekommen mußten, die jetzt für ihre Fahrlässigkeit bestraft wurden. Ihm taten die Füße weh, und das kann auch der stärkste Mann nicht lange ignorieren. Er beugte sich nach vorn und zog die Schuhe aus, sein Lieblingspaar. Er trug auch noch die gelben Socken von Joop, die er sich gewünscht und die ein Bewunderer in den Gerichtssaal geschmuggelt hatte. Bei der Urteilsverkündung hatte er sie getragen. Er betrachtete die Socken. Andere hatte er nicht. Er seufzte noch einmal, und es klang wie ein Lied – Schwermut will singen. Er streckte sich auf dem Bett aus und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Es wurde dunkel, und die Kakerlaken kamen zum Spielen heraus.
Als blinder Mann wachte er wieder auf und fragte die Wände: »Wo haben die Amerikaner ihre Lichtschalter?« Die Wände lotsten ihn in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, und aus dem Inneren sickerte schwaches, segensreiches Licht in die Finsternis ringsumher. Eine Schnur hing von der Decke. Er zog daran, und über ihm flammte die Glühbirne auf. Die Kakerlaken verdrückten sich. Er sah ihnen ohne Bosheit zu. Er rieb sich die trockenen Augen und überlegte, ob sie womöglich verquollen aussahen. Der Stoppelbart war außer Kontrolle geraten. Ausnahmsweise war Alan froh darüber, daß es in der Wohnung keine Spiegel gab. Er nahm Milch, Butter und eine Packung Schnittbrot aus dem Eisschrank, riß den Milchkarton auf, setzte ihn an den Mund und trank, während er mit der anderen Hand die Brotpackung zu öffnen versuchte. Er stopfte sich eine Scheibe in den Mund. Während er aß, fiel sein Blick auf das Foto, das auf dem Tisch liegengeblieben war. Es zeigte zwei kleine Mädchen, ungefähr fünf und sieben Jahre alt, die von einer jungen Frau, offenbar ihrer Mutter, umarmt wurden.
Er war immerhin so überrascht, daß er einen Moment lang aufhörte zu kauen und aufstand. So geriet er in die Reichweite eines Schranks, öffnete ihn und fand darin Plastikteller, Plastikbesteck und Styroporbecher. Nun deckte er den Tisch, setzte sich wieder, goß Milch in den Becher und versuchte, das Brot mit Butter zu bestreichen. Amerikanisches Brot jedoch kann den stärksten Mann zur Verzweiflung bringen. Es ging in Fetzen, als Alan mit dem Plastikmesser darauf herumfuhr. Schließlich gab er auf, biß direkt in die Butter, dann in das Brot und ließ es sich schmecken.
Wenn man gut geschlafen hat, soll man eine Kleinigkeit essen, und wenn diese Kleinigkeit gut geschmeckt hat, soll man ein bißchen laufen, und danach vielleicht wieder eine Kleinigkeit essen und dann noch ein Weilchen schlafen – so lebt es sich gut. Das fand auch Alan, und deshalb war es jetzt Zeit, ein bißchen spazierenzugehen, egal, wie spät es war. Die Dunkelheit war ihm eine vertraute Landschaft und die Nacht sein wahres Zuhause. Er genoß das selbstbewußte Geräusch seiner Schritte auf dem Gehsteig; hila hila, es war ihm gelungen, seine geliebten Schuhe, ungarische Handarbeit, während der ganzen Haftzeit anzubehalten. Trotzdem hätte er gern ein zweites Paar gehabt.
Er bog um eine Ecke und stand plötzlich auf der Hauptstraße, diesem Broadway. Die Nacht war windstill, und der Müll lag knöchelhoch. Er fühlte sich wohl. Istanbul war genauso schmutzig und genauso träge. Bestimmt gab es Viertel, die sauberer waren. Wenn er seinen Job erledigt hatte, würde er in so ein Viertel ziehen. Er würde hier reich werden und würde bei den Leuten beliebt sein – genau wie in der Türkei. Würde, würde, würde. Wie tröstlich die Zukunftsform sein konnte. Plötzlich stand er in einem See von Licht, das aus einer Konditorei auf die Straße fiel. Direkt am Fenster standen Sitzbänke und Tische, und er konnte die Gäste wie auf einer beleuchteten Bühne sehen. Sie mampften und schlürften. Alan griff in die Hosentasche und streichelte seine Brieftasche. Doch der Eingang war versperrt.
