Читать книгу Das dritte Kostüm - Irene Dorfner - Страница 8

3.

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„Ich darf Ihnen den Kollegen Sebastian Kranzbichler vorstellen. Er wird die Mordkommission für die Zeit der Abwesenheit von Werner Grössert unterstützen,“ empfing Rudolf Krohmer seine Beamten im Besprechungszimmer. Er hatte sich eine halbe Stunde verspätet, der Grund lag nun auf der Hand.

Der dicke, kurzhaarige und sehr große 30-jährige Kranzbichler strahlte mit seinen roten Bäckchen übers ganze Gesicht, als er jedem die Hand gab. Er trug einen grauen Anzug, der so aussah, als besäße er ihn seit seiner Konfirmation, er passte hinten und vorne nicht. Das weiße Hemd spannte über dem Bauch und die Krawatte, die schon längst aus der Mode war, saß völlig schief.

„Herr Kranzbichler wurde uns wärmstens empfohlen und ich bin sehr glücklich, dass die Vertretung so schnell geklappt hat. Herr Grössert hat sich gemeldet und wird wohl länger ausfallen, bei seiner Frau traten größere Komplikationen auf.“

„Schlimm?“ Die Kollegen machten sich große Sorgen, denn Grössert und auch seine Frau neigten nicht zu Übertreibungen. Es mussten gravierende Gründe vorliegen.

„Ich habe nur so viel verstanden, dass es nicht gut aussieht. Grössert hat versprochen, uns auf dem Laufenden zu halten. Aber das ist jetzt nicht unser Thema und gehört hier nicht her. Der Kollege Kranzbichler bleibt bis zur Rückkehr des Kollegen Grössert in unserem Team.“ Krohmer war sichtlich stolz auf den Zuwachs seiner Mannschaft, der nur wegen seiner Kontakte so schnell zur Verfügung stand. Normalerweise dauerte so etwas viel länger und jetzt war die Vertretung bereits nach zwei Tagen hier. Aber durch den kurzen Anruf des Kollegen Grössert, war er sehr beunruhigt. Aber darum würde er sich später kümmern.

„Wenn Sie den Kollegen unter Ihre Fittiche nehmen Frau Untermaier? Bei Ihnen ist er am besten aufgehoben.“

„Sehr gerne.“ Natürlich wäre sie viel lieber mit Leo als Team unterwegs, denn sie ergänzten sich hervorragend. Aber so gereizt, wie Leo momentan war, war es auf jeden Fall besser, wenn der Neue sie begleitete.

Frau Gutbrod trat ohne Klopfen ins Besprechungszimmer, denn sie hatte nichts von der heutigen Besprechung mitbekommen, gerade auf dem Flur erfuhr sie erst von dem neuen Kollegen. Warum war der hier? Krohmers neugierige Sekretärin war am Wochenende zuhause und kam heute später, da sie noch einen Termin hatte. Die 62-jährige Hilde Gutbrod hatte den Samstag genutzt, um sich frisch aufspritzen zu lassen, wodurch sie zumindest im Gesicht wieder etwas jünger aussah, was nun wiederum zum Rest nicht mehr passte. Aber Frau Gutbrod fand sich wunderschön und für ihr Alter sehr jung, was sie auch mit ihrer Kleidung zum Ausdruck brachte: Das weiße Kostüm war sehr, sehr kurz, dafür waren die Absätze ihrer neuen Schuhe umso höher. Bei jeder ihrer Bewegungen klimperte und glitzerte es. Auch das dick aufgetragene Make-up stach heute besonders hervor. Sie setzte sich und besah sich den neuen Kollegen von oben bis unten – und er gefiel ihr überhaupt nicht. Erst jetzt sah sie in die Runde. Was machte Leo Schwartz hier? Hatte er nicht Urlaub? Und wo war der Kollege Grössert? Schnell kombinierte sie, dass dieser Neue für den Kollegen Grössert hier war – aber warum? Sie musste so schnell wie möglich herausbekommen, was dahintersteckte!

„Frau Gutbrod, welch Glanz in unserer Hütte! Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie schon vermisst! Sie sehen ja wieder phantastisch aus – sind Sie übers Wochenende in einen Jungbrunnen gefallen?“, rief Hans Hiebler erfreut aus. Aber Frau Gutbrod verstand sofort den Sarkasmus, denn die beiden verstanden sich nicht besonders gut. Mehr als einmal hatte Hans sie beim Lauschen erwischt und machte sich einen Spaß daraus, ihr das bei jeder Gelegenheit unter die Nase zu reiben. Krohmer stellte ihr den neuen Kollegen Kranzbichler vor, an dem sie aber kein Interesse hatte und ihn deshalb nur beiläufig begrüßte.

Hilde Gutbrod war im Rückstand und musste sich dringend über den aktuellen Fall informieren. Sie hatte bereits durch die Sekretärin der Spurensicherung mitbekommen, dass der neue Fall sehr interessant und knifflig war. Sie griff nach Krohmers Ermittlungsakte, als der einen Moment unaufmerksam war. Als sie sich die Fotos angesehen hatte, erschauerte sie, denn so ein Hexenkostüm hatte sie noch nie gesehen und mit Fasching hatte sie überhaupt nichts am Hut. Sie mochte keine Betrunkenen und diese aufgezwungene Fröhlichkeit war ihr zuwider. Zumindest in diesem Punkt war sie sich mit Leo Schwartz einig. Sie schenkte nun reihum Kaffee ein und besah sich den neuen Kollegen nochmals in aller Ruhe, was allgemein amüsiert beobachtet wurde. Krohmer war das Verhalten seiner Sekretärin überaus unangenehm. Aber Frau Gutbrod interessierte sich nicht für die Meinung der anderen. Es war ihr gutes Recht, sich den Neuen genauer anzusehen. Der Mann war zu dick, sah aus wie ein Bauer, und für ihre Nichte Karin absolut nichts. Noch immer suchte sie für ihre unvermittelbare Nichte Karin einen geeigneten Mann. Bei jeder Gelegenheit bot sie ihre Nichte an wie sauer Bier, was allen gehörig auf die Nerven ging. Karin bekam das nicht richtig mit, denn sie war nicht die hellste Kerze auf der Torte, hatte ein einfaches Gemüt. Sie war nur an ihrem Aussehen und ihrer Kleidung interessiert – und natürlich an einem potentiellen Mann. Frau Gutbrod hakte diesen Mann gedanklich ab und setzte sich wieder. Was hatte sie verpasst? Wenn ihr gestern nicht dieser blöde Nagel abgebrochen wäre, hätte sie sich den Termin bei ihrer Nageldesignerin heute früh sparen können. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen Fauxpas sofort zu beheben – wie hätte das denn ausgesehen?

Leo informierte Krohmer über den neuesten Stand und Frau Gutbrod atmete erleichtert auf, sie war nicht zu spät hinzugestoßen.

„Das sieht doch bis jetzt nicht schlecht aus,“ sagte Krohmer bemüht freundlich, denn vor dem Neuen musste er sich zusammenreißen. Natürlich war er nicht erfreut darüber, dass die Identität der Toten noch nicht feststand. „Haben Sie aus der Pathologie noch andere Erkenntnisse mitgebracht, die uns weiterhelfen können? Konnte die Todesursache nun einwandfrei festgestellt werden?“, fragte er nun Fuchs, der endlich seinen großen Auftritt hatte, auf den er schon lange gewartet hatte. Was interessierte ihn dieser neue Kollege? Ob nun der oder die anderen, das war ihm vollkommen egal. Ihm war nur wichtig, dass er seine Arbeit vernünftig machen konnte. Und diese schreckliche Frau Gutbrod war ihm auch ein Dorn im Auge. Was hatte sie eigentlich als Sekretärin bei diesen Besprechungen verloren? Sie zog das Ganze hier unendlich in die Länge und genoss einen Sonderstatus, den er nicht verstand. Aber sei’s drum – jetzt war er endlich an der Reihe!

