Читать книгу Nikolaus muss sterben - Irene Dorfner - Страница 8
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ОглавлениеDie Wohnung war weiträumig abgesperrt worden. Das hatte Friedrich Fuchs, der Leiter der Spurensicherung, veranlasst. Niemand wagte es, den Tatort zu betreten, denn alle kannten den fünfundvierzigjährigen Fuchs und seine ungezügelten Wutausbrüche, denen sich niemand freiwillig aussetzen wollte. Der Verletzte befand sich im Krankenwagen und wurde versorgt.
„Ist er ansprechbar?“, wandte sich Leo an den Notarzt.
„Nein, keine Chance. Stellen Sie sich darauf ein, dass das auch noch dauern wird – wenn er überhaupt wieder zu sich kommt. Die Kopfverletzung gefällt mir nicht. Können wir fahren?“
„Hatte er Papiere bei sich?“
„Nein. Die Identität ist geklärt, sprechen Sie mit einem Ihrer Kollegen. Der dort hinten war vor uns da“, zeigte er auf einen Uniformierten und schloss die Tür des Rettungswagens, der sich dann mit Blaulicht und Martinshorn entfernte.
Leo wies sich gegenüber dem Kollegen aus.
„Sie sind mir nicht unbekannt, Herr Schwartz. Sie erinnern sich an mich?“
Leo musterte das arrogante Gesicht, das ihm tatsächlich bekannt vorkam, allerdings erinnerte er sich nicht an den Namen.
„Engelbrecht, Kurt Engelbrecht.“
Leo schüttelte den Kopf, damit konnte er nichts anfangen, das war aber auch nicht wichtig.
„Wer ist das Opfer?“
„Jürgen Schulze, zweiundvierzig Jahre alt. Verheiratet, zwei Kinder. Zum Glück war er allein zuhause“, fasste Engelbrecht zusammen.
„Es heißt, der Täter war der Nikolaus? Das ist doch ein Scherz, oder?“
„Keine Ahnung, ich mache nur meinen Job und gebe das weiter, was Zeugen aussagten. In diesem Fall ist die Zeugin die Nachbarin Huber. Sie hat das Opfer gefunden und Polizei und Notarzt gerufen. Sie sagte aus, dass sie einen Mann in einem Nikolauskostüm gesehen hat. Einbrüche dieser Art werden zwar vermehrt gemeldet, aber wenn Sie mich fragen, ist die alte Frau nicht ganz dicht. Sie fantasiert und hat vermutlich zu viele Krimis gesehen. Als ich mit ihr sprach, lief der Fernseher, wie vermutlich den ganzen Tag lang.“
„Können wir uns darauf verlassen, dass es ein Mann war?“ Leo war sauer, wie respektlos Engelbrecht über die Zeugin sprach. Wie sie den Tag verbrachte, ging diesen Kotzbrocken wirklich nichts an.
„Mann oder Frau? Keine Ahnung. Das herauszufinden ist nicht meine Aufgabe.“ Engelbrecht steckte seinen Notizblock ein und sah auf die Uhr.
Jetzt erinnerte sich Leo an den Kollegen, der immer genau nach Vorschrift und keine Sekunde länger als nötig arbeitete. Ein unsympathischer Typ, mit dem er schon einmal zusammengerumpelt war.
„Sie bleiben hier, bis ich Sie persönlich abziehe. Wir haben uns verstanden?“
„Das dürfen Sie nicht anweisen, das darf nur mein Vorgesetzter.“
„Im Moment bin nur ich da und Sie müssen mit mir Vorlieb nehmen. Es gilt, was ich sage, auch wenn Ihnen das nicht gefällt. Ich wiederhole es noch einmal, damit Sie mich auch richtig verstehen: Sie bleiben!“
Engelbrecht war sauer. Er hatte noch einige Weihnachtseinkäufe zu erledigen, die er sich für heute vorgenommen hatte. Nach der Frühschicht hatte er am Nachmittag Zeit, sich um diese lästige Aufgabe zu kümmern. Daraus wurde jetzt nichts. Er sah dem Kollegen Schwartz hinterher und nahm sein Handy. Trotz mehrfacher Versuche erreichte er den Altöttinger Polizeichef nicht, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als sich Schwartz‘ Anweisungen zu fügen.
Die Zeugin Josefa Huber war völlig aufgelöst. Diana saß gemeinsam mit ihr in deren viel zu warmen Wohnzimmer. Obwohl Leo schwitzte, ließ er die Lederjacke, die er fast das ganze Jahr trug, an. Er wies sich Frau Huber gegenüber aus, die sich aber nicht für seinen Ausweis interessierte und ihm Platz anbot. Leo sank förmlich in dem Sessel ein, der schon viele Jahre auf dem Buckel hatte. Ungefragt schenkte Josefa Huber Kaffee ein und stellte Leo eine Tasse hin, dazu gab es ein Stück Christstollen. Leo mochte den nicht, denn er hasste die kandierten Früchte darin.