Ein Mantel stand da, dessen Saum zwei Hosenbeine mit Bügelfalte umspielte. Aus der Entfernung sah der Mantel wie ein Brioni aus. Nirgendwo sichtbare Nähte. Aber als Alan seinen Blick auf die Schuhe richtete, gerieten seine Mutmaßungen ins Wanken. Ein eklatanter Stilbruch. Der Mann hatte einen Hund dabei. Alan verabscheute Hunde, sowohl aus beruflichen als auch aus ästhetischen Gründen, und von anderen Leuten erwartete er das gleiche. Dieser elegante Herr jedoch widmete seine ganze Aufmerksamkeit einem kleinen weißen Terrier, der gleich neben diesem erstaunlichen Hosenbein auf dem Bürgersteig hockte. Der Hund verrichtete offenbar sein Geschäft, stellte sich dabei jedoch nicht besonders geschickt an. Sein Besitzer überwachte den Vorgang mit besorgter Miene. Sanft und eindringlich sprach er auf den Hund ein. Plötzlich unterbrach er seinen Monolog und hielt den Atem an. Schließlich seufzte er laut und sagte immer wieder »Gutahund!«
Während sich der Hund umdrehte und zufrieden an den Früchten seiner Mühsal schnüffelte, wurde das Verhalten des Mannes immer bizarrer: Er streifte einen Plastikhandschuh über, als wollte er keine Fingerabdrücke hinterlassen, und ging neben dem Haufen in die Hocke. Mit der anderen Hand schüttelte er eine Plastiktüte auf. Er schob den Haufen mit der Handschuhhand hinein, sah sich die braune Schmiere noch einmal an, murmelte wieder »Gutahund« und marschierte dann zu einem Abfalleimer, wo er sie mit der gleichen Mischung aus Widerstreben und Respekt deponierte, mit der eine Hausfrau verwelkte Blumen wegwirft.
Alan zögerte nicht: Er versetzte dem Hund einen kurzen, boshaften Tritt in die Rippen. Ein Blitzschlag traf ihn deshalb nicht. Keinerlei Anzeichen dafür, daß irgendein Gott etwas mitbekommen hatte. Selbst der Hundebesitzer witterte kein Unheil. Er stand über den Müll gebeugt. Der Hund jaulte und wich so weit zurück, wie die Leine es zuließ, aber sein Besitzer konzentrierte sich noch immer auf den Mülleimer. Da der Weg nun nicht mehr versperrt war, betrat Alan die Konditorei.
Im Kino hatte er solche Läden schon gesehen – Plastikmöbel und sauberes Linoleum. Aber mit diesem Duft hatte er nicht gerechnet – frischer Kuchen. Eine Kellnerin in Weiß stützte sich auf die Theke und starrte mit gesenktem Kopf in ein Buch mit einem Bild auf dem Hochglanzumschlag. Vergnügt stellte ihr neuer Kunde fest, daß sie nicht zu mager war. Neue Ausblicke waren ihm immer recht. Auf einer Brosche an ihrem Aufschlag stand »Pat«. Alan schlenderte zu ihr hinüber und starrte dabei auf ihre memik, um ihr zu zeigen, wie sehr sie ihm gefielen. Pat richtete sich auf und ließ das Buch sinken. Er geriet in Verwirrung. Aus der Nähe hatte er so ein Gesicht noch nie gesehen. Sie kam aus Afrika. Eine Kannibalin. Yam-yam. Schließlich sprach er sie in der Sprache an, die er kannte.
»Kahve.«
Sie antwortete – mit Geplapper.