„Im Großen und Ganzen hat sich der Bericht, den ich Herrn Schwartz telefonisch übermittelt habe, bestätigt,“ begann er seinen Bericht, den er sich auf der Rückfahrt aus München zurechtgelegt hatte. Auch am gestrigen Sonntag hatte er noch daran gefeilt und war gut vorbereitet. Ursprünglich wollte er seinen ausführlichen Bericht mit Fachwissen spicken, um die Kollegen damit zu ärgern und um ihnen dadurch zu suggerieren, dass er ihnen haushoch überlegen war. Aber Krohmer hatte ihn vorhin darum gebeten, vor dem neuen Kollegen sachlich zu bleiben und seine Ausführungen so einfach wie möglich zu halten. Nicht, dass sich der neue Kollege dumm vorkommt. Natürlich musste Fuchs sich fügen, schließlich war Krohmer der Chef. Jetzt musste er sich jeden Satz genau überlegen, bevor er etwas sagte. Er räusperte sich und fuhr fort, da nun alle Aufmerksamkeit auf ihm lag. „Die Todesursache konnte eindeutig nachgewiesen werden. Das Opfer wurde betäubt und dann mit einer Überdosis Insulin getötet. Ich habe mehrere Kopien des Pathologieberichts angefertigt,“ sagte Fuchs nicht ohne Stolz und zog aus seiner Tasche sauber angefertigte Berichte, die er reihum gab.

„Insulin?“

„Das sagte ich eben. Der Tod trat durch eine Überdosis Insulin ein, die dem Opfer durch die Bauchdecke verabreicht wurde. Zum Glück wurde die Leiche schnell genug gefunden, denn je mehr Zeit nach dem Tod durch eine Überdosis Insulin verstreicht, desto geringer wird die Möglichkeit, Insulin im Körper nachzuweisen. Schon nach vier bis fünf Stunden hat man fast keine Chance mehr für einen Nachweis.“

„Insulin also. Wie hoch muss die Dosis sein? Wo kommt das Insulin her?“

„Im vorliegenden Fall wurde eine sehr hohe Dosis verabreicht, woraus ich schließe, dass der Täter die tödliche Dosis nicht kannte oder sicher gehen wollte, dass das Opfer auf jeden Fall stirbt. Die Herkunft des Insulins ist nicht nachweisbar. Insulin ist in Deutschland verschreibungspflichtig. Das heißt, dass das Medikament nur gegen ein gültiges Rezept ausgehändigt wird. Es sei denn, es handelt sich um einen Notfall und dem Apotheker ist bekannt, dass der Patient Diabetiker ist. Und auch dann kommt es häufig vor, dass sich die Apotheken aufgrund von späteren Repressalien weigern, Insulin auszuhändigen und rufen lieber den Notarzt oder verweisen auf das nächste Krankenhaus.“

„Ich glaube ja, dass man leicht an Insulin rankommt, auch wenn die Gesetze noch so streng sind.“

„Ganz so einfach ist das in Deutschland nicht, Kollege Hiebler. Auch wenn ein Arzt anruft und um Insulin bittet, darf der Apotheker dieses Medikament nicht ausgeben. Aber,“ und dabei sah er in die Runde und machte dabei eine längere Pause, „in Österreich ist es kein so großes Problem, an Insulin ranzukommen. Bei unseren Nachbarn sind die Gesetze anders gelagert und man bekommt Insulin in fast jeder Apotheke und sogar über den Online-Medikamentenhandel, wenn man seinen Wohnsitz in Österreich hat. Aber das zu umgehen ist eine Kleinigkeit. Soweit ich informiert bin, ist die Insulinbeschaffung in Tschechien und Polen ebenfalls einfach. Allerdings gibt es dort nur inländische Beipackzettel und es gelten dort andere Medikamenten-Gesetze, wodurch es für einen Patienten gefährlich sein kann, sich dort mit Insulin zu versorgen, denn die vom Arzt festgestellte Dosis sollte strikt eingehalten werden.“

„Womit wurde das Opfer betäubt?“

„Der Pathologe tippt auf KO-Tropfen, aber dazu stehen noch einige Tests an.“

„Im Grunde genommen auch egal, denn solche Substanzen kann man sich in Deutschland problemlos übers Internet oder auf dem Schwarzmarkt besorgen,“ sagte Leo. „Viel wichtiger ist das Insulin. Aber wenn das in anderen Ländern problemlos zu beschaffen ist, dann verschwenden wir damit nur unnötig Zeit.“

„Danke für den ausführlichen Bericht, Kollege Fuchs. Dann wissen wir jetzt endlich die Todesursache, die für meine Begriffe sehr ungewöhnlich ist, fast human,“ sagte Krohmer.

„Was soll denn an einem Mord human sein? Gut, das Opfer musste nicht leiden, aber Mord ist Mord. Ob nun human, oder nicht,“ sagte Leo.

„So habe ich das nicht gemeint. Aber die Todesursache sollten Sie nicht aus den Augen verlieren. Es sieht so aus, als ob der Täter sein Opfer nicht leiden lassen wollte, was nach einem persönlichen Bezug zum Opfer aussieht. Oder nach einer Frau.“

„Chef, das glauben Sie jetzt aber nicht selber, oder? Das Opfer wurde zwar ordentlich am Pestfriedhof platziert, was durchaus Ihre Theorie unterstützen würde. Aber für mich sieht es so aus, als sollte die Leiche nicht so schnell gefunden werden, wodurch die Todesursache nicht mehr nachweisbar gewesen wäre. Ich schlage vor, dass wir für alles offen sind und so ermitteln, als wäre jeder verdächtig. Der Täter muss keine Frau sein und er muss auch nicht aus dem persönlichen Umfeld des Opfers kommen.“ Viktoria wurde immer besonders misstrauisch, wenn Fakten allzu deutlich waren, und sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn solche Vermutungen besonders zu Beginn der Ermittlungen ausgesprochen wurden.

„Wie dem auch sei,“ sagte Krohmer, der sich über die Belehrung ärgerte. Eine entsprechende Antwort lag ihm schon auf der Zunge, aber wegen des neuen Kollegen hielt er sich zurück. „Wir sollten nun mit Hochdruck zuerst daran arbeiten, herauszufinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Irgendjemand muss sie doch vermissen.“

„Ach du großer Gott,“ rief Frau Gutbrod laut und zog einen Zettel aus ihrer Jackentasche. „Vorhin bekam ich einen Anruf von einer Frau Schmied aus Kastl wegen der unbekannten Toten in der Zeitung. Sie ist sich sicher, dass Sie die Tote kennt,“ las sie vom Zettel ab.

Krohmer sah seine Sekretärin vorwurfsvoll an, denn diese Information hätte sie umgehend weiterleiten müssen. Sie suchten schließlich nach der Identität des Opfers, das durfte ihr doch inzwischen nicht entgangen sein. Natürlich bemerkte Frau Gutbrod den Blick und fügte schnell hinzu: „Ich habe Frau Schmied umgehend hierher beordert. Sie dürfte eigentlich schon hier sein.“ Sie sprang auf und lief direkt zum Empfang, wo eine 52-jährige Frau saß und wartete.

„Sind Sie Frau Schmied?“ Die Frau stand auf und nickte. „Mein Name ist Gutbrod, wir haben heute miteinander gesprochen. Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Kommen Sie bitte mit, die Kommissare sind schon gespannt auf Ihre Aussage.“

Frau Gutbrod brachte die Zeugin direkt ins Besprechungszimmer.

