Читать книгу Nikolaus muss sterben - Irene Dorfner - Страница 6
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Samstag, 27. November
Ein Nikolaus lief gegen zweiundzwanzig Uhr über den menschenleeren und sehr spärlich beleuchteten Stadtplatz der oberbayerischen Kleinstadt Neuötting. Dessen Laune war gut, denn den ersten Nikolaus-Besuch in dieser Saison hatte er hinter sich. Bei der Familie Wölfle gab es einiges zu holen, deshalb hatte er die Ohren gespitzt und auf jedes Wort geachtet. Bereits morgen früh konnte er zuschlagen, denn zum ersten Advent wollte die ganze Bagage in die Kirche gehen. Frau Wölfle wiederholte für ihren offenbar begriffsstutzigen oder auch bockigen Gatten mehrfach, dass die Messe um zehn Uhr begann, was der nur murrend zur Kenntnis nahm, weil er sich nicht komplett taub stellen konnte. Die Frau war unerbittlich und hielt an der alten Familientradition fest, auf die er gut und gern verzichten konnte, denn mit der Kirche hatte er nichts am Hut. Die Kinder waren noch zu klein, um sie zu beeinflussen und auf seine Seite zu ziehen, deshalb wusste er, dass er in diesem Jahr nicht entkommen konnte. Wie schön war doch das letzte Jahr gewesen, als wegen Corona alle Kirchen geschlossen waren und zu hohen kirchlichen Feiertagen nur für ein auserwähltes Publikum öffneten, zu dem die Familie Wölfle zum Glück nicht gehörte. Also signalisierte Herr Wölfle mit einem Augenzwinkern dem Nikolaus, dass er sich fügen würde, um den Familienfrieden nicht zu gefährden. Frau Wölfle konnte sehr ungehalten reagieren, wenn gerade in der Vorweihnachtszeit nicht alles so ablief, wie sie es geplant hatte.
Der Nikolaus, unter dessen Kostüm sich der achtunddreißigjährige Klaus-Dieter Heidmann verbarg, musste schmunzeln. Angespornt von diesen guten Aussichten nach dem letzten chaotisch-mageren Coronajahr, in dem alle Nikolaus-Besuche ausnahmslos ausfielen, achtete er nicht auf einen Mann, der ihm hier auf dem Stadtplatz quer vor die Füße lief. Es kam, wie es kommen musste – die beiden stießen zusammen. Während sich der Nikolaus gerade noch so an einem Pfeiler der Arkaden festhalten konnte, landete der andere auf dem harten Pflaster. Heidmann war froh, denn ein lädiertes Kostüm zu Beginn der Saison wäre eine Katastrophe.
„Sorry, das tut mir leid“, rief Heidmann und versuchte, dem Mann aufzuhelfen.
Der schien für einen Moment verwirrt und starrte ihn an. Dann fasste er sich wieder.
„Kannst du nicht aufpassen, du Arschloch?“
Der Mann stand auf und nahm die Tasche an sich, die ihm sehr wichtig schien. Dann beschimpfte er ihn nochmals und rannte humpelnd davon.
Heidmann ließ sich von diesem unschönen Zusammenstoß nicht die Laune verderben. Er nahm sein Handy und wählte.
„Servus Heiko. Mein Besuch war ein voller Erfolg, schon morgen früh kann es losgehen. Wie war es bei dir?“
„Tote Hose, bei der Familie ist nichts zu holen. Soll ich dich morgen begleiten?“
„Nein, das mache ich allein. Wir hören uns!“ Heidmann sagte kein Wort über das, was eben geschehen war, das hatte er bereits vergessen.
Dass das noch ein schreckliches Nachspiel haben würde, konnte er in diesem Moment nicht wissen.