»Okay«, sagte er gleichgültig, ohne etwas zu verstehen. Frauen redeten viel. Er hatte furchtbare Geschichten über afrikanische Sitten und Gebräuche gehört, aber er hatte auch Fotos gesehen, von nackten afrikanischen Frauen mit den allerschönsten Klementinen. Diese hier steckten offenbar in Körbchen, die bestimmt auch mit Spitzen verziert waren. Er überlegte, wie wohl die serimemekin in der Mitte aussahen. Wahrscheinlich wie kurze, harte Stiele und ganz schwarz. Er war sich nicht sicher, ob er sie wirklich in die Hand nehmen wollte, aber sehen wollte er sie auf jeden Fall. Und die duftenden Haarbüschel in ihren Achselhöhlen. Sie redete noch immer, anscheinend wollte sie etwas wissen. »Okay, okay«, wiederholte er und hoffte, sie würde sich umdrehen, damit er ihr Übriges betrachten konnte. Aber ihre Stimme wurde eindringlicher. Sie mußte beruhigt werden.
Er zeigte die Zähne: lächelte. Sie füllte einen Becher mit Sahne, goß ein bißchen Kaffee dazu und schob ihn zu ihm hinüber. Er zeigte auf etwas. »Donut?« fragte sie.
»Do-nut«, antwortete er. Sein zweites englisches Wort. Sie nahm einen Marmeladen-Donut und redete weiter.
Alan zog seine Brieftasche heraus und nahm einen Schein mit einer Hundert darauf heraus. Er hoffte, es würde genügen.
Der Schein schien sie zu ärgern. Er sah ihr ins Gesicht – ein Körperteil, dem er sonst wenig Beachtung schenkte. Die weiche, rosa Innenseite ihrer dunklen Oberlippe erregte sein Interesse. Die Nase war breit, aber niedlich. Sie faltete den Geldschein auseinander und hielt ihn gegen das Licht. Der Donut lag auf der Theke. Er wußte, daß er ihn nicht nehmen durfte, solange sie sich nicht über den Preis geeinigt hatten. Er dachte nicht mehr an sie. Er spürte, wie sehr seine Hoffnungen in den Händen dieser fremden Frau gefährdet waren. Der Duft eines frischen Donut kann den stärksten Mann in ein winselndes Hündchen verwandeln.
Sie hielt den Schein hoch, damit alle ihn sehen konnten, wedelte damit herum und rief ihnen etwas zu. Er hatte keine Ahnung, warum. Die anderen Gäste hoben die Köpfe, stierten nach dem Schein. Manche von ihnen sahen seltsam aus – sie waren dicker, als Alan es für möglich gehalten hätte. Noch nie hatte er so dicke Menschen gesehen. Nicht mal der dicke Mann im Vergnügungspark von Ankara war annähernd so dick, und der konnte von seinem Dicksein leben. Die Dicken hier warfen Alan neugierige Blicke zu. Unfreundlich sahen sie nicht aus, im Gegenteil, alle lächelten, während sie mit den Achseln zuckten oder die Köpfe schüttelten. Die Kellnerin gab ihm den Schein zurück und murmelte etwas. Er wollte schon gehen, da rief sie: »He, Mister!« Als er sich umsah, hielt sie ihm den Teller mit dem Donut und die Tasse Kaffee hin und redete sehr schnell. Er nahm ihr Angebot an und nickte, womit er würdevolles, aber nicht dankbares Einverständnis signalisieren wollte. Was sie zu ihm sagte, verstand er nicht: »Bezahlen Sie das beim nächsten Mal. Sonst werden Sie in der Hölle brennen.«
Er setzte sich in eine der Nischen und untersuchte den Donut, ehe er sich getraute, hineinzubeißen. Vorsicht war tatsächlich geboten – rote Marmelade spritzte ihm auf den Schoß. Es erinnerte ihn an einen Job, bei dem er in Istanbul mal dabei gewesen war. Er riß den Mund so weit auf, wie er konnte, und stopfte sich das, was von dem Donut noch da war, hinein. Erstickungsangst wich hellstem Entzücken. Die anderen Gäste sahen ihm interessiert zu. Viele von ihnen hatten ebenfalls Marmeladenflecken auf den Kleidern.
Alan sagte sich: Hättest du langsamer gegessen, würdest du noch immer essen. Gierig zündete er sich eine Zigarette an.
Im nächsten Augenblick stand die Kellnerin neben ihm. Er freute sich. Er glaubte, er habe sie angelockt. Aus der Leere ihres Gesichts drang eine laute Stimme hervor.