„Setzen Sie sich bitte. Sie kennen die Tote?“

„Ja und ich bin mir ganz sicher. Das ist Katharina Zirbner vom Zirbner-Hof in Kastl. Ich kenne sie von meinen Spaziergängen, einer meiner Wege führt nahe am Zirbner-Hof vorbei. Dort haben wir das eine oder andere Wort gewechselt, wenn ich sie allein angetroffen habe und die alte Zirbnerin nicht auf sie aufgepasst hat. Die alte Zirbnerin ist ein schreckliches Weib, immer mürrisch und dazu auch noch boshaft – und mittendrin die feine, freundliche und sehr hübsche Katharina, die auch in Arbeitskleidung immer top ausgesehen hat. Schon lange habe ich vermutet, dass das mit der Katharina nicht gut endet.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na, der Zirbner Sepp hat die Katharina quasi aus dem Katalog gekauft, das weiß in Kastl jeder. Was glauben Sie, was das für ein Skandal war, als der Sepp mit einer Russin ankam. Sie wird niemals in Kastl akzeptiert werden, immer eine Außenseiterin bleiben. Für eine junge Frau ist das der Horror. Und dazu die schwere Arbeit und die böse Schwiegermutter. Katharina hatte Freude an Musik und Kultur. Beides ist für den Sepp nichts, der kennt außer dem Schützenverein und der Feuerwehr doch nichts. Er geht ja nicht mal ins Wirtshaus. Sein Leben ist die Arbeit auf dem Hof. Früher war der Zirbner-Hof ziemlich runtergewirtschaftet. Sepps Eltern hatten versäumt, Geld in den Hof zu investieren und zu modernisieren. Sie haben viel zu lange an dem alten Zopf festgehalten, das geht irgendwann schief. Als der Sepp das Ruder nach dem Tod seines Vaters übernahm, ging er mit Eifer an die Arbeit und hat den Hof wieder auf Vordermann gebracht. Wenn man heute daran vorbeigeht, kann man die Veränderung kaum glauben. Der Sepp hat Tag und Nacht gearbeitet. Kein Wochenende, kein Urlaub, einfach nichts. Jeden Cent hat er in den Hof gesteckt und nur noch dafür gelebt. Da bleibt das Privatleben natürlich auf der Strecke.“

„Wie und wo hat dieser Sepp Zirbner seine Frau kennengelernt?“

„Ich weiß es nur gerüchteweise. Womit ich mir ganz sicher bin ist diese Partneragentur in Waldkraiburg, die offenbar russische Frauen an heiratswillige Deutsche vermittelt. Und der Sepp hat das meiner Meinung nach gemacht, weil er die ganzen Jahre wegen der vielen Arbeit und auch wegen seiner keifenden Mutter keine Frau gefunden hat. Ist ja auch eigentlich nichts dagegen einzuwenden, schließlich gibt es Partnervermittlungen wie Sand am Meer und der Sepp ist auch nur ein Mann und hatte wohl die Einsamkeit satt. Anfangs hat er gestrahlt und war immer gut gelaunt, hat sogar das eine oder andere Schwätzchen mit den Nachbarn und auch mit mir gehalten. Das hat sich dann geändert, als die Gerüchte und dummen Sprüche einfach nicht abrissen. In Kastl waren er, seine Frau und die Geschichte mit der Partnervermittlung lange Zeit Ortsgespräch. Jeder hat seinen Senf dazugegeben, das können Sie sich ja vorstellen. Vor allem die alte Zirbnerin hat gezetert und gegen ihre Schwiegertochter gehetzt, wo es nur ging. Sie kam nie damit zurecht, dass ihr Sohn eine Russin geheiratet hat, und dann auch noch aus dem Katalog. Dass es so etwas gibt, ist den Kastlern auch klar. Aber es ist etwas anderes, wenn das direkt vor der Haustür passiert. Außerdem ist in Kastl kaum etwas los. Da ist man froh, wenn es neuen Gesprächsstoff gibt – und dafür hat die alte Zirbnerin schon gesorgt. Ist es da verwunderlich, dass sich der Sepp zurückgezogen hat und sich schützend vor seine Frau gestellt hat? Für mich wäre das kein Leben! Tag und Nacht den Blicken der Menschen ausgesetzt, von denen man genau weiß, dass sie hinter dem Rücken über einen reden und sich lustig machen. Schrecklich. Ich wäre längst abgehauen.“

Die Polizisten konnten das durchaus nachvollziehen und konnten sich vorstellen, welchem Spießrutenlauf der Mann und vor allem die Frau ausgesetzt sein mussten. Das Leben war bestimmt doppelt schwer, wenn aus der eigenen Familie kein Rückhalt da war und man dazu mit mächtigem Gegenwind im gesamten Umfeld kämpfen musste.

„Die Katharina war etwas Besonderes. Sie war nicht dumm und hat unsere Sprache sehr schnell gelernt. Sie hat sich bemüht, sich einzuleben und sich anzupassen, aber sie stieß überall auf Abneigung. Niemand wollte mit der jungen Russin etwas zu tun haben. Und wenn doch, dann fuhr die alte Zirbnerin ihre Krallen aus und wurde noch gemeiner. Die junge Frau passte einfach nicht zu dem grobschlächtigen Sepp, der zwar von Grund auf kein schlechter Mensch ist, aber nicht weiß, wie man mit einer Frau umgeht. Vor allem kann sich der Sepp nicht gegen seine Mutter durchsetzen, dazu ist er zu weich – oder die Alte zu stark. Egal wie man es sieht, die Katharina war die Leidtragende. Ich bin mir fast sicher, dass die junge Frau wieder weg wollte, was aber für eine Frau in ihrer Situation nicht einfach ist. Wo sollte sie denn hin? Ohne Geld, ohne Kontakte, ohne Ausbildung und ohne einen Job? Da ist man doch vollkommen aufgeschmissen.“

„Das stimmt wohl. Sind Sie sich sicher mit dieser Vermittlungs-Agentur in Waldkraiburg?“

„Sie hat mir davon erzählt. Den genauen Namen der Agentur habe ich vergessen, irgendetwas mit einem Herz. Aber mehr weiß ich nicht, die Katharina hat ungern darüber gesprochen und auf die kursierenden Gerüchte habe ich nie etwas gegeben. Was ist mit der Katharina passiert?“

„Sie wurde am Pestfriedhof direkt am Pestkreuz tot aufgefunden. Die genaueren Todesumstände sind uns noch nicht bekannt,“ log Hans Hiebler, der es generell vorzog, vorschnell noch nicht zu viele Informationen rauszugeben. „Wir danken Ihnen sehr für Ihre Hilfe. Jetzt wissen wir endlich, mit wem wir es zu tun haben. Frau Gutbrod begleitet Sie wieder nach draußen.“

Frau Gutbrod stand die ganze Zeit interessiert daneben und registrierte jede Kleinigkeit, die die Zeugin von sich gab. Das mit dieser Partnervermittlung war keine schlechte Idee, denn was für Männer galt, die Frauen suchen, gab es bestimmt auch für die Frauen, die einen Mann suchen. Sie musste unbedingt mit ihrer Nichte Karin darüber sprechen.

„Ich würde gerne mit Hans zum Zirbner-Hof nach Kastl fahren.“ Leo hatte seine Jacke schon in der Hand, denn er wollte die Überbringung der Todesnachricht so schnell wie möglich hinter sich bringen.

„Gut. Dann werden der Herr Kranzbichler und ich uns über die Partnervermittlung informieren. Am besten, wir fahren direkt nach Waldkraiburg. Ich bevorzuge das persönliche Gespräch. Vor allem würde ich mir gerne die Räumlichkeiten ansehen.“ Viktoria war neugierig und stand in den Startlöchern, aber der neue Kollege zögerte noch.

„Ich habe eine sehr gute Idee,“ druckste Kranzbichler herum. „Ich weiß, ich bin neu hier und eigentlich sollte ich mich gerade am Anfang zurückhalten, allerdings ist die Gelegenheit absolut günstig und die sollten wir nutzen.“

„Wovon zum Teufel sprechen Sie?“ Viktoria war genervt.

