Читать книгу GIERSCHLUND - Irene Dorfner - Страница 9
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ОглавлениеBettina Geiger saß weinend auf der Bank vor dem Jägerhäusl im Kastler Forst. Immer wieder stand sie auf und blickte sich um. Endlich! Dort hinten kam er! Sie lief auf ihn zu und die beiden fielen sich in die Arme; dabei schluchzte Bettina und weinte hemmungslos.
Markus Brechtinger versuchte, sie zu trösten. Er sprach mit ruhiger Stimme, auch wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht zuhörte. Er wusste, dass kein Wort der Welt den Schmerz dieser Frau lindern konnte.
Langsam beruhigte sich Bettina. Das war auch gut so, denn ein Radfahrer näherte sich und sie durften nicht in dieser Vertrautheit gesehen werden. Markus und Bettina hatten seit zwei Jahren eine Affäre, die vor zehn Monaten durch einen dummen Zufall aufgedeckt wurde. Die Ehepartner waren enttäuscht und wütend. Roswitha Brechtinger war sogar kurz davor, sich scheiden zu lassen, und machte ihrem Mann vor den Augen ihres Sohnes eine heftige Szene. Sie gingen sogar zur Paartherapie, was für Markus reine Zeitverschwendung war, denn er liebte seine Frau schon lange nicht mehr und daran würde sich auch nichts mehr ändern. Er blieb nur wegen des gemeinsamen Sohnes, nur ihm zuliebe hielt er die ständigen Streitereien und Demütigungen aus, die lange vor Bekanntwerden der Affäre an der Tagesordnung waren. Markus Brechtinger hatte mit Bettina vereinbart, mit einem gemeinsamen Leben zu warten, bis beide Söhne mit der Schule fertig waren. Nur noch ein Jahr, und dann waren sie frei. Für Alexander Geiger war eine Scheidung nie eine Option gewesen, denn die würde sich eventuell negativ auf die Geschäfte auswirken, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielten. Trotzdem hatte ihn das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Freund bis ins Mark getroffen. Seitdem gingen sich die Paare aus dem Weg.
Bettina Geiger und Markus Brechtinger sahen sich nach Bekanntwerden ihrer Affäre drei Monate nicht, bis es Markus nicht mehr aushielt und seine Geliebte vor dem Garchinger Schuhgeschäft abfing. Er konnte und wollte nicht ohne sie sein, zumal seine Frau noch schlimmer geworden war. Die dominante und bestimmende Art wurde durch Boshaftigkeiten und tägliche Sticheleien fast unerträglich. Markus schob abends oft Arbeit vor, um so spät wie möglich nach Hause gehen zu müssen, wo ihn seine fiese Frau erwartete und ihn wie so oft mit Demütigungen und Streitigkeiten drangsalierte. Am Morgen ging er sehr früh außer Haus und atmete tief durch, wenn er im Wagen saß und er endlich seine Ruhe hatte. Es kam nicht selten vor, dass Roswitha ihn kontrollierte, was ihm zusätzlich auf die Nerven ging.
Bettina wurde von dieser Behandlung zuhause verschont, allerdings war Alexander mit seiner Ignoranz und Schweigsamkeit auch nicht viel besser. Im Hause Geiger herrschte Totenstille, was ihr sehr aufs Gemüt schlug. War sie nicht selbst schuld daran?
Seit Markus sie angesprochen hatte, trafen sie sich alle zwei Wochen am Jägerhäusl im Kastler Forst, immer zur selben Uhrzeit. Ihnen blieb nie viel Zeit, außerdem mussten sie vorsichtig sein. Es gab keine Telefonate zwischen ihnen und keine Geschenke. Nichts durfte sie verraten. Die wenigen Augenblicke genossen sie und schöpften daraus die Kraft, die nächsten beiden Wochen zu überstehen.
„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst, mein Engel. Wie geht es dir?“
„Wie soll es mir gehen? Mein Junge ist tot!“ Wieder weinte sie und schmiegte sich dabei eng an ihren Geliebten, den sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen.
„Noahs Tod tut mir sehr leid. Ich mochte den Jungen, er war wie ein zweiter Sohn für mich.“
„Das weiß ich. Gibt es schon eine Spur von Julian?“
Markus schüttelte den Kopf. Jetzt kämpfte er mit den Tränen, was Bettina bemerkte. Sie küsste ihn.
„Lass es raus, Markus. Du kannst nicht immer stark sein.“
Nun weinten sie beide und hielten sich aneinander fest.
„Was passiert mit uns?“
„Ich weiß es nicht.“
Die Zeit ging wieder viel zu schnell vorbei. Sie hätten sich noch so viel zu sagen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Sie gestatteten sich nur eine halbe Stunde, die musste reichen.
Markus verabschiedete sich und sah Bettina hinterher. Er wollte ihr für die Beerdigung tröstende Worte mit auf den Weg geben, die er sich sorgsam zurechtgelegt hatte. Jetzt war es dafür zu spät, sie war weg.