Die betagte Frau Huber erzählte Leo nochmals alles von vorn, auch wenn er sie nicht danach fragte. Die Informationen sprudelten nur so aus ihr heraus.
„Und Sie sind sich sicher, dass das ein Mann war?“, hakte er nach. Der Kaffee schmeckte vorzüglich.
„Sie meinen, dass so etwas eine Frau anrichten könnte?“
„Warum nicht? Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.“
Frau Huber trank vom Kaffee und aß ein Stück Christstollen. Sie dachte nach und Leo wollte ihr die Zeit geben.
„Sie haben mich verunsichert, Herr Schwartz. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, dass das ein Mann war. Die Person trug Turnschuhe, so wie sie die jungen Leute alle tragen. Nur Sie beide nicht“, bemerkte sie mit Blick auf Leos Cowboystiefel und Dianas Winterstiefel, die einen sehr hohen Absatz hatten.
Leo musste schmunzeln, denn Frau Huber bezeichnete ihn als jung, was ihm schon lange nicht mehr passiert war.
„Was können Sie uns über die Familie Schulze erzählen?“
„Sehr nette Leute, auch die Kinder. Sie leben sehr zurückgezogen, man sieht sie kaum. Natürlich gibt es ab und zu Streit, aber das ist normal. Die Kinder verhalten sich vorbildlich. Kein Geschrei und kein Lärm. Wenn man es nicht wüsste, könnte man nicht vermuten, dass nebenan kleine Kinder leben. Ich habe keine Kinder und somit auch keine Enkel, was ich sehr bedaure“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Aber so ist das Schicksal nun mal. Entschuldigen Sie, das interessiert Sie sicher nicht, Sie wollen mehr über die Familie Schulze wissen. Herr Schulze arbeitet in Altötting beim Bauhof, Frau Schulze ist zuhause und kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Ja, das ist altmodisch, aber das soll jeder für sich selbst entscheiden. Der kleine Emil kommt nächstes Jahr schon in die Schule. Ein sehr aufgeweckter Junge, der viel zu schnell groß wird.“
Diana machte sich Notizen. Bei dem Namen Emil schüttelte sie den Kopf. Ja, es war modern, Kindern altdeutsche Namen zu geben – aber Emil? Es gab so viele schöne Namen, warum dieser?
„Wie heißt das andere Kind?“, wollte sie der Vollständigkeit halber wissen.
„Yannick. Es hat lange gedauert, bis ich mir den Namen merken konnte. Yannick ist vier Jahre alt.“
„Haben Sie eine Ahnung, wo sich Frau Schulze und die Kinder aufhalten?“
„Nein. Ich habe mich darüber gewundert, dass sie nicht da sind, normalerweise sind sie das immer.“ Frau Huber rührte in ihrer Tasse. „Ich verstehe das nicht, denn noch eine Stunde bevor ich Herrn Schulze in dem schrecklichen Zustand fand, meinte ich, Frau Schulze reden zu hören. Allerdings habe ich sie nicht gesehen, die Kinder auch nicht. Vielleicht täusche ich mich auch.“
Leo hatte genug gehört. Er bat Diana, noch etwas zu bleiben, falls Frau Huber noch etwas einfiel. Der war das nicht unangenehm, denn sie mochte die alte Dame, die trotz des hohen Alters von siebenundachtzig Jahren noch sehr fit war.
Friedrich Fuchs hatte bereits nach Leo gesucht. Er hatte etwas entdeckt, was er unbedingt weitergeben musste. Im Treppenhaus begegneten sich die beiden.
„Kommen Sie mit!“ Mehr sagte Fuchs nicht.