„Wie wäre es, wenn ich in dieser Agentur als potentieller Kunde vorstellig werde? Ich lasse mich umfassend beraten und komme so vielleicht an Informationen ran, die der Polizei sonst vorenthalten werden. Sie geben mir Vorsprung und stoßen dann später hinzu. Sie lenken die Angestellten ab und vielleicht bekomme ich irgendwie die Möglichkeit, mich dort ungestört umzusehen.“

„Ich glaube, Sie haben zu viele Krimis gesehen,“ protestiere Viktoria, die von solchen Aktionen überhaupt nichts hielt. „Das kommt nicht in Frage, das ist viel zu gefährlich.“

„Moment mal, nicht so schnell,“ sagte Leo, der die Idee genial fand und für so etwas immer zu haben war. „Überleg dir das auf der Fahrt nach Waldkraiburg nochmal Viktoria, denn eine bessere Gelegenheit einmal hinter die Kulissen einer solchen Vermittlungsagentur zu schauen, bekommen wir vielleicht nie wieder.“ Leo klopfte Kranzbichler anerkennend auf die Schulter, er mochte diesen Kerl sofort.

„Außerdem gehe ich als vermeintlicher Kunde mit meinem Aussehen leicht durch. Ich sehe nicht nur aus wie ein verzweifelter Mann auf der Suche nach einer Frau. Bei mir vermutet auch niemand, dass ich von der Polizei sein könnte, eher gehe ich als Landwirt oder Mechaniker durch, das wird mir zumindest immer wieder nachgesagt,“ lachte er und machte sich damit über sich selbst lustig, was bei Leo und Hans sehr gut ankam. Viktoria war immer noch nicht überzeugt, verdrehte die Augen und ging davon.

„Ich kann ganz gut mit Frauen, ich werde die Kollegin Untermaier während der Fahrt mit meinem Charme becircen und von meiner Idee irgendwie überzeugen,“ sagte Kranzbichler augenzwinkernd, bevor auch er durch die Tür verschwand.

„Der Typ ist schwer in Ordnung,“ lachte Hans, bevor sie sich auf den Weg nach Kastl zum Zirbner-Hof machten. Unterwegs sprachen sie kein Wort, denn sie mussten den Hinterbliebenen eine Todesnachricht überbringen, was beiden sehr schwerfiel. Sie legten sich in Gedanken die passenden Worte zurecht, obwohl sie genau wussten, dass es dafür niemals die passenden Worte gab.

Leo parkte den Wagen im Innenhof des Bauernhofs am Rande Kastls, erstaunlicherweise hatte das Navi kein Problem, den Hof hier in der Pampa zu finden. Der Zirbner-Hof war ein stattlicher Bauernhof, der außer dem Wohnhaus in einem Top-Zustand war. Leo zählte insgesamt 4 Stallungen und zwei große, relativ neue, saubere Traktoren und mehrere Anhänger standen in dem offenen Unterstand. In einem Zimmer des Erdgeschosses brannte Licht, es musste also jemand zuhause sein. Beide atmeten nochmals tief durch und klingelten.

Ein Mann Ende vierzig in Jogginghose und Unterhemd öffnete die Haustür und sah die beiden nur an.

„Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf, das ist mein Kollege Hans Hiebler.“ Sie zeigten ihre Ausweise, die den Mann aber nicht interessierten. „Sind Sie Herr Zirbner?“

„Ja, des bin i, Sepp Zirbner. Kripo? Is was passiert?“

„Wir haben eine traurige Nachricht, es geht um die Katharina.“

„Was is mit der Kathi?“

Leo wollte die Nachricht nicht hier vor der Tür überbringen und schob den korpulenten Mann einfach vor sich her in den Raum, in dem das Licht brannte. Dort saßen am Küchentisch noch eine alte Frau und ein junger Mann. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Wurst und ein Korb grob geschnittenes Brot, vor jedem stand ein Bierkrug.

„Es tut mir leid, dass wir beim Essen stören. Wir sind von der Kriminalpolizei Mühldorf und müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Katharina Zirbner tot aufgefunden haben.“

„Die Kathi is tot?“, rief Sepp Zirbner aus, schlug die Hände vors Gesicht und setzte sich erst einmal, denn der riesige Mann drohte augenblicklich umzukippen.

Der junge Mann am Tisch starrte Leo nur an, er schien nicht zu begreifen.

„Des hat des Flitscherl davo,“ rief die alte Frau aus. „Die hat net gern gearbeitet, und auch net guad. Sie wollt wieder weg von hier, zurück nach Russland, wo sie auch hinghört. Es hat ihr hier nicht gefallen, als ob es in Russland besser wär. Es is guad, das des Flitscherl weg is.“

„Halt den Mund“, rief Sepp Zirbner und wollte auf die alte Frau los, aber Hans hielt ihn zurück.

„Is doch wahr. Die Kathi hat immer gmeint, sie wär was Besseres. Hier auf dem Hof war ihr alles zu dreckig, sie wollt im Grunde nix damit zu tun haben. Sie hat meinen Sepp angefleht, abends wegzugehen und wollt sich amüsieren, anstatt anständig zu leben und zu arbeiten. Es ist lange her, dass sie in der Kirche war. Sie hat immer gsagt, dass das nicht ihr Gott wäre und sie einen anderen Glauben hat. Aber sie war nun mal mit meinem Sepp verheiratet und hat hier gelebt. Da muss man sich halt anpassen. Was hat sie sich denn vorgestellt, als sie von Russland kam und den Sepp geheiratet hat? Sie hat doch gewusst, dass er Bauer ist und die Arbeit nie ausgeht. Der liebe Gott hat sie bestraft.“

„Halt endlich dein Maul Mutter“, schrie Sepp Zirbner verzweifelt. „Die Kathi war jung, das Leben hier war ihr fremd, irgendwann hätte sie sich vielleicht doch eingelebt. Und sie hat sich angestrengt, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber dir kann man es nun mal nicht recht machen, du hast die Kathi immer nur beschimpft. Und glaub ja nicht, dass ich nicht gesehen habe, dass du sie geschlagen hast.“

„Des hot ihr ned geschadt, die paar Renner sind ned der Red wert! Sie war halt langsam und i hob sie a bisserl antriebn, mehr ned. I bin 79 Jahre alt und muss in meinem Alter immer noch aufm Hof helfen. Wenn du a richtige Frau gheirat hättst, müsst i des längst nicht mehr. Wenn das dein Vater wüsst, Gott hab ihn selig, der würd sich im Grab rumdrehen. Eine Russin als Bäuerin, des konnt ja ned gutgehen. Ich sag Ihnen was,“ wandte sie sich an Leo nun betont hochdeutsch. Er stand dicht neben ihr und konnte nicht fassen, was die Alte von sich gab, „Als die Kathi auf den Hof kam und mein Sepp sie vorgestellt hat, habe ich sie verflucht. Ja, Sie hören richtig, ich habe ihr die schlimmsten Flüche entgegengeworfen. Ich hab den Krieg als Kind erlebt und die Russen waren schlimm, sehr schlimm, heute will das natürlich keiner mehr wissen. Die Grenzen sind für alle offen und diese Barbaren können ungehindert in unser Land kommen und alles legal an sich reißen. Ich wollt keinen Russen im Haus haben und mein Bub bringt einfach eine von dem Gsindel mit. Und jetzt hat der liebe Gott uns von der Russin erlöst, er hat meine Gebete erhört. Hätte mein Sohn damals die Maria vom Nachbarhof geheiratet, wäre alles gut gegangen. Aber mein Sepp wollt die Maria nicht haben. Gut, sie war recht schiach, is sie auch heit noch. Aber sie kann arbeiten und wäre richtig für den Hof gewesen.“

Der Redeschwall der Alten wurde durch einen langen, durchdringenden Schrei des jungen Mannes unterbrochen, der sich dabei auch noch die Ohren zuhielt. Sepp Zirbner sprang auf und sprach beruhigend auf den Mann ein, während die Alte sich ein Stück der Wurst abschnitt und seelenruhig weiteraß.