Markus setzte sich in seinen Wagen. Tief im Inneren rechnete er bereits mit dem Tod seines Sohnes. Würde er je damit zurechtkommen, wenn sich das bestätigte? Julian war sein ganzer Stolz, er liebte ihn sehr. Er hatte ihn oft gegen seine zänkische Mutter in Schutz genommen, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle hatte. Dafür hatte er selbst von ihr alles abbekommen, aber das war ihm immer gleichgültig gewesen. Julian! Was war mit ihm geschehen? Markus weinte und betete, auch wenn er kein gläubiger Mensch war. Er betete nicht nur, sondern flehte Gott an. Ein Jogger lief an seinem Wagen vorbei, weshalb er mit dem Gebet aufhörte und sich langsam wieder beruhigte. Markus nahm sich fest vor, einiges in seinem Leben zu ändern, wenn sein Sohn wieder gesund auftauchen sollte. Ja, das würde er machen. Natürlich würde er sich sofort von seiner Frau trennen, dafür war es schon längst höchste Zeit. Er würde seine Firmenanteile verkaufen und sich an einem schönen, ruhigen Platz ein neues Leben aufbauen. Noch war er nicht zu alt dafür, noch war Zeit genug. Aber das alles würde er nur machen, wenn er Julian wieder in seine Arme schließen konnte.
Mit einem Kloß im Hals fuhr er zur Firma. Dort stand der Wagen seiner Frau, die wie immer direkt vor der Eingangstür parkte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das wusste Roswitha und deshalb ließ sie sich davon auch nicht abbringen.
„Wo kommst du her?“, begrüßte Roswitha Brechtinger ihren Mann, der nicht darauf antwortete. Es war egal, was er sagte. So, wie seine Frau gerade drauf war, gab es sowieso Streit, deshalb sparte er sich die Energie. „Hast du mich nicht verstanden? Ich habe gefragt, wo du herkommst! Warst du wieder bei der Hure Bettina? Oder bei einer anderen? Fängt das Theater wieder von vorn an?“
Roswitha stand direkt vor ihm. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze gewandelt, die er einfach nur widerlich fand. Ja, er hatte eine Affäre und er war sicher nicht stolz darauf. Warum konnte seine Frau nicht ein wenig wie Bettina sein? Sie war herzlich, verständnisvoll und leise. Alles Eigenschaften, die seiner Frau völlig fremd waren. Sie schimpfte und zeterte, was natürlich die Angestellten mitbekamen, denn Roswitha schrie immer lauter. Markus schloss die Tür, was vermutlich nicht viel brachte.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte er, statt auf ihre Vorwürfe zu antworten, die er über sich ergehen lassen musste.
„Erinnerst du dich daran, dass wir einen Sohn haben, der verschwunden ist? Ich sorge mich um unseren Sohn, während du einfach zur Tagesordnung übergehst und fröhliche Ausflüge unternimmst. Was bist du nur für ein Mensch!“
„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich habe nach Julian gesucht. Ich habe alle möglichen Leute angerufen und habe persönlich mit vielen gesprochen. Ich bin deiner Bitte nachgekommen und habe einen Privatdetektiv engagiert, obwohl ich nichts davon halte. Was soll ich noch tun? Zuhause sitzen und warten? Das kann ich nicht. Ich muss mich ablenken und das kann ich am besten mit meiner Arbeit.“
„Natürlich geht deine Arbeit vor. Die war dir schon immer wichtiger als deine Familie.“ Es folgte ein weiterer Regen von Vorwürfen, die Markus wieder kommentarlos über sich ergehen ließ. Roswitha setzte sich, sie war erschöpft. Sie hatte Probleme damit, sich zu konzentrieren, daher konnte sie nicht arbeiten. Sie malte sich wegen ihres Sohnes die schlimmsten Szenen aus und wurde fast verrückt. Aber das sagte sie ihrem Mann nicht. Sie hatte von klein auf gelernt, stark zu sein und keine Schwäche zuzugeben.
„Warst du bei deiner Hure?“, fragte sie jetzt leise und sah ihren Mann an.
„Nein, das war ich nicht“, log er. Ja, er hätte die Wahrheit zugeben können. Das war eine dieser verpassten Gelegenheiten, seiner Frau endlich reinen Wein einzuschenken. Aber dafür war er zu feige. Außerdem war das nicht der richtige Zeitpunkt. Julian stand an erster Stelle, alles andere konnte später geklärt werden.
„Die Polizei hat Julian immer noch nicht gefunden. Wo könnte er sein?“
„Das weiß ich nicht. Ich bin mir sicher, dass er wohlbehalten wieder auftaucht.“
„Alles spricht dagegen. Wie kannst du dir dabei sicher sein?“
„Weil ich nicht zulassen will, an das Schlimmste zu denken. Julian kommt gesund wieder.“ Das sagte Markus nicht nur zu seiner Frau, sondern vor allem zu sich selbst. Er musste fest daran glauben, dass Julian noch lebte, alles andere wäre Wahnsinn.