»Okay«, erwiderte er, nahm einen tiefen Zug und zwinkerte ihr zu. Mit diesem Zwinkern hatte er in Istanbul so manche Freundschaft angebahnt. Ihr Arm fuhr in die Höhe. Ein dunkler Finger mit heller Unterseite zeigte auf ein Rauchen-Verboten-Schild, und er hörte, wie sie zischte: »Şmuk.«
Er wußte nicht, was das sollte. Er starrte auf ihren Mund und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein Zittern lief durch ihren Körper, während sie seufzte. Ein Arm schob sich langsam in seine Richtung, bis eine kleine Hand die zwischen seinen Zähnen klemmende Zigarette erreicht hatte. Er spürte, wie die Zigarette aus seinem Mund glitt, und sah aus dem Augenwinkel, wie sie in seinem Kaffee unterging.
Alan blieb trotzdem ruhig. Er stand auf und ging zur Tür, froh, daß keine Zeugen aus der Türkei anwesend waren. Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, wie Pat hinter der Theke ihr Buch mit dem glänzenden Umschlag wieder aufschlug.
Alans Eindruck von der ersten Frau, die er in Amerika kennengelernt hatte, war ganz von den Peinlichkeiten geprägt, die sie ihm beschert hatte. Die Kränkung war so ungeheuerlich, so schwindelerregend, daß er gar nicht wußte, wie er ihr eine Lehre hätte erteilen können. Also kehrte er in die Dunkelheit zurück. Lange konnte er seine Einsamkeit jedoch nicht genießen, denn bald bemerkte er hinter sich Schritte, die sich den seinen anpaßten. Weiche, schlurfende Schritte. Er ging langsamer und lauschte. Die Schritte wurden ebenfalls langsamer. Sein Puls schlug höher. In einer Stadt, die man nicht kennt, von böswilligen Fremden verfolgt zu werden, ist nicht das gleiche wie in einer Stadt, wo man sich auskennt. Aber in New York ist es noch mal etwas anderes – egal, ob man sich auskennt oder nicht. Hoffentlich mußt du da nie hin. Keine Stadt ist so unheimlich wie New York. Über Los Angeles oder Las Vegas oder Chicago dehnt sich ein schöner, weiter Himmel. Und unter dem Beton wogen dort goldene Kornfelder. Aber New York ist wie ein poröser Betonblock, in dem es überall von Menschen wimmelt – und wenn man den Block an einer Ecke anhebt, findet man darunter noch mehr Beton. Über New York gibt es keine Luft und darunter keine Erde, sondern nur Beton bis zum Mittelpunkt der Erdkugel. Und in Alans erster New Yorker Nacht lauerte die Dunkelheit um ihn herum wie ein Ungeheuer; jemand folgte ihm.
Seinem Verfolger entkommen zu wollen oder ihn zur Rede zu stellen, schien ihm zwecklos. Statt dessen wurde er passiv. Er ging nach Hause, warf die Haustür hinter sich zu und durchquerte mit raschen Schritten die Eingangshalle. Eben hatte er die Treppe erreicht, da hörte er, wie die Haustür sich wieder öffnete und wieder schloß, und dann Schritte. Er begann die Stufen hinaufzusteigen. Im Treppenhaus heulte der Wind – »Wer?« und »Warum?« Nun waren auch die Schritte bei der Treppe und stiegen ihm nach. Als Alan den sechsten Stock erreicht hatte, drückte er sich im Gang an die Wand und wartete. Bald erreichte auch sein Verfolger den sechsten Stock und betrat den Flur.
In Alans Beruf ist es keine Seltenheit, daß man verfolgt wird. Jeder Job hat seine Schattenseiten. Wie ein Arzt, der sich bei seinen Patienten leicht einen Schnupfen holen kann, regte sich Alan über gefährliche Situationen nicht auf, sondern begegnete ihnen mit Würde. Er machte sich auf einen Kampf mit den bloßen Händen gefaßt.