„Der Karl ist ned ganz richtig im Kopf,“ sagte die Alte mit vollem Mund. „Des is des Balg meiner Tochter, wer der Vater is, weiß man ned. Sie wollt den Karl in ein Heim gebn, weil bei ihm im Alter von 5 Jahr festgstellt wordn is, dass er a Depperl is. Des hab i scho immer gsagt, aber mir wollt keiner glauben. Aber der Sepp hat ned duldet, dass der Karl in ein Heim kommt. Er hat a viel zu weiches Herz, von mir hat er des ned! Er hat den Karl eines Tages einfach hier auf den Hof bracht, des ist jetzt schon über 12 Jahr her. Auch wenn das mein Enkel ist, ghört der ned hierher, man muss sich vor den Nachbarn scho schämen. Aber was soll ich machen? Dem Sepp gehört der Hof und er entscheidet. Obwohl ich zugebn muss, dass der Karl ein guter Arbeiter is. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er nicht hier wär. Die Schand ist einfach zu groß. Überall wird man auf den Karl angsprochen. Schrecklich.“

„Halt endlich dein Maul, sonst jag ich dich endgültig vom Hof,“ sagte Sepp Zirbner nun, woraufhin die Alte nur laut lachte.

„Es steht im Erbvertrag, dass ich hier ein lebenslanges Wohnrecht hab, des hat der Vater so festglegt. Ich hab schon oft gsagt, dass du mich nie los wirst. Ich bleibe so lang hier, bis i stirb.“

„Entschuldigen Sie meine Mutter, sie ist ein böses Weib und in ihrem Alter wird sie sich auch nicht mehr ändern. Wie ist die Kathi gestorben?“ Die Stimme des riesigen Mannes war nun leise und er sah Leo traurig an.

„Sie lag am Pestfriedhof. Sie wurde betäubt und dann mit einer Überdosis Insulin getötet. Gibt es Insulin auf Ihrem Hof? Ist jemand von Ihnen zuckerkrank?“

„Nein, keiner. Und Medikamente haben wir auch nur sehr wenige, Sie können sich gerne unsern Medizinschrank im Bad ansehen.“

„Nicht nötig, ist schon gut,“ sagte Leo, der immer noch von dieser alten Frau und ihrer bösen Zunge geschockt war. Wie schlimm muss das Leben sein, wenn man Tag und Nacht mit einem solchen Drachen zusammenleben muss? „Sie besitzen Vieh?“

„Ja, wir haben Rinder, 120 Stück.“

„Donnerwetter,“ sagte Hans, der nachvollziehen konnte, was das für eine Arbeit für zwei Männer sein musste. „Werden die mit Medikamenten behandelt?“

„Nein, auf keinen Fall. Ich habe schon vor Jahren auf Biobetrieb umgestellt und da sind die Vorschriften sehr streng. Keine Medikamente! Sie können gerne unsere Unterlagen einsehen, den Tierarzt befragen oder Blutproben unserer Tiere entnehmen. Sie werden keine Medikamente nachweisen können, meine Tiere sind absolut sauber. Ich verabscheue diesen Mastwahn auf der ganzen Linie und weiß nicht, wo das noch hinführt. Gesunde Tiere werden mit künstlichem Futter und Medikamenten zugrunde gerichtet, es zählt nur noch das Schlachtgewicht, mehr nicht. Ob das Fleisch für die Verbraucher irgendwann negative Folgen haben wird, ist doch der Fleischindustrie vollkommen egal. Statt diesen Wahnsinn zu durchbrechen, werden immer neue Auflagen und Gesetze geschaffen, die kein Mensch braucht. Man muss doch nur seinen gesunden Menschenverstand einsetzen und die Tiere artgerecht halten und füttern. Dann haben wir qualitativ hochwertiges und gesundes Fleisch. Aber bei uns hat nicht der Verbraucher das Sagen, sondern die großen Industriekonzerne, die die Verbraucher so lange mit ihrer Werbung, angeblichen Qualitätsmerkmalen und Laboruntersuchungen zutexten, bis sie es schließlich glauben. Für mich gibt es nur die Biohaltung, die sehr teuer und aufwändig ist. Aber für mich gab und gibt es nur diese Möglichkeit, meinen Hof zu führen.“

„Für mi is des immer no a Schmarrn mit dem Biozeigs, aber mi fragt ja keiner. Früher hätts des net braucht. Aber der Sepp is der Chef, i halt mi da raus.“

„Halt endlich deinen Mund Mutter, der Kommissar fragt mich und nicht dich. Du verstehst sowieso nichts davon, obwohl ich es dir schon so oft erklärt habe. Wann wurde die Kathi getötet?“

„Am Freitagnachmittag. Haben Sie Ihre Frau nicht vermisst?“

„Natürlich habe ich sie vermisst. Sie ging ab und zu mit einer Freundin weg, außer ihr hatte sie keine sozialen Kontakte. Die Kathi musste ab und zu raus, sich amüsieren, unter Leute gehen und etwas anderes sehen und hören, das habe ich immer verstanden und auch unterstützt. Sie hätte es gerne gehabt, wenn ich sie begleitet hätte, aber das war mir zu anstrengend, ich war einfach zu müde dazu. Ich gönnte ihr die Auszeit und vertraute ihr, oft war sie ja nicht weg. Und natürlich nur, wenn meine Mutter im Bett war, sonst hätte die wieder geschrien und gezetert. Ich habe gehofft, dass meine Frau sich irgendwann einlebt und mich versteht, dass ich einfach nicht anders kann. Am Sterbebett habe ich meinem Vater versprechen müssen, dass ich mich um den Hof und um die Mutter kümmere. So ein Bauernhof ist nicht leicht zu führen. Morgens früh raus, den ganzen Tag schuften – da ist man am Abend müde und will nur noch seine Ruhe. Wenn ich ehrlich bin, habe ich davor Angst gehabt, dass sie irgendwann wieder geht, denn ich konnte sie verstehen. Das war kein Leben für sie. Sie war sehr belesen, liebte klassische Musik und war früher als Kind mit ihren Eltern weit gereist. Sie kannte Länder, von denen ich noch nie gehört habe und hat mir stundenlang mit leuchtenden Augen davon erzählt. Ich habe längst begriffen, dass die Kathi für ein anderes Leben geboren war, nicht für das Leben auf einem Bauernhof. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Das Leben, das sie verdient hätte, konnte ich ihr nicht bieten. Immer nur die schwere Arbeit und kein Vergnügen, die Kathi war ja erst 30 Jahre alt und für dieses Leben viel zu gescheit und viel zu jung.“

„Zu jung? Des Flitscherl wollt ned arbeiten, war ein faules Weib. Mi hat doch früher auch keiner gfragt, ob i arbeiten will. Und als i den Vater gheiratet hab, war ich erst 21 Jahr alt.“

„Sie halten jetzt den Mund,“ schrie Hans die Alte an, dem nun endgültig der Kragen platzte. „Ihr Geschwätz ist ja unerträglich. Haben Sie denn überhaupt keinen Anstand oder einen Funken Verständnis für den Schmerz Ihres Sohnes? Er hat gerade erfahren, dass seine Frau ermordet wurde und sie reden nur dummes Zeug! Wenn Sie jetzt noch einen unqualifizierten Kommentar von sich geben, werde ich Sie auf der Stelle verhaften. Haben Sie mich verstanden?“

„Schon gut, ist ja schon gut, ich sag ja nichts mehr. Die Wahrheit will man nicht hören, das kenne ich schon von meinem Sohn. Aber wenn Sie wollen, bin ich halt ruhig.“

„Wir haben die Information, dass Sie Ihre Frau über eine Partnervermittlung kennengelernt haben?“