„Was ist?“
„Kommen Sie, das müssen Sie mit eigenen Augen sehen!“
Abseits vor dem Haus stand ein Mann – Klaus-Dieter Heidmann. Der konnte nicht glauben, was hier abging. Was sollte das? Die Familie Schulze stand ganz oben auf seiner Liste. Nach dem Einbruch bei den Wölfles war er hier goldrichtig. Vor zwei Tagen war er hier als Nikolaus verkleidet gewesen und hatte den Kindern einen Vortrag gehalten, den der Vater vorher zu Papier gebracht hatte. Die Worte waren heftig, trotzdem musste er sich fügen, schließlich war der Kunde König. Die beiden Jungs schienen eingeschüchtert, was ganz normal war. Allerdings verhielt sich die Mutter nicht so, wie es sein sollte. Andere Mütter waren aufgeregt und freuten sich, nicht aber Frau Schulze. Sie saß abseits und schien nicht zu verstehen, was um sie herum geschah. Klaus-Dieter Heidmann hatte sich nichts dabei gedacht, schließlich ging ihn der Gemütszustand der Kundschaft nichts an. Er war an anderen Dingen interessiert. Auf der Anrichte stand eine Statue, die ihn interessierte, denn sie war signiert. Längst hatte er herausgefunden, dass dieses olle Ding einige hundert Euro wert war. Auch die Lampe daneben war nicht ohne, die wollte er ebenfalls mitnehmen. Die Frau trug keinen Schmuck, weshalb er den in einer Schatulle im Schlafzimmer vermutete. In den letzten Jahren hatte er einen Blick dafür entwickelt, wo etwas zu holen war. Er nahm nie viel, denn er wollte keinen großen Schaden anrichten. Nur so viel, dass man den Diebstahl leicht verschmerzen konnte, wenn er überhaupt bemerkt wurde. Die Schulzes gaben sich bieder, aber davon ließ er sich nicht täuschen. Er war sich sicher gewesen, dass in der Wohnung sehr viel mehr zu holen war – ein paar wertvolle Schmuckstücke waren sicher dabei. Während seines Besuches hatte er aufgeschnappt, dass die Schulzes heute Vormittag nicht zuhause waren. Herr Schulze sollte in der Arbeit sein, die Kinder im Kindergarten und die Frau hatte einen Friseurtermin. Genug Zeit für einen Bruch, der nur wenige Minuten dauern sollte. Und jetzt dieser Auflauf von Polizisten! Ob die wegen den Schulzes hier waren? Er musste es herausfinden. Gleich bei der ersten Frau hatte er Glück. Schnell hatte es die Runde gemacht, dass der Nikolaus als Täter vermutet wurde, was trotz des Verletzten einiges Gelächter verursachte. Als das Wort Nikolaus fiel, wurde ihm schlecht. Nicht, weil er vorgestern selbst als solcher verkleidet in der Wohnung der Schulzes war, sondern weil er seinem Zweitnamen Klaus dem Heiligen Nikolaus zu verdanken hatte. Jetzt wurde er wegen eines Verbrechens mit diesem verhassten Namen konfrontiert. Er fühlte sich ertappt und verließ völlig verstört die Gruppe der Schaulustigen. Er lief durch die Straßen Neuöttings und setzte sich irgendwann auf eine Bank, auch wenn die völlig verdreckt und nass war. Jemand hatte sich als Nikolaus verkleidet Zutritt zur Wohnung Schulze verschafft und den Mann niedergeschlagen. Konnte es sein, dass ihn jemand nachahmte oder ihm diese Tat in die Schuhe schieben wollte? Nein, das war sicher ein Zufall. Oder doch nicht? Er musste Heiko Fleischmann anrufen, schließlich arbeiteten sie beide zusammen, wenn auch parallel.
„Was gibt es?“ Als Heiko den Grund des Anrufes verstand, reagierte der panisch. „Die suchen nach einem Nikolaus? Warst du das, du Vollpfosten? Hast du dem Mann etwas angetan?“
„Natürlich nicht! Und du?“
„Ich auch nicht! Das waren deine Kunden, damit habe ich nichts zu tun!“
„Was machen wir jetzt?“
„Nichts! Wir halten die Füße still und werden ab sofort keine Kunden mehr beklauen.“
„Spinnst du? Woher sollen wir sonst das Geld nehmen?“
„Keine Ahnung! Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen, verstanden? Keine Brüche mehr!“
„Meinetwegen. Es wird nicht lange dauern, bis sie herausfinden, dass ich bei den Schulzes war. Was soll ich sagen?“
„Nichts! Du hältst die Klappe, verstanden? Was ist das nur für eine Scheiße! Hätte ich mich nur nicht von dir überreden lassen!“
„Jetzt schieb nicht mir den Schwarzen Peter zu. Ja, es war meine Idee, aber du warst immer mit allem einverstanden. Das funktioniert schon seit Jahren sehr gut, das musst du zugeben. Wir beklauen nur Leute, die den Diebstahl verschmerzen können. Bleib ruhig und flipp jetzt nicht aus, verstanden? Mir können die Polizisten nichts, ich habe ein Alibi.“
„Sauber, ich aber nicht. Ich war zur Tatzeit allein zuhause.“
„Die wollen nichts von dir, sondern von mir. Du hattest mit den Schulzes nichts zu tun – ich schon. Wir kommen aus der Sache sauber raus, Heiko, das verspreche ich dir.“
Klaus-Dieter Heidmann saß lange auf der Bank und schmiedete einen Plan: Er musste herausfinden, was passiert war und wer ihm in die Quere kam!