Doch dann sah Alan den falan-filan, der ihm den ganzen Broadway entlang bis in diesen dunklen Flur nachgestiefelt war, plötzlich in einer Haltung vor sich, die von einem jämmerlichen Mangel an Umsicht zeugte – Alans Tür zugewandt, mit dem Rücken zum Feind. Ein Amateur. Er legte ein Ohr an die Tür und lauschte eine Zeitlang. Dann richtete er sich wieder auf und seufzte – ein langgezogenes »F«, gefolgt von einem Klicken. Alan verstand – fakabasti! Es war auch ein Lieblingswort von ihm, ein Ausruf, der von einem Erfolg kündete, so triumphierend wie beim Schach das »Matt!«. Aber was wollte dieser Sohn eines Esels sagen, wenn er hier vor Alans Wohnung fakabasti wieherte? Schließlich machte er kehrt und stapfte die Treppe wieder hinunter, ohne auch nur die elementarsten Gebote der Vorsicht zu beachten. Amerika! Alan wartete, bis es im Treppenhaus wieder still geworden war, und betrat dann seine Wohnung.
Drinnen wartete dieser Riese auf ihn – die Einsamkeit. Alan bekämpfte ihn mit Hausarbeit. Er zog seine Hose aus und säuberte sie mit heißem Wasser – Seife war nicht da. Durch heftiges Scheuern mit den Fingerknöcheln brachte er die Marmeladenflecken zum Verschwinden. Er hängte die tropfende Hose über einen Heizkörper und wanderte dann in seiner langen Unterhose durch die Wohnung. Er öffnete das Fenster. Wie sich zeigte, hatten die Gitter, die gegen Einbrecher schützen sollten, roher Gewalt wenig entgegenzusetzen – er riß sie ab und warf sie nach unten. Aber statt in einem Abgrund zu verschwinden, blieben sie vor seinem Fenster liegen. Da erst sah Alan, daß zu seiner Wohnung ein kleiner Metallbalkon gehörte. Er kroch durch das Fenster nach draußen und hockte sich dort, auf der Feuerleiter, in die Dunkelheit. In Istanbul war es jetzt hell. Von Rechts wegen müßte er um diese Zeit sein erstes Frühstück zu sich nehmen, Oliven, Käse und starker Kaffee, ehe er sich in die Toilette zurückzog, wo die Sonne den rosaroten Marmor zum Leuchten brachte. Doch ein dummer Fehler hatte ihn um sein Recht auf ein Leben in Istanbul gebracht. Die Kälte, seine alte Freundin, tröstete ihn, fuhr ihm mit ihren Fingern durch das Haar, strich an den Ohren, den Schenkeln entlang und schlang sich ihm um die Füße. Vom Hocken wurde Alan immer schläfrig. Er sank in einen Halbschlaf. Einmal ging ein Licht an – hinter einem Fenster, das nur wenige Meter entfernt war – und nun sah Alan, daß er hoch über einem Hinterhof saß. In der Wohnung gegenüber ging ein alter Mann aufs Klo. Als er fertig war, erlosch das Licht. Viel später klingelte Alans Telefon. Eine Zeitlang hörte er es sich an, dann kletterte er durch das Fenster zurück.
Es war Mr. Ballinger. »Wollte nur hören, wie du zurechtkommst.«
Alan sah auf seine Uhr. Halb vier.
»Danke, gut.«
»War ein langer Abend im Club. Ich habe mir überlegt, ich nehme dich mal mit. Du könntest da ein paar einflußreiche Leute kennenlernen. Hättest du Lust? Für mich ist es riskant, wenn man mich mit dir sieht, aber ich liebe die Gefahr. Im Grunde meines Herzens bin ich ein Spieler. Und ein guter Gastgeber dazu.«
Als Alan nichts erwiderte, sagte er: »Also dann, gute Nacht!«
Wortlos schaltete Alan das Telefon aus. Der Wind war ihm nach drinnen gefolgt und wirbelte im Zimmer herum. Alan schloß das Fenster und legte sich aufs Bett. Die Kakerlaken tanzten. Jemand hatte ihm ein Buch auf den Nachttisch gelegt – Englisch in sechs Tagen. Er schlug es nicht auf. Er dachte: Alan braucht das Englische nicht zu suchen. Das Englische wird zu Alan kommen. Er malte sich aus, wie er Englisch sprach – schnell und heftig gestikulierend, um etwas klarzumachen. Es war leicht. Durch die Wand hörte er Musik. Eine Frau sang ein westliches Klagelied. Er summte mit, machte aber viele Fehler. Mozart hatte er noch nie gehört. Und zuletzt schlief er ein.