„Ja, ich weiß, wie das klingt und was man in Kastl für Blödsinn erzählt. Es ist nicht so, dass ich mir meine Frau aus dem Katalog rausgesucht hätte und sie dann sofort geheiratet und mit auf den Hof gebracht habe. Ich habe meine Frau geliebt, von ganzem Herzen – und meine Frau mich auch, da bin ich mir sicher. Niemals hätten wir geheiratet, wenn wir uns nicht lieben würden.“

„Wie lief das ab? Wie müssen wir uns das vorstellen? Wie sind Sie auf diese Partnervermittlung gekommen?“

„Bei einem Zusammentreffen des Bauernverbandes kam ich mit einigen Kollegen ins Gespräch. Wir haben uns darüber unterhalten, wie schwer es ist, als Bauer eine vernünftige Frau zu finden. Natürlich gibt es viele heiratswillige Frauen auf den Nachbarhöfen, aber auch wir wollen nicht irgendeine Frau, sondern eine fürs Herz und auch fürs Auge. Sie glauben ja nicht, welche Krautscheuchen rumlaufen, schrecklich!“ Bei dem Gedanken schüttelte es Sepp Zirbner und Leo musste aufgrund der Bezeichnung schmunzeln. „Einer der Kollegen,“ fuhr Zirbner fort, „hat mich dann zur Seite gezogen und mir von dieser Partneragentur in Waldkraiburg erzählt. Zuerst fand ich die Idee total verrückt und dachte ähnlich wie Sie und alle anderen. Die Vorstellung, dass man sich eine Frau quasi aus dem Katalog aussucht ist doch vollkommen irre. Aber die Idee keimte in mir und irgendwann war ich so weit, dass ich mir die Adresse der Agentur von dem Kollegen besorgt habe. Ich hab dort angerufen und wurde sofort freundlich eingeladen. Am nächsten Tag bin ich nach der Arbeit nach Waldkraiburg gefahren. Es war schon spät, aber die freundliche Frau hat mir versichert, dass sie extra für mich länger da bleibt. Vor der Agentur habe ich lange gezögert, habe all meinen Mut zusammengenommen und bin schließlich rein. Nach einem ausführlichen Gespräch bekam ich eine Mappe mit den hübschesten Frauen, die man sich vorstellen kann. Und alle würden liebend gerne einen deutschen Mann heiraten. Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Jede einzelne dieser Schönheiten könnte ohne Probleme an jedem Finger zehn Männer haben. Aber die Angestellte hat mir versichert, dass das alles heiratswillige Frauen sind, die einen deutschen Mann suchen, da deutsche Männer in Russland einen sehr guten Ruf genießen. Sie gelten dort als ehrlich, liberal und fleißig – und als Garant für einen gesicherten Lebensstandard. Das klang für mich einleuchtend. Warum auch nicht?“ Sepp Zirbner machte eine kurze Pause und besah sich lächelnd seine Hände. „Ich habe mich sofort in das freundliche, hübsche Gesicht von Katharina verliebt. Nachdem ich sie gesehen habe, wurden die anderen für mich uninteressant, ich wollte nur die Katharina haben, sonst keine. Die Agentur hat dann alles in die Wege geleitet. Nach drei Wochen haben sie nochmal bei mir nachgefragt, ob ich immer noch an Katharina interessiert wäre. Und ob ich interessiert war. Ich habe Tag und Nacht nur noch an diese Frau gedacht. Katharina bekam zwischenzeitlich meine Unterlagen und war nach Aussage der Agentur-Mitarbeiterin zu einem Treffen und einem Kennenlernen bereit. Als die Mitarbeiterin der Agentur mir das mitteilte, war ich überglücklich. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich sie endlich leibhaftig vor mir hatte und sie kennenlernen durfte. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren und ich die Kosten für das Flugticket überwiesen hatte, konnte es endlich losgehen. Ich habe sie am Flughafen in München mit einem riesigen Blumenstrauß abgeholt. Ich weiß noch, dass ich nervös war wie ein Schulbub. Und dann stand sie vor mir und lächelte mich an. Sie war noch schöner als auf den Fotos. Für unser Treffen hat sie sogar einige Worte Deutsch gelernt, ich fand das richtig goldig. Wir mochten uns auf Anhieb und haben zwei Tage gemeinsam in München verbracht. Das war die schönste Zeit in meinem Leben.“

„Und der Karl und i haben die ganze Arbeit allein gmacht. Des erzählst ned, gell? Des is ned wichtig, dass dei alte Mutter zuhaus garbeitet hat, während sich der Herr Sohn mit dem Flitscherl in der Stadt vergnügt hat.“

Hans drohte ihr mit dem Finger und sie war sofort wieder ruhig.

„Wir haben dann einige Wochen fast täglich miteinander telefoniert. Anfangs nur holprig, aber Kathi hat fleißig Deutsch gelernt und so konnten wir uns immer mehr unterhalten. Dann konnte ich sie glücklicherweise dazu überreden, ihre Zelte in Russland abzubrechen und zu mir zu kommen. Als sie nach drei Monaten wieder in München gelandet ist, haben wir sofort geheiratet.“ Die warmen Worte des Witwers wurden durch seine Mutter abermals jäh unterbrochen.

„Sag den Polizisten, was das alles kost hat!“

„Das geht nur mich was an. Und wehe, du sprichst noch einmal über die Kosten. Ich bin alt genug und kann mit meinem Geld anfangen, was ich will. Und die Kathi war jeden Cent wert. Ich habe noch nie einen so lieben Menschen kennengelernt.“ Seine Mutter lachte laut los und schenkte sich ein weiteres Bier ein.

„Welchen Bezug hatte Ihre Frau zu Fasching?“

Die Großmutter holte wieder Luft und wollte erneut etwas sagen, aber Hans Hiebler zeigte ihr die Handschellen, woraufhin sie sofort verstummte.

„Ich weiß es nicht. Vermutlich keinen! Feiert man in Russland überhaupt Fasching? Ich weiß es nicht. Wir hatten so wenig Zeit miteinander, immer war die Arbeit auf dem Hof wichtiger. Für Karl und mich ist die Arbeit kaum zu bewältigen. Die Kathi hat uns zwar etwas entlastet, aber wir brauchen dringend männliche Unterstützung. Ich suche schon lange nach einer zusätzlichen Arbeitskraft, aber niemand möchte die schwere Arbeit machen. Fasching,“ wiederholte er und dachte nach. „Nein, mir fällt dazu nichts ein. Wie kommen Sie auf Fasching? Ist das wichtig?“ Sepp Zirbner sank in sich zusammen und war fix und fertig. Leo entschied, nicht weiter darauf einzugehen.

„Sie sprachen vorhin von einer Freundin Ihrer Frau. Kennen Sie sie?“

„Natürlich kenne ich sie, das ist die Milla, Name und Anschrift hängt dort an der Pinnwand. Sie war ein paar Mal hier, wobei sie sich regelmäßig mit meiner Mutter angelegt hat. Die Milla ist nicht auf den Mund gefallen und sagt, was sie denkt. Meine Mutter haben Sie ja kennengelernt.“

„Und Sie Karl? Wissen Sie etwas über die Kathi?“

Der 17-jährige Karl schüttelte heftig den Kopf. Er hatte bisher kein Wort gesagt, hörte aber interessiert zu.

„Ich hab doch gsagt, dass der Karl ned richtig ist im Kopf. Er versteht zwar a bisserl was, aber er spricht ned.“

„Wir müssen nach Ihrer aller Alibis fragen. Wo waren Sie am Freitagnachmittag zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr?“

„Ich war im Stall, eine der Kühe hat gekalbt und da gab es Komplikationen, der Karl war bei mir.“

„Zeugen?“

„Leider nein. Wir wollten den Tierarzt rufen, aber dann ist es doch ohne ihn gegangen.“

„Und Sie Frau Zirbner? Wo waren Sie in der fraglichen Zeit?“

„Wo soll i scho gwen sei? Hier natürlich! I bin immer hier, tagaus und tagein. Obwohl i meiner Lebtag immer garbeit hab, is mir auf die alten Tag keine Ruhe vergönnt. Die Russin hat sich immer einfach freignommen, da hat keiner was gsagt. Immer hab i ihre Arbeit übernehmen müssen. Na, i werd arbeiten müssen, bis i sterb.“

„Haben Sie ein Alibi? Hat Sie irgendjemand gesehen? Haben Sie telefoniert?“ Frau Zirbner schüttelte nur den Kopf.

„Kam es wirklich öfter vor, dass Ihre Frau einige Tage einfach nicht nach Hause gekommen ist? Ich finde das ungewöhnlich.“

„Sie sehen doch selbst, in welchem Umfeld meine Frau leben musste. Sie hat ab und zu eine Auszeit gebraucht, das kann ich verstehen. Wenn es später geworden ist, hat sie schon mal bei ihrer Freundin geschlafen, auch mal zwei Tage bei ihr verbracht. Ich habe ihr das gegönnt, warum auch nicht?“

„Auszeit, wenn i des scho hör! So ein Blödsinn! Was braucht denn die Russin a Auszeit! Des hats früher ned gebn. Mei Bua is einfach viel zu weich, des hat der von seinem Vater geerbt,“ rief Frau Zirbner, stand auf und holte sich den Schnaps und ein Glas aus der Küche.

„Ich verstehe. Deshalb haben Sie sich auch keine Sorgen gemacht, als sie nicht nach Hause kam. Dürfen wir uns bei Ihnen umsehen?“

„Natürlich,“ murmelte Sepp Zirbner und weinte nun, was die Alte mit einem Lachen kommentierte. Sie aß und trank seelenruhig weiter, sie schien sogar etwas erheitert wegen der neuen Lage auf dem Hof ohne die ungeliebte Schwiegertochter.

„Schaun‘s sich nur um, es is alles sauber. I putz jeden Tag und koch auch immer noch, und ich koch guat, hob i von meiner Mutter glernt. Den russischen Fraß von der Kathi konnt man nicht essen. Pfui Teifel!.“

„Ich halt dich nicht mehr aus! Manchmal könnt ich dich erschlagen!“, rief Sepp Zirbner. Aber seine Mutter blieb ganz gelassen, während er aufstand und aus dem Kühlschrank ein Schnapsglas holte. Er schenkte sich eine großzügige Menge ein und trank in einem Zug. Leo und Hans konnten ihn verstehen, Frau Zirbner war ein Typ Mensch, bei dem man schon mal ausrasten konnte.

Die Beamten sahen sich in dem angrenzenden Wohnzimmer um, das spärlich mit alten Möbeln eingerichtet war. Nur wenig deutete darauf hin, dass hier ein junges Paar wohnte. An den Wänden hingen Fotos von längst Verstorbenen und über der Couch hing ein Ölbild mit einem röhrenden Hirsch. Die schweren Gardinen, die nicht zusammenpassten, dunkelten den Raum ab und die vielen verschiedenen Kissen auf der Couch hatten diesen Knick in der Mitte, wie es Leos Großmutter auch immer machte. Er fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Sie sahen in Schubläden und Schrankfächer. Sie fanden nichts. Keine Spur der jungen Frau, sondern nur von Sepp Zirbner und seiner Mutter. Eins war klar: Hier herrschte das Regime der Alten, die bestimmt nicht duldete, dass die russische Schwiegertochter sich hier breitmachte. Im Schlafzimmer des ersten Stockes sah man endlich, dass hier eine junge Frau wohnte, denn einige Sachen waren neu und modern. Im Kleiderschrank fanden sie Katharinas Garderobe; alles sehr hübsche und hochwertige Stücke, die sie den Etiketten nach zufolge aus Russland mitgebracht hatte. Das Badezimmer war uralt, aber auch hier konnte man in einer Ecke Spuren einer Frau finden. Make-up in allen Formen und Farben, Parfumflaschen hübsch aufgereiht, und zwischen all dem anderen Zeug hing ein moderner, gelber Bademantel. Auf der Waschmaschine stand ein Waschbeutel, der ganz bestimmt der alten Zirbnerin gehörte, denn die dort enthaltenen Utensilien waren einfach, billig und uralt. Im vergilbten Medizinschrank an der Wand fanden sie die üblichen Medikamente und Verbandsmaterial, das meiste davon längst abgelaufen. Keine Spur von Insulin, Betäubungsmitteln oder irgendetwas in der Art. Hans hatte zwei Türen weiter das Schlafzimmer der alten Frau Zirbner gefunden und sah Leo fragend an.

„Wenn wir nun schon mal hier sind…“

Sie durchsuchten das muffige, uralte und unpersönliche Schlafzimmer. Neben Fotoalben, Pässen von ihr und ihrem verstorbenen Mann, Glückwunschkarten aus vergangenen Tagen und einer Mappe Briefpapier fanden sie nichts Auffälliges. Keine Bücher, Briefe oder Notizen. Auf dem Kosmetiktisch, der nur als Ablage benutzt wurde, stand eine Handtasche. Ohne lange zu überlegen, griff Hans in die Tasche.

„Finger weg!“, rief Frau Zirbner, die in der Tür stand und vollkommen aufgebracht war. „Wagen Sie es nicht, in meinen Sachen zu wühlen, das ist privat!“ Sie riss Hans die Handtasche aus der Hand und verwies beide des Zimmers, schloss ihr Schlafzimmer demonstrativ ab und ging mit ihrer Handtasche wieder in die Wohnküche.

„Was kommt die auch gerade dann, wenn‘s interessant wird? - Was jetzt?“

„Keine Ahnung. Die Papierkörbe sind sauber. Auch in den Schubladen und Schränken keine persönlichen Notizen und keine Spur von irgendwelchen Medikamenten oder Medikamentenverpackungen, oder sonst irgendetwas Verdächtiges.“ Leo war enttäuscht. Er hatte sich mehr davon versprochen. Auch wenn die alte Zirbnerin echt ätzend ist – putzen kann sie, das muss man ihr lassen. „Wir sollten diesen Karl befragen. Vielleicht hat sie ihm etwas anvertraut.“

„Und wie willst du das anstellen? Du hast doch gehört, dass der nicht redet.“

„Das glaube ich ihm nicht. Er ist nicht so dumm, wie man uns weismachen will. Lenk du den Sepp Zirbner und vor allem diesen Drachen ab, vielleicht kann ich dann mit Karl in aller Ruhe sprechen.“ Leo war zuversichtlich, denn er war sich fast sicher, dass der junge Mann mehr verstand, als er vorgab. Vielleicht war er wirklich nicht der Hellste, aber Leo konnte beobachten, dass der Mann an den entscheidenden Stellen durchaus heftig reagierte – er verstand einiges.

Leo fand Karl zum Glück allein im Stall beim Füttern der Tiere, während Hans Onkel und Großmutter im Haus weiter befragte, was eine Tortur für ihn war, denn das lief ähnlich ab wie vorhin: Sepp Zirbner war verzweifelt und die Großmutter zeterte und hetzte, was immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen den beiden führte. Dabei hielt Frau Zirbner ihre alte, verschlissene Handtasche demonstrativ auf ihrem Schoss fest und gab sie nicht mehr aus der Hand. Was hatte die Alte zu verbergen? Am liebsten würde Hans einen Blick hineinwerfen, aber dazu war er nicht befugt – schade!

Karl erschrak, als Leo in den Stall trat. Leo nickte ihm nur kurz zu und ohne ein Wort zu sagen, griff er zur Mistgabel und half wie selbstverständlich mit. Leo sah Karl die ganze Zeit nicht an. Die Arbeit war sehr schwer und Leo ließ sich die Anstrengung nicht anmerken, und bei jedem Handgriff wusste er, dass er spätestens morgen mit einem satten Muskelkater für seinen Übereifer büßen musste. Aber das war ihm jetzt egal, er musste Karls Vertrauen gewinnen. Nach etwa 20 Minuten waren sie mit der Arbeit fertig. Leo setzte sich auf einen Ballen Stroh und Karl setzte sich ihm gegenüber. Wortlos reichte ihm Karl eine Flasche Wasser und lächelte ihn sogar an; das Eis war geschmolzen.

„Prost Karl, ich bin der Leo. Eigentlich hätten wir uns nach der Arbeit ein Bier verdient.“

Karl nickte, ging zur Stalltür, spähte hinaus und schloss die Tür wieder. Dann ging er zu den aufgetürmten Strohballen und zog dahinter zwei Flaschen Bier hervor, die er mit den Zähnen gekonnt öffnete. Leo war baff, dieser Karl verstand wirklich jedes Wort.

„Du bist ein Engel, das ist genau das, was ich jetzt brauche.“ Wieder prosteten sie sich zu und nahmen beide einen kräftigen Schluck.

„Bist du traurig darüber, dass die Kathi tot ist?“

Karl nickte heftig, während er ständig auf den Boden blickte. Obwohl Karl seinen Blicken auswich, konnte er sehen, dass sich seine Augen mit Tränen füllten.

„Hat die Kathi jemals von jemandem gesprochen, der böse zu ihr war?“

Karl schüttelte den Kopf.

„Weißt du, was Kathi mit Fasching zu tun hatte?“

Karl zuckte mit den Schultern und sah immer noch auf den Boden.

„Ich gebe dir hier meine Karte. Wenn dir etwas einfällt, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich bin mir sicher, dass du sprechen kannst. Aber wenn du nicht willst, ist das für mich in Ordnung. Du kannst mich auch jederzeit in meinem Büro in Mühldorf besuchen. Kennst du die Polizei in Mühldorf?“

Wieder nickte Karl, diesmal kaum merklich.

„Hast du Geld?“

Jetzt schüttelte er beinahe verschämt den Kopf. Leo war sauer. Bekam Karl keinen Lohn für seine Arbeit? Er nahm seinen Geldbeutel und drückte ihm einen 50 €-Schein in die Hand. Karl sah ihn jetzt verstört an und schüttelte den Kopf, er wollte das Geld nicht annehmen, er fühlte sich nicht wohl dabei.

„Das ist für ein Taxi nach Mühldorf, nur für den Fall, dass du mich besuchen kommst. Nimm das Geld und steck es weg, damit es deine Großmutter nicht findet.“

Leo zwinkerte ihm zu, trank sein Bier aus.

„Ich muss wieder gehen Karl. Danke für das Bier. Und es ist in Ordnung, wenn du weinen musst, auch ich weine, wenn ich traurig bin.“

Leo hatte die Stalltür noch nicht ganz geschlossen, als er hörte, wie Karl hemmungslos weinte.

Hans war sehr erleichtert, als Leo in die Küche kam, denn die Streitigkeiten zwischen Sohn und Mutter arteten langsam aus und waren unerträglich. Nach anfänglicher Zurückhaltung warf nun auch Sepp Zirbner mit allen möglichen Schimpfwörtern um sich, von denen selbst Hans als Einheimischer viele nicht kannte und viel zu anständig dafür war, sie in den Mund zu nehmen. Auch die Lautstärke zwischen den beiden stieg und stieg; schließlich schrien sich die beiden nur noch an. Hans stand abseits und wäre am liebsten gegangen, aber er musste hierbleiben, um sicherzugehen, dass sich Leo ungestört mit dem Jungen unterhalten konnte. Die beiden sahen dem Streit einige Minuten zu und konnten nicht fassen, wie Mutter und Sohn miteinander umgingen. Sie waren so sehr mit sich und ihrem Streit beschäftigt, dass sie alles um sich herum vergaßen. War der Umgang zwischen den beiden normal? Wie musste sich Katharina Zirbner dabei gefühlt haben? Und Karl? Wie ging es dem Jungen damit, der quasi damit aufgewachsen war? Sprach er deshalb kein einziges Wort? Das wäre zumindest eine Erklärung.

„Ruhe!“, musste Leo mehrmals brüllen, bis die Zirbners ihn überhaupt wahrnahmen. „Schämen Sie sich eigentlich nicht? Sie sind beide erwachsen und führen sich hier auf wie Verrückte! Jetzt beruhigen Sie sich gefälligst! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Beide waren endlich still. Leo starrte die beiden böse an und schüttelte den Kopf. „Na also, geht doch! Was bekommt Karl für seine Arbeit? Sie bezahlen ihn doch ordentlich?“

Statt einer Antwort stand Sepp Zirbner auf und deutete Leo an, ihm zu folgen. Die alte Zirbnerin merkte, dass ihr Sohn nicht vor ihr sprechen wollte, und wollte hinterher, aber Hans hielt sie zurück. Er hatte genug von dem ganzen Theater und um nichts in der Welt würde er die Alte an sich vorbei lassen. Er würde auch nicht davor zurückschrecken, sie mit Handschellen am Ofen zu fixieren. Offenbar spürte Frau Zirbner seine Entschlossenheit und setzte sich zähneknirschend, wobei sie vor sich hin schimpfte, diesmal aber in erträglicher Lautstärke; etwas anderes hätte Hans auch nicht ungestraft durchgehen lassen. Was trieb ihr Sohn hinter ihrem Rücken? Der Polizist sprach von einem Lohn, der Karl bezahlt werden soll! Bekam der blöde Karl für seine Arbeit tatsächlich Geld, von dem sie nichts wusste? Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Liebend gerne wäre sie aufgesprungen und ihrem Sohn und dem Langen hinterher, aber dieser parfümierte Schnösel stand direkt vor ihr und ließ sie nicht vorbei. Frau Zirbner war sauer. Sie hatte keine Wahl und musste hier verharren. Dann musste sie eben aus dem blöden Karl irgendwie herausbekommen, was da hinter ihrem Rücken mit dem Geld ablief!

Leo und Sepp Zirbner gingen in den ersten Stock ins Schlafzimmer. Im Schrank hinter den Pullovern seiner Frau zog er ein Sparbuch hervor.

„Karl bekommt von mir kein Geld, weil es ihm meine Mutter sowieso gleich wieder abnimmt. Anfangs habe ich natürlich ganz offiziell ein Gehalt bezahlt und es hat lange gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, dass meine Mutter es sofort kassiert. Seitdem zahle ich jeden Monat einen Betrag auf ein Sparbuch ein, damit der Junge Geld hat, wenn er es braucht. Sie können das gerne überprüfen. Hier ist das Sparbuch.“

Leo schlug das Sparbuch auf und tatsächlich zahlte Sepp Zirbner jeden Monat 1.000 € auf das Sparbuch ein. Er pfiff durch die Zähne, als er die Gesamtsumme las.

„Bitte behalten Sie das mit dem Sparbuch für sich. Meine Mutter flippt aus, wenn sie davon erfährt. Der Karl weiß natürlich davon, das ist unser Geheimnis. Und wenn Sie das jetzt öffentlich machen, bekommen auch das Finanzamt und die Berufsgenossenschaft Wind davon - und dann geht der Ärger erst richtig los.“

„Von mir erfährt niemand was, das geht mich nichts an. Ich finde es anständig, dass Sie den Jungen bezahlen.“

„Natürlich, ich bin doch kein Unmensch. Der Karl ist fleißig und ordentlich, er jammert nie und ich kann immer auf ihn zählen. Und dafür hat er auch einen Lohn verdient.“

Endlich konnten die Beamten wieder von hier weg. So schnell wie möglich lenkte Hans den Wagen vom Hof. Ihr nächstes Ziel war die Freundin Ludmilla, die in Neuötting wohnte.

Das dritte Kostüm

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